Ausreisewillige hatten ihm das Eigentum an ihrem Grundstück überlassen müssen. Gleichwohl entließ der BGH am 22. April 1998 einen Anwalt aus der Kanzlei des bekannten DDR-Juristen Wolfgang Vogel aus der strafrechtlichen Verantwortung.
"Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat." Dieser bekannte Satz der mutigen DDR-Dissidentin Bärbel Bohley (1945–2010) wirkt auf eigenartige Weise ärgerlich.
Auf die Frage, warum dieses berühmte Bohley-Wort befremdet, wird zum Schluss einzugehen sein – selbst wenn die Antwort bereits jedem juristischen Erstsemesterstudenten auf der Hand liegen müsste.
Die Sache, über die der Bundesgerichtshof (BGH) mit Beschluss vom 22. April 1998 entschied, scheint zunächst ein Beispiel für die mangelnde Wertschätzung dissidenter Gerechtigkeitsgefühle ehemaliger Insassen des SED-Staats zu geben.
Bereicherung am Rande des Menschenhandels
Mit Urteil des Landgerichts (LG) Berlin vom 17. April 1997 war der Angeklagte Klaus Otto Erwin H., Jahrgang 1930, nach § 253 Strafgesetzbuch (StGB), §§ 127, 128 DDR-Strafgesetzbuch wegen Erpressung zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen je 100 Mark (rund 7.600 Euro) verurteilt worden (Az. [511] 21 Js 12/94 Kls [5/96]).
Der Anklage lag ein Nebengeschäft jenes schwunghaften Menschenhandels zugrunde, mit dem sich der SED-Staat zwischen 1962 und 1989 insgesamt rund 280.000 seiner Untertanen entledigte. Die DDR nahm dabei zwischen drei und acht Milliarden Mark ein. Doch gab es auch für die Kostgänger des korrupten Regimes Gelegenheit, sich privat zu bereichern.
Denn Ausreisewillige, die in der DDR über Immobilieneigentum verfügten, wurden genötigt, dieses entsprechend den Vorstellungen der Behörden zu veräußern, regelmäßig zugunsten von Angehörigen und Institutionen des Staatsapparats, die auf diesem Wege begünstigt werden sollten.
Grundstücksverkauf abgenötigt?
Im Mai 1980 war Klaus Otto Erwin H. in den Genuss zweier großer Grundstücke in Berlin-Biesdorf gekommen. Die Beurkundung des Schenkungsvertrags über das eine sowie des Kaufvertrags über das andere Grundstück, erfolgte in der Kanzlei des bekannten DDR-Rechtsanwalts Wolfgang Vogel.
Im Juni setzte Vogel die bisherigen Eigentümer auf die sogenannte "FD-Liste" ("Familienzusammenführung dringlich"), ein Verzeichnis statthafter Ausreisefälle.
Der Erwerber musste für den Vertragsschluss keine weiten Wege gehen: Nach dem Abitur hatte der spätere Angeklagte H. 1949 eine Ausbildung zum Rechtsanwalts- und Notargehilfen absolviert, seit 1954 diente er in der Kanzlei von Rechtsanwalt Vogel als Bürovorsteher. Die Humboldt-Universität zu Berlin (Ost) erlaubte ihm zwischen 1972 und 1979 ein Fernstudium der DDR-Rechtskunde, seit 1979 arbeitete er dann in der Vogel'schen Kanzlei als Rechtsanwalt.
Das Landgericht Berlin sah es – ungeachtet einiger geschäftlicher Schiebereien unter der Hand – als erwiesen an, dass der DDR-Rechtsanwalt H. den ausreisewilligen – und vom völkerrechtlichen Standpunkt auch ohne weitere Kalamitäten ausreiseberechtigten – Eheleuten ihre Grundstücke durch Erpressung abgenötigt hatte.
