Für junge Männer, die mindestens ein Elternteil im Krieg verloren hatten, war in der Bundesrepublik eine Ausnahme von der Wehrpflicht vorgesehen. Uneheliche Söhne hatten hier aber ein merkwürdiges Problem.
Angehörige der älteren Jahrgänge – also Menschen, konkreter: Männer von 35 Jahren oder älter – werden sich möglicherweise an die Zeit erinnern, als es noch diesen meist unbeliebten, aber doch über viele Jahrzehnte weitgehend unumstrittenen Zugriff des Staates auf ihre Freiheit und ihre körperliche Unversehrtheit gab.
Das Wehrpflichtgesetz (WPflG) vom 21. Juli 1956 führte die Wehrpflicht für Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr ein, die "Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind" und in einem halbwegs greifbaren Verhältnis zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland standen (§ 1 WPflG).
Um die sogenannte Wiederbewaffnung Deutschlands wurde in den 1950er Jahren durchaus leidenschaftlich gestritten. Denn es mochten zwar, elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in der moralischen und auch juristischen Bewertung des deutschen Staatsterrorismus der Jahre 1933 bis 1945 noch Selbstmitleid und eine gewisse Erbarmungslosigkeit gegenüber den NS-Opfern überwogen haben.
Aber die Erinnerung an die Zerstörung der eigenen Lebenswelt und die Entbehrungen des Krieges war dadurch natürlich nicht aufgehoben. Ein Vertrauen, dass ein neues Militär von klugen Köpfen nur zur Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt würde, konnte noch nicht entstanden sein – es war zunächst noch nicht einmal klar, um welches Bündnis es gehen würde.
Ihrer Wehrpflicht genügten – schon dieses altfränkische Deutsch: "einer Pflicht Genüge tun", scheint heute zu verblassen – die herangezogenen Männer namentlich durch den Dienst in der Bundeswehr oder, nach Anerkennung ihrer Gewissensgründe, durch den zivilen Ersatzdienst.
Trickreiche Ärztesöhne
So umstritten die Wiederbewaffnung war, galt für die Wehrpflicht die eigentümliche sozialpsychologische Sogwirkung, die von gleichen Bedingungen für die – männlichen – Angehörigen einer Altersgruppe ausgeht: Wer ihr nicht folgen wollte, sollte gute, insbesondere medizinische Gründe haben. Moralische Gründe, anerkannt nach Artikel 4 Abs. 3 Grundgesetz (GG), änderten allein ja nichts an der Pflicht, einen Dienst zu leisten.
Wer erfolgreich medizinische Gründe vorschob, Söhne von Ärzten galten – ob zu Recht oder nicht – als besonders trickreich, mochte für seine Raffinesse heimlich bewundert oder beneidet werden. Er lief aber auch Gefahr, nicht mehr als vollwertiger Altersgenosse anerkannt zu werden. Nach langen Friedenszeiten führte das freilich auch meist nur zu Abzügen in der B-Note sozialer Werturteile.
Nachdem die Wehrpflicht im Jahr 2011 sang- und klanglos "ausgesetzt", das heißt bei weitgehend von demoskopisch ermittelten politischen Opportunitäten: auf absehbare Zeit abgeschafft wurde, verblassen neben dem symbolischen Tschingderassabum auch die sozialpsychologischen Tatbestände dieses Pflichtdienstes ein wenig, selbst wenn der soziale Klebstoff von Zugehörigkeitswünschen junger Erwachsener im Zweifel andere Haftflächen findet.
Tote in der Familie: Man muss nicht zwingend zur Bundeswehr
Dieses Vorweg-Geplauder aus der Geschichte des sozialpsychologischen Nähkästchens soll aber nur ein wenig auf einen juristischen Vorgang und seinen normativen Hintergrund vorbereiten.
Denn dass es einmal als eine Selbstverständlichkeit galt, "seiner Pflicht zu genügen", und Ausnahmen gut zu begründen waren, scheint sich heute nicht mehr jedem unmittelbar zu erschließen.
Einen guten Grund, nicht zur Wehrpflicht herangezogen zu werden, glaubte ein zum Zeitpunkt des letzten Urteils 23 Jahre alter Mann gefunden zu haben – das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschied in seiner Sache mit Urteil vom 29. Februar 1968 (Az. VIII C 201.67).
In seiner Fassung aus dem Jahr 1956 sah das Wehrpflichtgesetz vor, dass unter anderem Geistliche der anerkannten Religionsgemeinschaften und Schwerkriegsbeschädigte vom Wehrdienst befreit sind. Auf Antrag zu befreien waren "Wehrpflichtige, deren sämtliche Brüder oder, falls keine Brüder vorhanden waren, deren sämtliche Schwestern" durch den vorangegangenen Krieg bzw. den NS-Terror ums Leben gekommen waren (§ 11 Abs. 2 WPflG 1956).
