In greifbare Nähe schien nach dem militärischen Sieg über Frankreich im Sommer 1940 der Traum von einem Kolonialreich in Afrika zu rücken. Die Pläne für ein Kolonialrecht lagen bereit, verkündet zu werden. Sie hatten das Zeug, den afrikanischen Untertanen des "Dritten Reichs" das Leben zur Hölle zu machen. Ein Ausflug in ein weithin unbekanntes Stück Rechtsgeschichte von Martin Rath.
Ein Richter des NS-Staats, der sich im April 1945 das Leben nahm, als es für seine Art der Justiz keine Zukunft mehr gab, hatte nur fünf Jahre zuvor hochfliegende Pläne des Reichsjustizministeriums für ein deutsches Kolonialreich in Afrika veröffentlicht. Sein Aufsatz aus dem Jahr 1940 legte die Spur für eine kleine rechtshistorische Recherche.
Im Juni 2011 erinnerte man sich in Lübeck an einen Prozess, den der Zweite Senat des Volksgerichtshofs – der hierzu eigens aus Berlin angereist war – im Juni 1943 in der Hansestadt abgehalten hatte. Vier Geistliche wurden zum Tod verurteilt und im November des vierten Kriegsjahres in Hamburg hingerichtet. Den Vorsitz im Verfahren gegen die Lübecker Oppositionellen führte ein Dr. jur. Wilhelm Crohne, der weithin unbekannte Stellvertreter des bis heute berüchtigten Dr. jur. Roland Freisler, Präsident dieses nationalsozialistischen Sondergerichts. Jene drei katholischen Geistlichen aus Lübeck, die seinem Urteil zum Opfer fielen, wurden im vergangenen Juni von ihrer Kirche seliggesprochen. Aus diesem Anlass war an die Karrierestationen ihres Richters zu erinnern: Crohne hatte, bevor er 1942 zusammen mit Freisler an den Volksgerichtshof wechselte, als Ministerialdirektor im Reichsjustizministerium beispielsweise am berüchtigten "Prügelerlass" mitgewirkt, der 1937 die Folterpraxis der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in juristische Formen brachte. Den Kampf der Polizei- und Justizbehörden gegen die vielleicht 30.000 Zeugen Jehovas in Deutschland – im Jargon der Zeit als "Ernste Bibelforscher" bekannt – befeuerte der NS-Karrierejurist mit der wahnhaften Vorstellung, bei den glaubensfesten christlichen Fundamentalisten handele es sich um eine kommunistische Tarnorganisation von "1 bis 2 Millionen" Angehörigen.
"Grundsätze für die Strafrechtspflege in den Kolonien"
Auf den ersten Blick scheint es nur ein weiteres Stück wahnhafter NS-Juristenphantasie zu sein, das Wilhelm Crohne 1940 in der offiziösen Zeitschrift "Deutscher Kolonialdienst" (Seiten 181-188) drucken ließ – seine "Grundsätze für die Strafrechtspflege in den Kolonien". Ursprünglich waren sie zum Vortrag beim "12. Internationalen Kongreß für Strafrechts- und Gefängniswesen" bestimmt, der 1940 in Rom stattfinden sollte.
Mit dem Friedensvertrag von Versailles hatte das Deutsche Reich 1919 seine Kolonien in Afrika, China und im Pazifik verloren. In den einführenden Worten beschwört der Ministerialdirektor aus dem Reichsjustizministerium darum zunächst die Gefahren der "Rassenmischung", die unter dem Einfluss der Kirchen in den Kolonien der konkurrierenden europäischen Imperialmächte stattgefunden habe.
In seinen Vorstellungen "für die zukünftige deutsche Eingeborenenpolitik" orientiert sich Crohne gleichwohl an dem, was er als Konsens für europäische Herrschaft – insbesondere über Afrikaner – ausmacht.
Als allgemeiner Stand der Dinge wird zunächst die grundsätzliche Trennung der Rechtssysteme der "Weißen" und der "Eingeborenen" festgehalten: für die "Herrenvölker" gilt das aus Europa mitgebrachte Recht, sowohl in zivil- wie in strafrechtlichen Fragen. Fast selbstverständlich ließ man dem Gewohnheitsrecht der "Eingeborenen" breiten Raum, wo sich europäische Herrschaft nicht demonstrieren ließ, vor allem bei zivilrechtlichen Streitigkeiten. Unauffällige Delikte im Grenzbereich von Zivil- und Strafrecht mochten die Kolonialstaaten ebenfalls dem "eingeborenen" Gewohnheitsrecht überlassen. Um europäische Strafgewalt in den Kolonien zu rechtfertigen, zitiert Crohne die skandalösen Praktiken der "eingeborenen" Strafrechtspflege: "z.B. Tötung von Witwen und Zwillingen, Gottesgericht bei Todesfällen, ungehinderte Abtreibung, Raubüberfälle auf Nachbarstämme". Diese seien auch von der künftigen deutschen Kolonialverwaltung keinesfalls zu dulden, während bei anderen Delikten "in der Strafrechtspflege das Stammesrecht [gilt], mit dem Ziele, es vorsichtig und allmählich dem Recht des Kolonialstaats anzupassen".
"Weiße" und "Farbige" in der großdeutschen Kolonialstrafrechtspflege
Für etwaige "weiße" Straftäter in den künftigen Kolonien findet Crohne nur dürftige Worte. Für sie kommt, jedenfalls bei erheblicheren Strafen, allein ein Vollzug im Heimatland in Frage "vor allem aus dem Grunde, weil weiße Verbrecher aus ihrer Tat und Bestrafung heraus das Ansehen der weißen Rasse belasten, nach ihrer Entlassung meist eine stete Gefahr für die gesunde, ruhige Entwicklung der Kolonie bilden und daher schnellstens aus der Kolonie entfernt werden müssen". Wenn "Weiße" gleichwohl eine Freiheitsstrafe in den Kolonien zu verbüßen hätten, sei darauf Acht zu geben, dass die Ausgestaltung ihrer Zwangsarbeit nicht zu Ansehensverlusten der "weißen Rasse" bei den "Negern" führe.
Ausführlich befasst sich Crohne hingegen mit der Strafrechtspflege, die er den "Negern" angedeihen lassen möchte: "Die Kolonialstaaten kennen hier folgende Strafarten: Todesstrafe – Kette – Gefängnis mit Zwangsarbeit – bloße Freiheitsstrafe – Züchtigung – Geld –reine Zwangsarbeit." Seiner Bewertung der Strafarten für die künftige deutsche Kolonialverwaltung schickt er das folgende rassistische Credo voraus: "Der in der Heimat der Kolonialstaaten geltende Grundsatz, daß die Strafe dem Verbrechen auf dem Fuße folgen muß, ist besonders für die Kolonien wichtig. Der Eingeborene ist schnellebig und vergeßlich. Schon nach Monaten hat er das Verbrechen, das er begangen hat, aus dem Gedächtnis verloren, und er bringt kein Verständnis dafür auf, daß er für eine lang zurückliegende Tat noch bestraft werden soll. Die Verjährungsfristen in einem schwarzen Gemüt sind ungleich kürzer als in einem weißen Strafgesetzbuch".
Im Einzelnen hält Crohne Geldstrafen für unzweckmäßig, "weil sie regelmäßig nicht der Täter bezahlt, sondern er sie von seinen Frauen und Verwandten erpreßt". Unzweckmäßig gelten dem deutschen Strafvollzugsexperten auch Gefängnisaufenthalte ohne Zwangsarbeit: "Solche Strafe wird vom Eingeborenen nur angenehm empfunden. Sie brauchen sich um nichts zu sorgen, bekommen, ohne eigene Anstrengung, ihre Unterkunft und Verpflegung".
Kettenhaft als Zuchthausersatz, erzieherisch wertvolle Prügelstrafe
Detailreichtum in einer Darstellung indiziert Begeisterung für den Gegenstand, insofern spricht Crohne im Folgenden für sich: "Die Schwerverbrecher, die nach weißem Recht Zuchthaus zu verbüßen hätten", weiß der Ministerialdirektor zu berichten, "pflegt man zu Kettenhaft zu verurteilen, d.h. die Gefangenen bekommen einen Halsring mit Öse, durch die eine lange Kette läuft, an die etwa 8-10 Gefangene angeschlossen werden, je nach ihrer Gefährlichkeit nur bei der Arbeit oder auch in der Ruhe. Diese Kettenhaft mit schwerer Arbeit verbunden, wird von den Eingeborenen gefürchtet, sie wirkt auch seelisch und körperlich ernst auf sie ein."