Normative Geschichts- und Gerichtsnotorietät
Der BGH entschied hingegen mit Beschluss vom 22. April 1998 auf Freispruch. Dabei sind am Ende vielleicht weniger die dogmatischen Erklärungen von dauerhaftem Wert als die eigenartige Tiefe zeithistorischer Ausführungen, die zudem weit vom eigentlichen Angeklagten abschweiften.
Zentral für den Freispruch war der Befund des BGH, die Kanzlei Vogel habe im System des DDR-Menschenverkaufs lediglich eine vermittelnde Rolle gespielt. Ein Machtmittel, die ausreisewilligen Eheleute dazu zu nötigen, ihm ihre beiden Grundstücke in Berlin-Biesdorf zu einem geringen – im Prinzip staatlich festgelegten, unter der Hand in Mark abgewickelten – Preis zu verkaufen bzw. zu schenken, habe Anwalt H. nicht in der Hand gehabt.
§ 127 Abs. 1 DDR-StGB sprach von einem Zwang, der "rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem schweren Nachteil" auszuüben war. Rechtsanwalt H. habe aber mangels eigener Verfügungsgewalt über das DDR-Grenzregime nicht die Möglichkeit gehabt, seine Mandanten vor die Wahl zu stellen, ihm entweder ihr Eigentum zu überlassen oder in der DDR zu verbleiben.
Während das LG Berlin in seiner Urteilsbegründung den Komplex von DDR-Staatsführung, Staatssicherheit und der Kanzlei Vogel soweit ausgeführt hatte, dass eine Gesamtverantwortung aller für alles jedenfalls in Griffweite geriet, hob der BGH zu einer ausführlichen zeithistorischen Diagnose des Geschäftsmodells der Kanzlei Vogel an (In einem Zivilprozess wäre die lebenslange Nähe des Anwalts Vogel und seines zum Kollegen herangewachsenen Kanzleivorstehers womöglich von Interesse gewesen.).
Freundliche Ausführungen des BGH
Da sich die Verfahrensbeteiligten oft nur noch sehr begrenzt zu Fakten äußern können, die von Richtern als gerichtsbekannt vorausgesetzt werden, gilt es zurecht als jedenfalls etwas unfein, mit "gerichtsnotorischen" Kenntnissen zu argumentieren.
Im Beschluss vom 22. April 1998 griff der BGH jedoch umfassend auf "offenkundige Tatsachen der jüngeren Zeitgeschichte zurück". Es lohnt sich, diese recht freundlich mit Rechtsanwalt Vogel ins Gericht gehenden Ausführungen im Original nachzulesen (Rn. 23 ff.).
Der BGH stellte zunächst auf das Vertrauen ab, das Rechtsanwalt Vogel seitens der Politiker und Kirchenvertreter in der Bundesrepublik entgegengebracht worden sei. Diese hatten seine Zuverlässigkeit als Verhandlungspartner in diversen Fragen der "Ausreiseangelegenheiten" geschätzt. Die Beziehung von Rechtsanwalt Vogel zur DDR-Führung sei zwar wohl auch auf Vertrauen gegründet gewesen, habe seiner Kanzlei aber keinen derartigen Einfluss auf die "Ausreiseangelegenheiten" verschafft, dass am Ende solche Menschen wie die hier um ihre Grundstücke gebrachten Eheleute daran hätten glauben dürfen.
Der DDR billigte der BGH ein Interesse zu, sich über den von ihr 1976 ratifizierten Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) hinweggesetzt zu haben: Nach Artikel 12 Abs. 2 und 3 IPbpR steht es jedem frei, sein Land zu verlassen, soweit nicht gesetzlich klare und vom Pakt anerkannte Hinderungsgründe bestehen.
Wolfgang Vogel ebenfalls freigesprochen
Obwohl das Recht, sich der Weltanschauung eines Staates durch Auswanderung zu entziehen, in Deutschland eine ehrwürdige Tradition mit fast naturrechtlichem Dekor hat - etabliert wurde das "ius emigrandi" für Konfessionsflüchtlinge im Augsburger Religionsfrieden von 1555, bestätigt im Westfälischen Frieden von 1648 – gestand der BGH der DDR- Obrigkeit und ihrem im Menschenhandel mit der Bundesrepublik zwischengeschaltetem Vollzugspersonal, namentlich Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, eine Art Vertrauenstatbestand zu, dass die auswanderungsfeindliche Staatspraxis nicht gänzlich rechtswidrig gewesen sei.
