Sein Debüt "Verbrechen" und dessen Nachfolger wurden zu literarischen Bestsellern. Seine Stories sind für das Fernsehen verfilmt und wurden Kinostoff. Nun hat Strafverteidiger und Autor Ferdinand von Schirach mit "Tabu" seinen zweiten Roman geschrieben. Mit LTO sprach er über die Verzweifelung beim Schreiben, Tabus in unserer Gesellschaft und warum es Juristen unter den Literaten schwieriger haben.
LTO: Herr von Schirach, drei Kurzgeschichtenbände, zwei Romane und eine Fernsehserie, das alles in nur drei Jahren. Wie kann man da noch als Anwalt arbeiten?
von Schirach: Zuletzt ging es nicht mehr. An "Tabu" habe ich 19 Monate geschrieben, jeden Tag sechs Stunden. In dieser Zeit war ich nicht mehr in der Kanzlei. Bei den Kurzgeschichten war es einfacher, sie konnte ich nachts oder in den Ferien schreiben. Auch bei "Der Fall Collini" gab es längere Unterbrechungen durch die Arbeit in den Archiven.
LTO: Schreibt sich ein zweiter Roman leichter als das Debüt?
von Schirach: Leider nicht. Das Schreiben daran war anstrengender als alles, was ich bisher getan habe. Oft war es quälend, manchmal zum Verzweifeln, aber es war auch großartig. Man ist mit seiner Geschichte allein, mit seinen Figuren, mit der Stimmung im Buch. Und nach einiger Zeit geschieht etwas Wunderbares: Man beginnt in der Geschichte zu leben.
LTO: Die Hauptfigur Sebastian von Eschburg wird vom Selbstmord in der Familie, Inzest unter Geschwistern, bis zu einem Geständnis unter Androhung von Folter immer wieder mit Situationen konfrontiert, vor denen sich eine Gesellschaft mit dem Wort "Tabu" zu schützen versucht. Aber was ist ein Tabu?
von Schirach: Ein Tabu ist eine unumstößliche, bedingungslose Regel einer Gesellschaft. Es gehört zu den Grundübereinkünften des Zusammenlebens.
"Wahrheit bei den Strafgerichten ist nicht die Wirklichkeit"
LTO: Die Kapitel ihres neuen Romans tragen die Titel "Grün", "Rot", "Blau", und das letzte heißt "Weiß". Was hat es damit auf sich?
von Schirach: Weiß ist die Farbe, die entsteht, wenn sich das Licht der Farben Grün, Rot und Blau mischt. Am Ende gibt es für Eschburg Hoffnung – keinen Neuanfang, aber Hoffnung. Die Unschuld Eschburgs ist aber nicht rein, sie ist aus dem Leben gewachsen. Eschburg ist Romantiker, er musste die Welt zu seinem Kunstwerk machen. Als ihm das gelungen ist, bleibt ihm nichts, als ein Neuanfang. Das verkörpert die Farbe Weiß.
LTO: Der Protagonist Eschburg wird in "Tabu" nach einer einsamen Kindheit in untergehenden Adelsverhältnissen schließlich als Fotograf und Videokünstler berühmt. Sein Durchbruch gelingt ihm mit Arbeiten die Wirklichkeit und Wahrheit verschwimmen lassen. Inwiefern ist das auch eine Spannung, mit der Anwälte arbeiten müssen?
von Schirach: Ich glaube nicht, dass Anwälte so arbeiten. Aber die Wahrheit bei den Strafgerichten ist eine strafprozessuale Wahrheit, sie ist nicht die Wirklichkeit – insofern haben Sie recht.
LTO: Der sachliche, beinahe berichtende Stil ihrer Stories hat Ihnen viel Bewunderung eingebracht, aber steht dieser Ton einem Roman, der eine größere Geschichte erzählen will und Figuren in Beziehungen zueinander setzt, nicht manchmal im Weg?
von Schirach: Das müssen die Leser beurteilen, nicht der Schriftsteller. Es ist vielleicht eine etwas andere Art zu schreiben als die übliche. Meistens wird ja recht blumig das Innenleben eines Menschen beschrieben und dann erst handelt der Protagonist. Ich gehe den umgekehrten Weg: Bei mir handeln die Personen und der Leser kann so auf ihr Inneres schließen. Vielleicht kommt das daher, dass ich in Bildern denke. Die Texte sind deshalb oft filmischer als bei anderen Autoren.
Markus Sehl, Ferdinand von Schirachs neuer Roman: . In: Legal Tribune Online, 12.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9787 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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