1972 erschossen britische Soldaten in nur zehn Minuten 13 irische Demonstranten, was zu jahrzehntelangen an Ermittlungen führte. Nun muss sich nur ein rangniedriger Soldat einem Richter stellen. Von Eike Fesefeldt.
Eine Straftat kann nur wenige Sekunden oder Minuten dauern und dennoch jahr- oder jahrzehntelange Ermittlungen nach sich ziehen. Bis nach Abschluss eines Instanzenzugs endlich eine gewisse Art von Wahrheit durch einen Richter etabliert worden ist, können sich weitere Jahre oder Jahrzehnte anschließen.
Ein anschauliches Beispiel für diese kriminalistische Wahrheit ist die strafrechtliche Aufarbeitung des sogenannten Blutsonntags (irisch “Domhnach na Fola”). Am 30. Januar 1972 erschossen bei einer Demonstration in der nordirischen Stadt Derry britische Soldaten insgesamt 13 unbewaffnete Iren. Die Tat führte zur Eskalation des Nordirlandkonflikts und ist auch heute noch tief im gesamtirischen Gedächtnis verankert.
Nur zehn Minuten vergingen von dem Zeitpunkt, dass sich die Soldaten den Demonstranten näherten, und dem Zeitpunkt, dass das Letzte der 13 Opfer erschossen war. Es schlossen sich jahrzehntelange Ermittlungen an. Dieses Justizdrama – auch nach all der Zeit noch immer nicht abgeschlossen - stellt sich bislang als ein Stück in drei Akten dar – und einem kleinen Nachwort.
Erster Akt: Das „Widgery Tribunal“
Eine erste Untersuchungskommission, bereits zwei Tage nach der Tat von der britischen Regierung eingesetzt, bekam den Namen „Widgery Tribunal“. Nach zehn Wochen kamen die Ermittler zu dem Schluss, dass die Schuld weder bei den beteiligten britischen Militärs noch der Regierung zu suchen sei. Der Bericht beschrieb die Handlungen der Soldaten zwar als leichtsinnig, konstatierte aber, dass die Soldaten nicht auf friedliche Demonstranten, sondern auf bewaffnete Männer und Bombenwerfer geschossen hätten. Dabei stützte sich die Kommission auf Zeugenaussagen und forensische Spuren wie Bleirückstände auf den Leichen.
Zweiter Akt: Die „Saville Inquiry“
Nach immer wiederkehrender Kritik und einer gezielten Kampagne von Opfern bzw. ihren Familien setzte die britische Regierung 1998 eine zweite Untersuchungskommission ein: die „Saville Inquiry“. Die Kommission bestand aus einer Reihe von britischen, australischen, neuseeländischen und kanadischen Richtern. Zu Anfangs ging man nur von einem Jahr Ermittlungen aus; aber erst 2010, das heißt zwölf Jahre danach, präsentierte die Kommission ihre Ergebnisse.
Bis heute war dies die längste Untersuchungskommission der britischen Rechtsgeschichte. 610 Soldaten, 729 Zivilisten, 30 Journalisten und Fotografen, 20 Regierungsmitarbeiter und 53 Polizisten wurden als Zeugen befragt oder waren sonst wie an den Ermittlungen beteiligt. Daneben sah sich die Kommission ständigen Rechtsstreits gegenüber, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, ob die verdächtigten Soldaten anonym bleiben dürften. Die Kosten sollen etwa 195 Millionen Pfund betragen haben.
Der Bericht kam schließlich zum Ergebnis, dass die Schüsse nicht gerechtfertigt waren. Von keinem der Opfer sei eine Bedrohung ausgegangen, keines sei bewaffnet gewesen. Die Soldaten hätte flüchtende Zivilisten ohne Vorwarnung erschossen. Um ihre Taten zu verdecken, hätten sie sich Lügen ausgedacht.
Dritter Akt: Mordermittlungen gegen Soldat F
Nach der Veröffentlichung des Saville-Berichts leitete die nordirische Polizei eine Mordermittlung ein. Im November 2015 wurde schließlich publik, dass sich die Ermittlungen nur gegen den ehemaligen Soldat F richteten. Angeklagt wurde er jedoch erst im März 2019 - und zwar für die Morde an zwei der Demonstranten und weiterer vier Mordversuche. Diese Entscheidung wurde von vielen Angehörigen der Opfer mit Entsetzen aufgenommen, weil damit keiner der ranghöheren Militärs, sondern nur ein einfacherer Soldat angeklagt wurde. Das gerichtliche Zwischenverfahren gegen Soldat F hat nunmehr im März 2021 begonnen. Ein Abschluss des Strafverfahrens ist auch zum 50t. Jahrestag des Blutsonntags im Januar 2022 nicht zu erwarten.
Nachwort
Wie bereits beschrieben, ist die Aufarbeitung des irischen Blutsonntags von 1972 ein passendes Beispiel dafür, dass sich die Länge von Ermittlungen nicht an der Länge der kriminellen Handlung misst. Selbst bei einer wenigen Minuten langen Tat können eine Vielzahl von Personen involviert sein. Daneben kann sich auch immer der Wille bzw. Unwille – aus welchem Grund auch immer - der Entscheidungsträger auf die Ermittlungslänge auswirken.
Ein kleines Nachwort: In der Chronologie der Aufarbeitung des Blutsonntags wird oft der Bericht des örtlichen britischen Coronors (ein Untersuchungsbeamter, der offiziell Todesuntersuchungen durchführt, aber im deutschen Rechtssystem kein Äquivalent hat) zitiert. Dieser kam schon im August 1973 zur Schlussfolgerung, dass die britische Armee an diesem Tag „Amok gelaufen sei“ und unschuldige Menschen erschossen habe.
Der Autor Dr. Eike Fesefeldt arbeitet als Staatsanwalt.
Aufarbeitung des irischen Blutsonntags: . In: Legal Tribune Online, 05.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45114 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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