Die FDP hatte Gründe, als sie den ersten knappen Koalitionsvertrag mit CDU und CSU schriftlich fixierte. Seit den 1990er Jahren wurden aber ausufernde Kataloge Mode – ein paar Regeln würden der Demokratie gut tun, meint Martin Rath.
Nach der Bundestagswahl vom 17. September 1961 wusste die FDP unter ihrem Fraktions- und Parteivorsitzenden Erich Mende (1916–1998) gute Gründe, das Geschäft mit ihrem Koalitionspartner vertraglich fixieren zu wollen.
Den Wahlkampf hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) als betagter, machtwilliger Mann von 85 Jahren bestritten. Nach einer Karriere von rund 50 Jahren als Berufspolitiker war Adenauer nicht nur ein Meister vieler Machtspiele: Zwischen 1957 und 1961 hatten CDU und CSU zwar aus eigener Mehrheit regieren können. Die kleine Deutsche Partei (DP) war von der CDU aber zwecks geschickter politischer Liquidation trotzdem beteiligt worden.
Vier Jahre nach ihrer letzten Regierungsbeteiligung durften künftige FDP-Minister also nun damit rechnen, mit CDU/CSU-Kollegen zu tun zu haben, die vier Jahre lang allein hatten schalten und walten können – und mit einem Kanzler, der nie davor zurückgeschreckt hatte, die Macht informellen Wissens, die sich aus einer solchen Lage ergab, für seine Kreise zu nutzen.
Mehr als knapp 2.300 Wörter, gut 18.000 Schreibmaschinen-Anschläge, benötigte der am 20. Oktober 1961 zwischen CDU, CSU und FDP geschlossene Koalitionsvertrag trotzdem nicht.
Verabredet wurde im Wesentlichen, darauf hinwirken zu wollen, dass die Fraktionen nicht mit wechselnden Mehrheiten stimmten. Jeden ersten Werktag der Woche sollte ein Koalitionsausschuss zusammenkommen, dem neben den Fraktionsvorsitzenden und ihren Stellvertretern nur die parlamentarischen Geschäftsführer angehörten. Zu Gesetzentwürfen der Regierung hatte der zuständige Minister vorab die "grundlegenden Gedanken" vorzutragen, auch Initiativentwürfe der Fraktionen sollten hier vor dem weiteren Verfahrensgang beraten werden.
Auf die Regelung dieser Verfahrensfragen, die sichtlich darauf angelegt waren, taktische Spielräume des alten, bei manchen als intrigant verrufenen Bundeskanzlers zu begrenzen, folgten wenige Seiten, auf denen die Handlungsziele der neuen Regierung in didaktischer Kürze festgehalten wurden: von der Höhe der anzustrebenden Verteidigungsausgaben bis zur Vereinheitlichung des Kindergeldrechts.
Ungenießbaren Masse detaillierter Spiegelstrich-Aufzählungen
Weil das Institut des Koalitionsvertrags didaktisch kurz blieb, hatte es bis in die 1990er Jahre formale Konkurrenz. Sowohl von der CDU/CSU wie von der SPD, jeweils mit der FDP gebildete Bundestagsmehrheiten koordinierten ihre programmatischen Ziele für die Legislaturperiode bevorzugt über die erste Regierungserklärung des Bundeskanzlers – für Willy Brandt (1913–1992), Helmut Schmidt (1918–2015) und Helmut Kohl (1930–2017) war das nicht nur eine rhetorische Herausforderung, auch die programmatische Selbstbindung ihrer Regierungen blieb damit stärker den späteren Unwägbarkeiten des parlamentarischen Prozesses ausgesetzt.
Der bisher jüngste Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 12. März 2018 ist hingegen ein vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung seit den 1990er Jahren, damals zunächst wohl bedingt durch den starken Regelungsbedarf der Wiedervereinigung: Getrieben vom Versuch, die Ziele der Bundestagsmehrheit einzuhegen, kamen seither Koalitionsverträge von teils groteskem Umfang zustande.
Mit über 63.000 Wörtern und 500.000 Anschlägen ist z. B. das Übereinkommen aus dem Jahr 2018 mehr als 27-mal so umfangreich wie der erste Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1961. Aus einer zarten Absprache, gemeinsam abstimmen zu wollen, ist etwa ein Katalog mit Vorschlagsrechten der Parteien für die Ministerien geworden.
Mit einer ungenießbaren Masse detaillierter Spiegelstrich-Aufzählungen versuchten die Parteien sich 2018 zu binden, wo 1961 wenige klare programmatische Ziele genügten. Selbstwidersprüchliches Verhalten in höchster Vollendung: Einer der 2018er-Spiegelstriche dokumentiert die Verabredung von CDU, CSU und SPD, den Parlamentsbetrieb stärken zu wollen.
Warnungen vor Parlamentsentmachtung
Der juristischen Lehre dient das Institut des Koalitionsvertrags regelmäßig nur dazu, Erstsemestern beizubringen, dass es im dogmatischen Gehäuse des Schuldrechts nichts zu suchen habe.
Kontroversen finden sich gleichwohl. Sie betrafen jedoch die oft harmlosen Absprachen der frühen Jahre. Ein so unabhängiger Kopf wie der sozialdemokratische Jurist Diether Posser (1922–2010) verteidigte beispielsweise 1984 im "Handbuch des Verfassungsrechts" Koalitionsabsprachen auf Landesebene zum Abstimmungsverhalten im Bundesrat, kannte dabei aber noch nicht den parlamentarischen Selbstentmachtungsdrang.
Werner Maihofer (1918–2009) sah 1984 als ein Hauptproblem des Parlamentarismus in der Parteiendemokratie, dass die Kontrolle des Regierungshandelns nicht mehr als Aufgabe des ganzen Bundestages, sondern nur noch der Oppositionsfraktionen verstanden werden könnte – eine starre Selbstbindung der Regierungsfraktionen durch Koalitionsvereinbarungen trage dazu bei.
Ideen zu einem Koalitionsvertragsgesetz
Koalitionsverträge für ganz unzulässig zu erklären, wie es in den 1970er Jahren gelegentlich geäußert wurde, dürfte kaum fruchtbar sein.
Einen Beitrag zur Revitalisierung der parlamentarischen Demokratie und damit gegen den Populismus mag aber ein Koalitionsvertragsgesetz leisten, das seine wesentlichen Inhalte und das Verfahren regelt.
Der Gesetzgeber könnte die Parteien etwa dazu verpflichten, wahlweise entweder einen kurzen Koalitionsvertrag mit nur knappen Pflichtinhalten, "Modell Adenauer" (A), oder einen darüber hinaus gehenden anzustreben, "Modell Merkel" (M).
Ein kurzer Koalitionsvertrag, Modell A, dürfte ausschließlich Vereinbarungen zu wesentlichen Vorhaben enthalten, etwa zur beabsichtigten Kreditaufnahme, zu Steuererhöhungen oder -senkungen, zu internationalen Verträgen, zur Abwehr der jeweils aktuellen Apokalypse. Diese Inhalte festzulegen, wäre obligatorisch. Das Gesetz könnte gar ein Musterformular enthalten. Sieben Seiten Papier, das kann genügen.
Sehen die Parteien den Bedarf, ihr künftiges Regierungsverhalten in sachpolitischen Fragen vorab detailliert zu koordinieren, z. B. um bestehendes Misstrauen untereinander zu überwinden, verhandelten sie nach dem üppigen Modell M. Die für den kurzen Koalitionsvertrag zwingenden Inhalte müssten auch hier als essentialia negotii geklärt werden. Um den Kontrahenten jedoch den Anreiz zu nehmen, über tausende von Textzeilen sachliche Vereinbarungen und politische Besinnungsprosa zu vermischen, könnte für jede auch nur potenziell haushaltswirksame Erklärung die Pflicht etabliert werden, sie mit einer Kostenschätzung zu verbinden.
Im Zweifel müsste zu jeder potenziell im operativen Geschäft umsetzbaren Forderung, ganz gleich, ob sie den Umweltschutz oder den Infrastrukturausbau betrifft, dokumentiert werden, auf welche wissenschaftlichen Quellen oder Vorarbeiten in Parlament und Ministerien sie sich stützt.
Um nach Abschluss des Koalitionsvertrages der parlamentarischen Opposition die Kontrolle zu erleichtern, könnten diese Offenlegungen unter Supervision, etwa eines vom Bundespräsidenten berufenen überparteilichen Beirats, erfolgen. Auch die Kosten der Zuträgerschaft u. a. aus den Ministerien sollten alsbald nach Abschluss vom Bundesrechnungshof im Detail dargestellt werden.
Koalitionsverträge enthalten heute unvermeidbar ein Vorschlagsrecht der Parteien zur Besetzung von wichtigen Ämtern. Fragen danach, ob der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz ausüben sollte bzw. ob die Minister in ihrem jeweiligen Geschäftsbereich wirklich verantwortlich handeln, bleiben daher regelmäßig fruchtlos, weil die Entlassung eines Ministers ohne Erlaubnis seiner Partei zum Ende der Koalition als Ganzer führen müsste. Ein Koalitionsvertragsgesetz könnte nun vorgeben, dass die Kontrahenten zwingend Tatbestände aushandeln müssen, in denen der Bundeskanzler Minister auch ohne Zustimmung ihrer Partei entlassen kann.
Wozu das Ganze?
Dem Koalitionsvertragswesen durchaus wohlgesonnene Juristen wie Diether Posser sahen es bereits als kritisch an, dass wesentliche Leitlinien der Politik erst nach der Wahl geregelt wurden. Noch vertretbar sei das jedoch, weil die jeweils zugrunde liegenden Tendenzen in der vorangegangenen Bundestagswahl von den einander zu- wie abgeneigten Parteien wohl aufgegriffen würden und für den Wähler durch eindeutig erklärte Koalitionspräferenzen erkennbar werde, wohin die Reise der Republik gehe.
Spätestens seit im Jahr 2006 gegen wesentliche Aussagen im Wahlkampf die Umsatzsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht wurde, fällt es schwer, dieser Prämisse noch zu folgen. Ein Koalitionsvertragsgesetz, das die Parteien vor die harte Alternative stellt, einen Kanzler entweder ganz ohne vertragliche Absprachen zu wählen und Programmaussagen dann allenfalls in der Regierungserklärung zu verlautbaren, oder in jedem Fall einen knappen, übersichtlichen Katalog zwingender Vereinbarungsinhalte zu klären, würde einen Anreiz schaffen, schon im Wahlkampf wieder stärker Klartext zu sprechen.
Ist vor der Bundestagswahl demoskopisch absehbar, dass die künftige Regierung nicht von zwei, sondern von drei Fraktionen gebildet wird, ist die Versuchung groß, alle heiklen Themen in nichtöffentliche Aushandlungsprozesse nach der Wahl zu verlagern. Dem Bundestagswahlkampf geht damit sein ohnehin stets bedrohtes plebiszitäres Moment ganz verloren. Selbst evidente Kernfragen – aktuell etwa, ob man sich primär auf den Klimawandel einzurichten oder ihn noch zu verhindern habe – verschwimmen.
Anlass zu Optimismus gibt es leider nicht. Kaum zufällig ist das für kollektive Aushandlungsprozesse so zentrale Tarifvertragsgesetz vorkonstitutionell für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet erlassen worden. Ein Gesetz zur Regelung von Arbeitskämpfen kam nie zustande.
Einer Diskussion darüber, was die Parteien der parlamentarischen Demokratie mit ihrer Art antun, Koalitionsverträge zu schließen, steht das aber nicht im Weg.
Von der Regierungserklärung zum Monster-Vertrag: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46115 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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