Der offene Terror der NS-Militärjustiz hat seinen festen Platz in der Erinnerungskultur. Weniger bekannt ist das Recht der Reichswehr. Eine neue Dissertation zeigt, was man über das Wehrrecht der ersten deutschen Republik wissen sollte.
Nicht jeder rechtshistorische Gegenstand macht neugierig. Wenn es etwa um Fragen der antiken Gerichtsstandsvereinbarung nach lusitanischem oder minoischem Recht geht oder um bergrechtliche Regelungen in Deutsch-Südwestafrika, fühlen wohl sich nur wenige praktisch arbeitende Juristinnen und Juristen davon magisch angezogen wie Briefmarkenfreunde von abgeschlossenen Sammelgebieten.
Mit seiner 2016 in Bayreuth vorgelegten, inzwischen im Buchhandel greifbaren Dissertation "Rechtsgeschichte der Reichswehr 1918–1933" hat sich der in Freiburg praktizierende Rechtsanwalt Patrick Oliver Heinemann jedoch einen Abschnitt der Zeitgeschichte vorgenommen, der es nicht verdient, im rechtshistorischen Herrgottswinkel einer Fachbibliothek einzustauben.
Verrat der SPD und NS-Militärjustiz binden sehr viel Aufmerksamkeit
Es dürfte vor allem dem Publizisten und studierten Juristen Sebastian Haffner (1907–1999) zu verdanken sein, dass hierzulande überhaupt irgendeine Vorstellung vom Verhältnis der ersten deutschen Republik zu den Streitkräften ihrer Zeit lebendig geblieben ist. In seiner vielfach neu aufgelegten Schrift "Die verratene Revolution 1918/19" klagte Haffner die deutsche Sozialdemokratie unter Friedrich Ebert (1871–1925) an, sich mit dem reaktionären, gegen ihre eigene Anhängerschaft staatterroristisch vorgehenden Militär des Kaiserreichs gemein gemacht und damit die Überlebenschancen der Republik entscheidend gemindert zu haben. Noch heute dient diese Verratsgeschichte bekanntlich der radikalen Linken zum Schutz und Trutze ihrer Identität.
Während Haffners erstmals 1969 publizierte Schrift das Militär der Weimarer Republik in seiner verfassungsfeindlichen Rolle in Erinnerung brachte, band der seit den 1980er Jahren einsetzende Streit um die NS-Militärjustiz weitere Aufmerksamkeit – prominent geweckt etwa vom angesehenen Militärjuristen Erich Schwinge (1903–1994) und dem spät gewürdigten Deserteur Ludwig Baumann (1921–2018).
Mit seiner "Rechtsgeschichte der Reichswehr" erschließt Heinemann nun aber ein Kapitel der Rechtsgeschichte, das es vor diesem Hintergrund schwer hat, ins öffentliche Bewusstsein zu geraten: die Wehrverfassung und das Recht des Militärs in der Weimarer Republik. Dass Aktenbestände aus der Zeit der ersten deutschen Republik während des Zweiten Weltkriegs vernichtet wurden, erschwert ein lebendiges Erinnern noch zusätzlich.
Wehrverfassung als schwelender Verfassungskonflikt
Heinemann nimmt sich einerseits der verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Weichenstellungen an, die in der neuen Republik anstanden, nachdem das Kaiserreich unter der Obersten Heeresleitung zuletzt faktisch in eine Militärdiktatur übergegangen war.
Einflussreich waren hier – grob gesprochen – auf einer ebenso weltanschaulichen wie handgreiflichen Ebene die Idee und Praxis einer von der allgemeinen Rechts- und Staatsordnung gesonderten militärischen Legitimität, die es den Offizieren erlaubte, die neue, republikanische Verfassungsordnung jedenfalls in Zweifel zu ziehen, wenn nicht direkt anzufeinden – wobei das Spektrum vom Widerwillen reichte, die Farben Schwarz-Rot-Gold zu führen, bis hin zum offenen Staatsstreich unter Leitung des promovierten Juristen Wolfgang Kapp (1858–1922) und Infanterie-Generals Walther von Lüttwitz (1859–1942).
Der Umgang der Justiz mit diesen und anderen offen republikfeindlichen Tätern, vor allem aber das bestürzend milde Vorgehen der allgemeinen wie der militärischen Justiz gegen Offiziere und Soldaten, die im Kampf gegen die vermeintliche oder tatsächliche "bolschewistische Gefahr" jede Verhältnismäßigkeit verloren hatten, bietet auch für Heinemann reiches Anschauungsmaterial – er misst es aber an den Standards dessen, was kriegsrechtlich zulässig gewesen wäre.
Das gibt seinem Urteil womöglich mehr Schärfe als der meist moralischen Bewertung dieser Vorgänge: Indem er selbst offen staatsterroristisch agierende Militärs deckte, beging namentlich der erste Reichswehrminister Gustav Noske (1868–1946, SPD) nicht nur einen ideellen "Verrat" (Haffner) an seinen niedergemetzelten Genossinnen und Genossen, er vertat auch Chancen, das entgrenzte Militär den bürgerlichen Gesetzen der neuen Republik zu unterwerfen.
Der im Militär gepflegte Glaube, wenn nicht höher, so doch anders legitimiert zu sein als der republikanische Staat, trug auch dazu bei, dass die Reichswehr schon im zeitgenössischen Urteil als "Staat im Staate" wahrgenommen wurde. Hinzu kamen die von der militärischen wie politischen Führung der Republik unternommenen Versuche, die Regelungen des Versailler Vertrags zu unterlaufen.
Die Justiz verfolgte nun Publizisten, die beispielsweise von Todesfällen bei den Übungen der völkerrechtswidrigen "Schwarzen Reichswehr" berichteten. Berühmt wurde der "Weltbühne-Prozess", in dem Carl von Ossietzky 1931 wegen "publizistischen Landesverrats" verurteilt wurde, weil sein Blatt Andeutungen zur verbotenen Luftwaffen-Rüstung gemacht hatte – die Weimarer Republik hatte einen "deep state", der diesen Namen verdiente.
Von nachhaltigerem Interesse für die Gegenwart war aber vielleicht die Regelung des Versailler Vertrags, wonach die Stärke der deutschen Streitkräfte auf 100.000 Mann begrenzt wurde. Bekanntlich trug die Abschaffung der Wehrpflicht dazu bei, dass neue, womöglich republiktreue Männer gar nicht erst unter Waffen genommen wurden. Heinemann erinnert auch an eine eher juristisch putzige Konsequenz: Unter Juristen löste die Berufsarmee einen Meinungsstreit um die rechtsdogmatische Einordnung des Soldaten aus – in Betracht gezogen wurde der Idealtypus des "Söldners" wie jener des "Beamten". Dieser hohe juristische Ernst kontrastiert doch seltsam mit der Nonchalance, in der im Jahr 2010 unter Karl-Theodor von und zu Guttenberg (1971–) die Abschaffung der Wehrpflicht betrieben wurde.
Wie die Weimarer Republik Probleme bearbeitete
Die historische Auseinandersetzung Heinemanns mit dem "Recht der Reichswehr" zeichnet sich jedoch vor allem dadurch aus, dass er auch die – nur auf den ersten Blick – weniger spektakulären Rechtsmaterien erschließt.
So behandelt Heinemann nicht nur klassische Spannungsfelder, mit der jeder liberale Verfassungsstaat zu tun bekommt, der die Zwangsapparatur einer militärischen Organisation betreibt. Erwartbare rechtspolitische Kontroversen entwickelten sich auch in der Weimarer Republik beispielsweise zur zentralen Frage nach den dienstlichen Pflichten des Soldaten, dem korrespondierenden Problem der Gehorsamsverweigerung, ihrer militärstrafrechtlichen Konfektionierung einschließlich der gerichtsverfassungsrechtlichen Zuständigkeit von Militär- bzw. Justizautoritäten.
Zu den weniger prominenten Regelungsproblemen, die Heinemann vorstellt, zählt unter anderem die Frage der Eheschließungsfreiheit. § 1315 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) lautete bis zum 31. Juli 1938: "Militärpersonen und solche Landesbeamte, für die nach den Landesgesetzen zur Eingehung einer Ehe eine besondere Erlaubniß erforderlich ist, dürfen nicht ohne die vorgeschriebene Erlaubniß eine Ehe eingehen."
Ein Verstoß machte die Ehe zwar nicht anfechtbar oder nichtig, das Militärstrafgesetzbuch bedrohte den Soldaten jedoch mit Freiheits-, den Standesbeamten mit Geldstrafe. Obgleich Artikel 119 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) die Ehe unter den "besonderen Schutz" des Staates stellte, bestand weitgehendes Einvernehmen darüber, dass auch der Soldat der Reichswehr nicht frei darin sein sollte, die Ehe einzugehen. Die Motive waren u.a. wirtschaftlicher Natur, denn in den Kasernen standen keine hinreichenden Räume für Eheleute zur Verfügung. Zudem lebte das konservative Ideal fort, dass dem Soldaten nur eine schuldenfreie und sittlich reine Frau zustehe, was vom Vorgesetzen zu prüfen sei.
Die von Friedrich Ebert erlassene "Verordnung des Reichspräsidenten über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht" vom 5. Januar 1922 machte die Heirat von Offizieren denn auch von der Erlaubnis des Reichswehrministers, die der Mannschaften und Unteroffiziere von der ihres Disziplinarvorgesetzten abhängig. Vor Vollendung des 27. Lebensjahrs war sie regelmäßig nicht zu erteilen. Dies lag zwar auf einer Linie mit dem durchschnittlichen Erstheiratsalter deutscher Männer, nötigte dem Soldaten aber zwingend ab, seine sexuellen Beziehungen bis zum genehmigungsfähigen Alter unverbindlich, etwa in Bordellen zu regeln. Sogar die Affinität bekannter Offiziere für die schwülstige Lyrik Stefan Georges (1868–1933) mag in der Verordnung Eberts ihre Wurzeln haben.
Militärische Gewalt, verfassungsrechtliche Fragen und juristische Formen
In solchen positivrechtlichen historischen Details bietet Heinemann Erkenntnisse, die ohne Weiteres z.B. von der sozialgeschichtlichen Forschung aufgegriffen werden können, die sich mit dem Verhältnis von Geschlechter- und Ehrenkonzepten und der Organisation militärischer Gewalt befasst.
Über derartige historische Zugänge hinaus bietet das Werk gerade auch für den politisch interessierten Juristen viele Beispiele, wie ein demokratisch verfasster Rechtsstaat mit den heiklen Aufgaben umging, die das Militär ihm stellte. Dass es sich um ein "abgeschlossenes Sammelgebiet" handelt, macht die Sache übersichtlich.
Und weil wir heute wieder in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat leben, schärft die "Rechtsgeschichte der Reichswehr" unseren Blick auf aktuelle Probleme – man denke nur an voreilige "deep state"-Thesen – vielleicht sogar besser als etwa die Auseinandersetzung mit dem außerordentlichen Terror der NS-Justiz.
Werk: Patrick Oliver Heinemann: "Rechtsgeschichte der Reichswehr 1918–1933". Paderborn (Schöningh) 2018, 424 Seiten für stolze 89 Euro. Eine Taschenbuch-Ausgabe wäre sehr erfreulich.
Dissertation: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35085 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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