Zum Zeitpunkt des Rechtsstreits zwischen dem Wehrpflichtigen und den Behörden war § 11 Abs. 2 WPflG bereits um einen Befreiungsgrund ergänzt worden, auf den es in diesem Fall ankommen sollte.
Auf Antrag vom Wehrdienst befreit werden sollten nunmehr auch wehrpflichtige "Halb- und Vollwaisen, deren Vater oder Mutter oder beide an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) oder des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes verstorben sind, sofern der Wehrpflichtige der einzige lebende Sohn des verstorbenen Elternteils ist".
Männer, deren Vater oder Mutter durch Einwirkungen des Zweiten Weltkriegs (§ 1 BVG) oder durch nationalsozialistische Verfolgung (§ 1 Bundesentschädigungsgesetz) zu Tode gekommen war, sollten also nicht in der Bundeswehr dienen müssen.
Der Vater des Antragstellers war im November 1943 im Krieg gefallen, seine Mutter nach seiner Geburt am 2. Juni 1944 verstorben.
Ausdrückliche Ungleichbehandlung unehelicher Kinder
Trotzdem sollte der Antragsteller keinen Anspruch darauf haben, vom Wehrdienst befreit zu werden.
Denn nach der Rechtsprechung des BVerwG galt der Vater eines unehelich geborenen Wehrpflichtigen nicht als "Vater" im Sinne von § 11 Abs. 2 WPflG.
Nach dem Wortlaut des Gesetzes sollte sich "der einzige lebende Sohn des verstorbenen Elternteils" vom Wehrdienst befreien lassen. Auf die Mutter kam es in diesem Fall nicht an, sie war offenbar nicht im Rechtssinn an den Folgen des Krieges gestorben.
Das BVerwG legte nun den Begriff "Elternteil" im Sinne des bürgerlichen Rechts aus. Weil die Mutter und der biologische Vater nicht verheiratet gewesen waren, sollte es auch nicht darauf ankommen, dass er – 1943 als Soldat im Krieg getötet – zweifellos unter § 1 BVG zu subsumieren war. Der Vater galt schlichtweg nicht als "Elternteil" des unehelich geborenen Sohnes.
Dazu führte das Gericht den Sinn und Zweck der Familienvorstellungen des bürgerlichen Rechts ins Feld. Nach § 1589 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der Fassung bis zum 30. Juni 1970 galten das uneheliche Kind und sein Vater als nicht verwandt.
Das BGB klammerte den Erzeuger aus den rechtlichen Beziehungen zum Kind nahezu vollständig aus. Entsprechend konsequent betrachtete das BVerwG den Vater eines unehelichen Sohnes nicht als "Elternteil" im Sinne von § 11 Abs. 2 WPflG.
Keine Heilung durch "Leichentrauung"
Eine Möglichkeit, diesen rechtlichen Nachteilen einer unehelichen Geburt zu entgehen, gab es – circa – seit dem 15. Juni 1943 und bis in die unmittelbaren Nachkriegsjahre durch die sogenannte "Leichentrauung", also eine postmortale Eheschließung.
Eine erste Lockerung von der alten Pflicht beider Brautleute, in Person vor dem Standesbeamten zu erscheinen, war bereits durch §§ 13–21 der "Personenstandsverordnung der Wehrmacht" vom 4. November 1939 geregelt worden: Der Soldat gab "im Feld" eine unwiderrufliche Erklärung ab, die Ehe eingehen zu wollen, die Frau erklärte sich dann noch vor dem Standesbeamten daheim.
Weil während der Postlaufzeit der Tod manchen Soldaten gefunden hatte, ergab sich bereits aus dieser Regelung die Möglichkeit einer postmortalen Eheschließung.
Radikalisiert wurde diese Möglichkeit durch einen Runderlass des Reichsinnenministers vom 15. Juni 1943 (Az. I Sta R 152.43 5626 f.)
Die hinterbliebenen Verlobten von Männern, die im Kriegseinsatz verstorben oder mit hoher Wahrscheinlichkeit des Todes verschollen waren, konnten nun mit einem vorgefertigten Formular beantragen, dass die Ehe – mit Wirkung zum Tag vor dem Tod – als geschlossen anerkannt wurde, sofern eine ernstliche Absicht sie einzugehen nachweisbar war.
Die Genehmigung des Antrags behielt sich der Reichsinnenminister vor. Menschen, die aus "rassischen" Gründen verfolgt oder als "Asoziale" galten, sollten ausdrücklich nicht in den Genuss der Regelung kommen.