Bemerkenswert ist am Beschluss des BGH vom 22. April 1998 zunächst, dass die Richter glaubten, bereits knapp acht Jahre nach dem Ende der DDR eine Bewertung ihrer Geschichte als gerichtsnotorisch behandeln zu können. Mit Blick auf Artikel 5 Abs. 3 GG hätten etwas ehrpusseligere Historiker dies als Übergriff monieren dürfen.
Ein wenig erstaunt stellt man darüber hinaus fest, dass der Angeklagte, dessen Freispruch der Beschluss galt – Rechtsanwalt und Notar Klaus Otto Erwin H. – recht eigentlich gar nicht gewürdigt wird, sondern die Rede stets nur von seinem Chef und Kollegen Wolfgang Vogel ist. Über dessen Mittäterschaft sollte der BGH später im Jahr, mit Beschluss vom 5. August 1998 (Az. 5 StR 503/96) in ebenso bemerkenswerter Kürze befinden. Darstellungsökonomisch nachvollziehbar, doch wurde die Öffentlichkeit damit im prominenteren der beiden Fälle des Menschenverkaufs nicht mehr mit einer langen Begründung versorgt. Der Freispruch im Fall Vogel – mitten im heißen Bundestagswahlkampf, der die Ära Kohl beenden sollte – löste kein allzu starkes Echo mehr aus.
Und was hat Bärbel Bohley damit zu schaffen?
Man kann es sich mit dem Satz, "Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat", einfach machen: Der Justizpraktiker wird erklären, dass Recht und Gerechtigkeit eben nicht immer identisch seien. Wer schwerere Geschütze gegen Bohley auffahren wollte, mag auf die Differenzierung sozialer Teilsysteme bei Niklas Luhmann (1927–1998) zurückgreifen, der das Gleiche, nur eben etwas labyrinthischer zur Auskunft gab.
Interessanter wäre jedoch - vielleicht eine Aufgabe künftiger Medienhistoriker - mit Blick auf die Wendejahre herauszufinden, welche Wirkung die Phrase Bohleys seinerzeit hatte.
Der jahrzehntelange Menschenhandel der DDR mit der Bundesrepublik erzeugte auf der einen Seite erheblichen privaten Reichtum (Rechtsanwalt Vogel segnete 2008 im bayerischen Schliersee das Zeitliche) und auf der anderen Seite seelische Not. Es ließe sich gut darüber streiten, wie die deutsche Justiz hier etwa das völkerrechtlich verbriefte "ius emigrandi", ein Institut von jahrhundertealter historischer Würde, gegen die platte positivistische DDR-Staatspraxis und ihrer Akteure abwog. Ein anhaltender Vertrauensverlust gegenüber dem positiven Recht mag hier seine Wurzeln haben.
Dass Fragen nach der Legitimität und den Konsequenzen von weitreichenden Entscheidungen der 1990er Jahre heute eher als abwegig aufgenommen werden, ist gewiss auf die geschmeidigen, öffentlich kaum ausgekämpften DDR-Abwicklungsvorgänge zurückzuführen – im Kleinen, wie im BGH-Beschluss vom 22. April 1998, aber auch im Großen, wenn es etwa um die Zulassung der korrupten Ost-Parteien zur neuen deutschen "res publica" nach 1989/90 ging.
Mit dem naiven Satz Bärbel Bohleys war klar, dass kritische Fragen an die milde Abwicklung des SED-Staats im Bereich von dissidenter Einfalt anzusiedeln sein würden – nicht weit von jener Querulanz, in deren Abwehr jeder, auch liberale Rechtsstaat gut trainiert sein muss.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, DDR-Menschenhandel: . In: Legal Tribune Online, 22.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28195 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag