Das Unionsrecht kennt er sowohl aus- als auch inwendig: Carl Otto Lenz saß der Europa-Kommission des Bundestages vor, ehe er nach Luxemburg zum EuGH ging. Und mag er auch schon länger Generalanwalt a.D. sein, ergreift er doch weiterhin Partei für das geeinte Europa wie zuletzt beim Lissabon-Vertrag. Begleiten wir den streitbaren Europäer auf einer Wanderung durch seine achtzig Lenze.
Am 5. Juni kam Lenz auf die Welt. In Berlin waren gerade die Goldenen Zwanziger zu Ende gegangen, die Wahlen des Jahres 1930 waren Vorboten der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Dr. iur. Otto Lenz, Vater des jungen Carl Otto, war damals Referent im preußischen Justizministerium. Als Otto Lenz 1938 an ein Landgericht auf eine Stelle als Direktor versetzt werden sollte, lehnte er ab: In einem NS-Staat wollte der Jurist nicht richten müssen.
Stattdessen ließ sich Lenzens Vater unter großen Widrigkeiten als Rechtsanwalt am Kammergericht nieder. Im kurz darauf beginnenden Zweiten Weltkrieg wurde Otto Lenz Rechtsberater am Oberprisenhof. Seine Verbindung zum Widerstand vom 20. Juli geriet ihm fast zum Verhängnis. Vor dem Volksgerichtshof kam Otto Lenz mit dem Leben davon, auch weil er sich geschickt zu verteidigen wusste. Bis kurz vor Kriegsende sollte Otto Lenz noch im Zuchthaus sitzen.
Unter den Brandbomben, die auf Berlin-Dahlem fielen, war in der Zwischenzeit die väterliche Anwaltskanzlei in Flammen aufgegangen. Carl Ottos Mutter, Marieliese Pohl, zog mit den vier Kindern zu Großvater Lenz an die Mosel, wo die Familie Lenz schon seit Generationen ansässig war. Dem Großvater gehörten etwa die Burgen Treis und Wildburg, die im Pfälzischen Erbfolgekrieg von französischen Truppen zerstört worden waren.
Diese Ruinen, Überbleibsel einer die Jahrhunderte überdauernden Fehde, mögen dem jungen Lenz unbewusst erste Mahnung gewesen sein, die Aussöhnung mit Frankreich mit voranzutreiben. Jahrzehnte später wird sich Carl Otto Lenz bei einer Wanderung in den Vogesen daran erinnern, dass es vor dem historischen Hintergrund gar nicht so selbstverständlich ist, als Deutscher wieder im ehemals deutschen Elsass zu wandern.
Lehr- und Wanderjahre des jungen L.
Zunächst ging der junge Lenz aber in Cochem an der Mosel wieder zur Schule. Die Abiturprüfung legte er dann in München ab, wo sein Vater sich nach dem Kriege als Anwalt niederlassen wollte. In München begann Carl Otto Lenz auch das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, wechselte aber bald nach Freiburg, wo er wie vor ihm schon sein Vater der katholischen Studentenverbindung Arminia Freiburg beitrat. Von Freiburg im Breisgau führte es den jungen Lenz über das schweizerische Fribourg schließlich ins rheinische Bonn, wo in der Zwischenzeit sein Vater für Adenauer das Bundeskanzleramt führte.
1954 bestand Carl Otto Lenz das Referendarexamen und studierte anschließend als Fulbright-Stipendiat an der Cornell University. Diese befindet sich in einer Stadt mit dem schönen Namen Ithaca, benannt nach der Heimstatt des Odysseus. Nach einem Wanderer wider Willen also, ganz anders als Carl Otto Lenz, den es nach seiner Rückkehr aus den USA im Jahr 1958 nach Speyer an die Verwaltungshochschule verschlug. Nach der transatlantischen Erfahrung nahm Lenz nun Einblick in die Traditionen d'outre-Rhin, war die Verwaltungshochschule doch die kleinere Schwester der französischen ENA.
Die Assessorprüfung legte Carl Otto Lenz schließlich ein Jahr später in Düsseldorf ab. Zurück in Bonn ging es für ihn in Gedanken schon wieder über den Atlantik: Lenz promovierte 1961 über "Die Beratungsinstitutionen des amerikanischen Präsidenten in Fragen der allgemeinen Politik". Seine Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und seine Affinität zu diesen wird er selbst später einmal als "einen gewissen amerikanischen Hintergrund" bezeichnen. Ein Jahr vor seiner Promotion hatte er Ursula Heinrich geheiratet. Zusammen werden sie zwei Söhne und drei Töchter bekommen.
Europa, der Lenz ist da
Wie zufällig war Carl Otto Lenz 1957 im Jahr der Römischen Verträge der CDU beigetreten, die sein Vater mitbegründet hatte. Zwei Jahre später ging er zum ersten Mal mit Europa auf Tuchfühlung: Bis 1966 fungierte er als Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Fraktion im Europaparlament, in dem ein Jahrzehnt später seine Schwester Marlene sitzen sollte. 1965 war Lenz in den Bundestag eingezogen, wo er bis zu seiner Ernennung zum Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) bleiben sollte.
Auch während seiner Zeit im Bundestag ließ Carl Otto Lenz das Projekt der europäischen Aussöhnung nicht los: Wenige Jahre nach seinem Einzug in den Bundestag saß er der deutsch-französischen Parlamentariergruppe vor und wurde schließlich1982 als Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit benannt. Ein Jahr später wurde Lenz auch Vorsitzender der Europa-Kommission des Bundestags, nachdem er schon lange Jahre dem Rechtsausschuss vorgestanden hatte.
Als 1984 die Nachfolge für Generalanwalt Reischl anstand, fiel die Wahl auf den gemeinschaftsrechtlich bewanderten Lenz, der der dritte deutsche Generalanwalt am EuGH werden sollte. In seinen dreizehn Jahren in Luxemburg hat er rund vierhundert Schlussanträge gestellt.
Einer der Fälle, in denen der Gerichtshof seinem Generalanwalt gefolgt ist, hat Carl Otto Lenz die Bezeichnung "Vater des Bosman-Urteils" eingetragen. Der passionierte Wanderer Lenz hatte Verständnis für die Wanderlust europäischer Fußballer und sprach sich für ein Verbot von Transferablösesummen wie Ausbildungs- oder Fortbildungsentschädigungen
aus.
Nur dem Gemeinschaftsrecht verpflichtet
Zur Rolle des Generalanwalts heißt es in den EU-Verträgen: "Der Generalanwalt hat öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen." Carl Otto Lenz drückte sein Verständnis vom Amt in seinem Werk "Rechtsschutz im Binnenmarkt" aus: Der Generalanwalt habe "die Stellung eines außerhalb des Spruchkörpers stehenden, unabhängigen Berichterstatters, der nur dem Gemeinschaftsrecht verpflichtet ist."
Auch nachdem Lenz 1997 als Generalanwalt ausgeschieden war und als Anwalt in einer internationalen Kanzlei anheuerte, hat er immer wieder eine Lanze brechen müssen für die Europäische Union. So zuletzt beim Vertrag von Lissabon, als er sich mit den Richtern des Bundesverfassungsgerichts anlegte.
Theodor Heuss sagte einmal: "Der Sinn des Reisens ist, an ein Ziel zu kommen. Der Sinn des Wanderns ist, unterwegs zu sein." Die Europäische Union ist noch nicht am Ende ihrer Reise angekommen. Möge Carl Otto Lenz noch lange unterwegs sein.
Der Autor Jean-Claude Alexandre Ho ist freier Journalist mit juristischem Fokus und Verfasser von Publikationen u.a. zum Thema Recht und Literatur.
Jean-Claude Alexandre Ho, Carl Otto Lenz zum Achtzigsten: . In: Legal Tribune Online, 07.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/651 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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