Wenige Monate nachdem der Erlass – mit dem Vermerk "Vertraulich! (nur für den Dienstgebrauch bestimmt" – in Umlauf gebracht worden war, übernahm Heinrich Himmler (1900–1945) die Aufgaben des Reichsinnenministers. Die – gelinde gesagt – tiefe esoterische Verschrobenheit dieses NS-Politikers scheint dazu beigetragen zu haben, dass die postmortale Eheschließung unter SS-Angehörigen stärker als unter Wehrmachtssoldaten bekannt wurde.
Über die willkürlichen und perfiden Seiten des Erlasses macht man sich am besten im Wortlaut selbst ein Bild, dokumentiert findet er sich in der Bundestagsdrucksache 1/1625.
Der Kläger im Fall des Jahres 1968 führte an, dass es zur postmortalen Ehe zwischen seiner Mutter und seinem 1943 gefallenen Vater nicht mehr gekommen sei, weil auch sie bald darauf gestorben war. Im Übrigen seien SS-Leute, zu denen sein Vater nicht zählte, bei diesem Verfahren bevorzugt worden.
Das BVerwG attestierte dem Wehrpflichtigen zwar, dass sein Fall "ein besonderes Gepräge" habe und "ihn als tragisch" erscheinen lasse – an der gesetzlich vorgesehenen Benachteiligung unehelicher Kinder konnte und wollte es angesichts der gesetzlichen Regelung, die es als ausdrückliche Vorschrift ansah, nichts ändern.
Fort von der anstößigen "Leichentrauung" hin zur Unehelichen-Gleichstellung
Die Abneigung der Richter, zwecks Herstellung materieller Gerechtigkeit noch einmal in die Exegese des nationalsozialistischen Rechts der Leichentrauung einzusteigen, ist nachvollziehbar.
Starke Stimmen in der juristischen Zunft der unmittelbaren Nachkriegszeit wie der gradlinige Stuttgarter Rechtsanwalt Otto Küster (1907–1989) sahen in dem Erlass aus dem Jahr 1943 eine Rechtsperversion, die noch nicht einmal den formalen Maßstäben des NS-Staats an ein Gesetz genügt habe, sei er doch nie amtlich publiziert worden. Bedächtiger äußerte sich beispielsweise der Freiburger Zivilrechtslehrer Gustav Boehmer (1881–1969), der unter anderem auf eine verwandte Regelung des französischen Eherechts in Kriegszeiten verwies.
Für Freunde der moralischen Eindeutigkeit besonders vertrackt wurde die Sache zudem dadurch, dass in einigen alliierten Besatzungszonen die postmortale Eheschließung auch nach dem Kriegsende noch praktiziert wurde, nun allerdings ohne den Ausschluss von Menschen, deren Heirat durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935 verboten gewesen war.
Der Bundesgesetzgeber hatte durch das Gesetz über die Anerkennung freier Ehen rassisch und politisch Verfolgter vom 23. Juni 1950 und das Gesetz über die Rechtswirkungen des Anspruchs einer nachträglichen Eheschließung vom 29. März 1951 zwar etwas Ordnung in die Verhältnisse gebracht, damit aber dem Rückgriff auf naturrechtliche oder auf obskure NS-rechtliche Regelungen ein Ende bereitet.
Änderung auf Initiative von Helmut Schmidt (SPD)
Es kündigte sich zwar eine Gleichstellung unehelicher Söhne im Wehrpflichtrecht an, sie kam aber für den Kläger des Jahres 1968 zu spät: Auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion wurden sie durch Gesetz vom 3. September 1968 gleichgestellt. In § 11 Abs. 2 WPflG wurde folgender neue Satz eingefügt:
"Der nichteheliche Sohn steht dem ehelichen gleich, wenn seine Eltern verlobt waren, ihre Ehe infolge des Kriegstodes eines Elternteils oder aus rassischen oder politischen Gründen jedoch nicht geschlossen werden konnte."
Dass Helmut Schmidt (1918–2015), der den Antrag federführend einbrachte, zu dieser Frage ein eigenwilliges Verhältnis hatte, sollte die Öffentlichkeit übrigens später erfahren.
Erst durch eine Indiskretion des französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing (1926–2020), dem Schmidt dies im freundschaftlichen Vertrauen in den 1970er Jahren erklärt hatte, wurde bekannt, dass Schmidts Vater der uneheliche Sohn eines jüdischen Kaufmanns gewesen war, auch er unter die NS- Rassengesetze fiel.
BVerwG zu Ausnahmen von der Wehrpflicht: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51811 (abgerufen am: 13.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag