Retro-Richterin Barbara Salesch ist zurück. RTL hat sie mit neuen Fällen und "moralischem Kompass" ausgestattet – dazu gibt es Fremdscham-Witze und Revisionsgründe obendrauf. Am Ende ist auch der solide Sarkasmus von Lorenz Leitmeier aufgebraucht.
2022 ist ein Sahne-Jahr für alle Retro-Fans der Kino- und Fernsehunterhaltung: "Top Gun" und "Barbara Salesch" sind wieder da, die beiden rostfreien Oldtimer aus dem letzten Jahrtausend. Vergangenheit vergeht eben nie ganz. Während Top Gun sein unerreichtes Niveau aber von vornherein bestenfalls halten konnte, wurde Barbara Salesch 2.0 (topaktuell auf RTL) angekündigt als verbesserte Premium-Variante des Originals (seinerzeit auf SAT 1), mit "neuesten Entwicklungen" und "modernen Beweismitteln"; erzählt würden Geschichten, die auf wahren Begebenheiten basierten, außerdem gebe es "einen moralischen Kompass". Noch einmal, zum Mitlesen: RTL besitzt einen moralischen Kompass. WhatsApp-Beleidigungen statt Anschreien, Verurteilen mit Moral, True Crime als Hot Shit: um die Vorfreude auf dieses TV-Comeback des Jahres länger genießen zu können, würde man den Sendestart am liebsten noch einmal verschieben – um ein Jahr vielleicht?
Richter müssten Schöffen beknien, dass sie so etwas nie, nie, nie sagen sollten
Nun gut, das nicht mehr allzu Jüngste Gericht arbeitet also wieder, jeden Werktag um 11 Uhr hat die Zeitenwende Pause und kommt als Zeitschleife daher. Die Zielgruppe stellt sich hoffentlich den Wecker. In der ersten Folge treffen sich Richterin, Staatsanwalt und Verteidigerin vor der Verhandlung im Richterzimmer gepflegt zur Viererrunde mit Hund, es wird gescherzt und geschäkert, man will Frau Salesch ja ordentlich willkommen heißen. Der Staatsanwalt macht einen Wuahaha-Fremdscham-Scherz über die körperliche Größe von Richterin und Hund, sodass man gleich weiß: Der Zeiger auf der Herrenarmbanduhr muss wirklich schon lange eingefroren sein. Frau Salesch, bekanntlich in einen Zuber mit Sozialintelligenz gefallen, entschärft die Situation natürlich mit Humor und teilt gleich mal mit, wie sie die Aussage eines Zeugen aus der Akte findet: "Das kann er seiner Oma erzählen." Im echten Leben würde ein Richter Schöffen beknien, dass sie so etwas nie, nie, nie sagen sollten, man würde das Wort "B-e-f-a-n-g-e-n-h-e-i-t" in Zeitlupe buchstabieren – hier liefert die Richterin gleich selbst den Ablehnungsgrund. Vielleicht hat sie doch keine Lust mehr auf Verhandlungen? Zum Glück aber ist der Verteidigerin dieser Fehler egal, es ist ja auch zu schön, wieder mit Frau Salesch zusammenzuarbeiten.
Nun denn. Angeklagt ist dann die Krankenpflegerin Bettina Förster, die das 75-jährige "Finanzgenie" Erika Merz zu Hause pflegte und eines Abends, als Frau Merz gerade im Keller Katzenfutter holte, ihr Opfer eingesperrt und deren Goldbarren im Wert von 100.000 Euro entwendet haben soll. Raub, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, ein schöner Fall für das Schöffengericht. Zwei Schöffen gibt es folgerichtig auch, die sagen aber bis zum Ende kein Wort. Der Oberstaatsanwalt wird höflich gebeten, die Anklage vorzulesen ("Herr Römer, bitte!"), der tut das fehlerfrei, Frau Salesch bedankt sich artig, belehrt aber dafür die Angeklagte vorsichtshalber mal nicht über ihr Schweigerecht – zack, ein Revisionsgrund. Aber wer wäre da so kleinkariert und forderte in einem Strafverfahren strafverfahrensrechtliche Genauigkeit? Oder wollte irgendjemand damals die Habilitationsschrift von Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik sehen? Die Angeklagte streitet ohnehin alles ab, das Schöffengericht aka Barbara Salesch bohrt gegen eine Wand, der Staatsanwalt nickt und schüttelt seinen Kopf bei jeder Frage so lebensnah überbetont, dass jeder Zuschauer weiß, was er gerade denken soll. Auf dem Tisch der Verteidigerin steht neben dem unvermeidlichen Kommentar zum StGB ("Fischer") auch einer zum Betäubungsmittelrecht – ein Zeichen?