Ungerührt hält Crohne für diese Strafart fest, dass "fünf Jahre Kettenhaft selten von den Gefangenen überlebt werden", weshalb sie "mit lebenslänglichem Zuchthaus" gleichgesetzt werden dürfe. Die "Jugendlichen, Unbedarften und Besserungsfähigen" möchte er zwar von der Strafart für "Gewohnheitsverbrecher" ausnehmen – allerdings erst, wenn dies die Infrastruktur der Kolonie erlaubt. Das ganze Ausmaß an Rassismus und Sexismus – wenn das Wort je angebracht ist, dann wohl hier – des Ministerialbeamten offenbart sich in diesem Zitat: "(E)in paar Worte über die Prügelstrafe. Diese Strafe darf nicht vom Standpunkt einer überzarten Jungfer, sondern muß von dem eines zielbewußten und erfahrenen Kolonialpolitikers aus betrachtet werden. Selbstverständlich haben alle Kolonialstaaten jede Übermäßigkeit und Grausamkeit bei der Anwendung der Prügelstrafe ernst verfolgt und sie bei Frauen, Kindern und Greisen, ebenso wie bei den auf höherer Kulturstufe stehenden Eingeborenen, wie Arabern und Indern, ausgeschlossen [...]. Aber entbehrlich ist die Prügelstrafe nicht."
Für die angestrebten deutschen Kolonien in Afrika stellt Crohne in Aussicht: "(G)erade in den Augen der Neger (wird) der Schwerverbrecher erst dann ernsthaft bestraft, wenn er neben seiner Kettenhaft noch eine gehörige Prügelstrafe bekommt."
Bloß sadistische Wahnideen eines NS-Juristen?
Heute scheint es, als handelte es sich "nur" um die sadistischen Phantasien eines NS-Spitzenjuristen, der durch intensive Beschäftigung mit Fragen des Strafvollzuges jegliche moralische Hemmung verloren hatte. Sadismus, Mordbrennerei und Sklavenwirtschaft des NS-Staates assoziiert man zwar mit Osteuropa, doch als Wilhelm Crohne seine Überlegungen 1940 zu Papier brachte, sah das noch anders aus.
Nach der militärischen Niederlage Frankreichs und der großen Kolonialmacht Belgien sowie dem in Kürze erwarteten Sieg über das Vereinigte Königreich herrschte unter den Kolonialbegeisterten in den Reihen der NSDAP nicht unberechtigte Aufbruchstimmung: "Es kursierten bereits detaillierte Stellenbesetzungspläne", beschreibt der Historiker Karsten Linne diese heiße Phase des Jahres 1940/41, "bis hinunter auf den letzten Posten der Zollverwaltung für diverse ausländische Kolonien, wie zum Beispiel Belgisch-Kongo und Französisch-Äquatorialafrika sowie für die ehemaligen deutschen Kolonien."
Dazu wäre ein Friedensvertrag zwischen Frankreich und dem "Großdeutschen Reich" erforderlich gewesen. Der blieb allerdings aus, vor allem, weil sich die Briten unter Premierminister Churchill nicht geschlagen gaben. Dass der "12. Internationale Kongreß für Strafrechts- und Gefängniswesen" erst 1950 in Den Haag stattfinden sollte – ohne "Grundsätze für die Strafrechtspflege in den Kolonien" auf der Tagesordnung – und Crohnes Vortrag 1940 in Rom ausfallen musste, lag natürlich ebenfalls an den fortgesetzten Kriegshandlungen.
Bei den zitierten Überlegungen des Spitzenbeamten aus dem Reichsjustizministerium handelt es sich im Übrigen auch nicht nur um persönliche Entgleisungen, die einfach dem historischen Vergessen anheimfallen dürfen, zumal sie nur an entlegener Quelle auf Papier statt vor einem juristischen Fachpublikum aus aller Welt geäußert wurden.
Rechtshistorische Kontinuität personifiziert
Wilhelm Crohne war, wie er an einer Stelle andeutet, selbst vor 1914 als Jurist im damaligen Deutsch-Ostafrika, also dem wesentlichen Teil der heutigen Republik Tansania, tätig gewesen – dem Vernehmen nach als "Eingeborenenrichter". Der Frankfurter Strafrechtslehrer und Rechtsphilosoph Wolfgang Naucke hat 1991 in einer Vorlesung zu den Kontinuitätssträngen der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte unter anderem festgestellt: "Es gibt zwischen 1886 und 1918 ein damals weithin bekanntes Kolonialstrafrecht. Seine Konturen sind: schnell durch Verordnung machbar; nicht an das Gesetz gebunden, ganz offiziell nicht; brutales Strafen; schwach ausgeformter Prozeß; keine Rechtsmittel; abhängige Verwaltungsbeamte als Richter."
Neben den schon in der Weimarer Republik – von Seiten der republikfreundlichen Politik – eingerichteten Sondergerichtsbarkeiten schrieb Naucke damit dem Kolonialstrafrecht des deutschen Kaiserreichs Modellcharakter für das spätere NS-"Recht" zu, mit seinem Verlust an Formen, Verlust an Instanzen und Kontrolle, Brutalität in der Praxis. Vermutlich lässt sich dieser Beitrag zur Barbarei an keiner Person so gut deutlich machen, wie an Dr. jur. Wilhelm Crohne: Zu einer Wiederaufnahme deutscher "Kolonialstrafrechtspflege" ist es in Afrika glücklicherweise zwar nicht gekommen. Bei der Regelung der "verschärften Vernehmungen" durch die Gestapo, dem "Prügelerlass" von 1937 war der Ministerialdirektor maßgeblich beteiligt. Man sieht da unschwer den Zusammenhang.
Im auf "Examensrelevanz" getrimmten Ausbildungsbetrieb der juristischen Fakultäten stellen solche Zusammenhänge leider nur einen kognitiven Störfaktor dar. In Ostafrika, dort, wo sich Wilhelm Crohne in jungen Jahren am Recht zu schaffen machte, kann man heute auf Menschen treffen, die kein Problem damit haben, ihre biologischen Vorfahren bis zu sechs Generationen zurück zu benennen. Hierzulande schaffen das die wenigsten auch nur über drei Generationen.
Vielleicht wäre es nicht zu viel verlangt, würden hiesige Juristen damit beginnen, zwei, drei oder vier Generationen ihrer rechtswissenschaftlichen "Ahnen" zu studieren. Man würde dabei ja nicht nur böse Überraschungen erleben.
Lektüreempfehlungen:
Sich mit deutschen Kolonialfragen heute zu beschäftigen, kann nützlich sein, wenn man zur Erkenntnis der Gegenwart das Fremde der Vergangenheit kennenlernen möchte. So haben sich mit dem bis heute virulenten Problem, wie Afrikaner in einen "modernen" Arbeitsmarkt zu integrieren wären, nicht nur scheußliche NS-Juristen beschäftigt, sondern – seinerzeit wie heute – existierende, anerkannte Einrichtungen wie die "Internationale Arbeitsorganisation". Dazu – und zu vielem mehr – bietet eine starke Einführung: Karsten Linne, "Deutschland jenseits des Äquators?" Die NS-Kolonialplanungen für Afrika, Berlin (Verlag Christoph Links) 2008.
Was die juristischen Fakultäten eher nicht leisten, leistet unter anderem die deutsche Afrikanistik (unter tätiger Mitwirkung von Juristen und Historikern). Als einführender, facettenreicher Band ist zu nennen: Marianne Bechhaus-Gerst und Reinhard Klein-Arendt (Hg.), "Die (koloniale) Begegnung". AfrikanerInnen in Deutschland 1880-1945. Deutsche in Afrika 1880-1918, Frankfurt am Main (Verlag Peter Lang) 2003. Der Beitrag von Harald Sippel befasst sich ausführlicher mit dem "Eingeborenenrichter" in der deutschen Kolonialpraxis des Kaiserreichs.
Die Vorlesung von Wolfgang Naucke ist abgedruckt im "Rechtshistorischen Journal" Nr. 11 (1992), Seiten 279-292 unter dem Titel "NS-Strafrecht: Perversion oder Anwendungsfall moderner Kriminalpolitik?". Das Zitat findet sich auf Seite 285.
Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
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Martin Rath, Deutsche Kolonialrechtsplanung 1940/41: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4011 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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