Die Moral verpackt im Vorschlaghammer
Dann kommt die Geschädigte Frau Merz, eine extrovertierte Frau mit roten Haaren und in den besten Jahren. Kurz fragt man sich, warum die eine mit Robe oben sitzt, die andere ohne Robe Fragen beantworten muss, aber vermutlich ist es wie so oft im Leben: Es könnte auch anders sein, es ist aber so, wie es ist. Besser, man fragt nicht zu genau, wer will hier schon Antworten? Frau Merz teilt dann mit, wie schlimm es ihr erging, als sie eingesperrt war. Staatsanwalt und Verteidigerin fragen auch, es geht wild durcheinander, am Ende weiß man nur: Alles furchtbar. Die Moral ist im Vorschlaghammer verpackt: Pfleger sind für die Gesellschaft unverzichtbar, aber chronisch unterbezahlt – ein Tatmotiv? Und Banken kann man nicht vertrauen, lieber versteckt man das Gold in der Kakaodose. Die Verteidigerin stellt Frau Merz als senil dar, der Staatsanwalt moniert diese "Altersdiskriminierung". Frau Salesch teilt mit, sie habe sich auch schon Gedanken gemacht, wie lange sie allein leben könne, für Staatsanwalt und Verteidigerin kämen diese Fragen auch noch. Oje, wo ist die Fernbedienung, man bräuchte dringend den roten Knopf links oben?
Die moralische RTL-Kompassnadel rotiert wie ein Propeller
Als nächste Zeugin schildert dann die Tochter von Frau Merz, dass ihre Mutter schwierig sei, die wiederum herrscht von der Zuschauerbank aus ihre Tochter an. Dann kommt der Nachbar, ein Schwerenöter, der aber leider pleite ist und ein Motiv hätte. Gebannt fragt man sich, ob man den Täter sieht oder bloß eine Nebelkerze, als plötzlich – oh Gott, eine dramatische Wendung geschieht: Die Tochter von Frau Merz sieht auf ihrem Smartphone genau in diesem Moment, also wirklich d-i-r-e-k-t während der Gerichtsverhandlung, dass jemand im Haus der Mutter ist. Das Geschehen wirkt für einige Sekunden wie eingefroren – ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum? Nein, Frau Salesch denkt nach. Schnell die Verhandlung unterbrochen, die Polizei losgeschickt, und in flagranti eine 18-Jährige erwischt: die Online-Bekanntschaft des Enkels, die seine Gefühle ausnutzte und ihn dazu brachte, die Oma zu bestehlen. Enkel bestiehlt Oma: Die moralische RTL-Kompassnadel rotiert in diesem Moment wie ein Propeller – vielleicht ein Magnet unter der Richterbank? Frau Salesch erledigt dann im Verfahren gegen die Pflegerin gleich mal die Tatvorwürfe gegen den Enkel und dessen Komplizin mit. Die Vorschrift, die das erlaubt, reicht RTL bestimmt nach, wenn die Rechtslage vielleicht irgendwann auch mal so modern ist wie Barbara Salesch.
Der Enkel, schauspielerisch ein ungeschliffener Rohdiamant, überreizt sein Repertoire an Mimik nicht und lässt den Zuschauer im Unklaren, auf welcher Meta-Ebene er ist: Spielt er einen Zeugen unter Tatverdacht? Oder spielt er sich selbst, als wäre er der Täter? Oder aber ist er einfach er selbst und ignoriert, dass der Fall fiktional ist? Hat man es ihm vielleicht bewusst verschwiegen? Im Prinzip ist es aber einerlei, am besten spielt natürlich sowieso Richterinbarbarasalesch, man würde ihr glatt abnehmen, dass sie auch im echten Leben die Strafprozessordnung kennt. Sie nimmt die beiden jungen Kriminellen so federleicht auseinander, das ist großartige Werbung für den Studiengang Rechtswissenschaften. Es wäre keine Überraschung, wenn sich im nächsten Semester viele junge Menschen dafür einschrieben.
Sofern man das allerdings bereits getan hat und fertiger (!) Jurist ist, schluckt man schwer: Wie soll man, wenn jemand kurz mal die Gartenarbeit unterbricht und aus dem (Ruhe-)Stand demonstriert, was in diesem Job möglich ist – wie soll man da jemals sein Amt wieder ausfüllen? Wer erlebt hat, wie Jimi Hendrix mit den Zähnen Gitarre spielt, gibt ja danach auch kein Blockflöten-Konzert ("Die Vogelhochzeit"). Am Ende wird Bettina Förster freigesprochen, Gott sei Dank kam ja noch rechtzeitig die Wahrheit ans Licht. Danach ist zum Glück eine Stunde um und diese Karikatur eines Strafverfahrens vorbei, irgendwann schützt auch der solideste Sarkasmus nicht mehr.
Nach dieser Sendung hat der juraferne Zuschauer so viel Ahnung vom Geschehen in deutschen Gerichtssälen, wie er seit "Baywatch" weiß, was ein Bademeister so alles macht. Wer dieses aufgewärmte Gericht für eine originelle Idee hält, kann frühestens vorgestern auf die Welt gekommen sein. Dann doch lieber "Wetten, dass…" mit drei Bagger-Wetten. Vorhang zu, zwei Fragen offen: Wo bleibt das "Schwurgericht Alexander Hold"? Und: Wird Gerhard Schröder wirklich noch einmal Bundeskanzler?
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht, derzeit hauptamtlicher Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern (HföD), Fachbereich Rechtspflege.
TV-Comeback Barbara Salesch: . In: Legal Tribune Online, 06.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49543 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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