Trotz Nachwuchssorgen

Kürzt das NRW-Jus­tiz­mi­nis­te­rium heim­lich Stellen für Refe­ren­dare?

von Maryam Kamil AbdulsalamLesedauer: 5 Minuten

Die Justiz sucht bundesweit händeringend nach Nachwuchs. NRW kürzt nun Ausbildungsstellen für Referendar:innen. Betroffene sollen trotz Zusagen über neue Wartezeiten im Dunkeln gelassen werden. Eine Reaktion auf "Referendariatstourismus"?

Verschiedene Zahlen sorgen in der nordrhein-westfälischen Justizszene für Aufruhr: Die Ausbildungsstellen für Rechtsreferendar:innen sollen um 30 Prozent gekürzt werden. Anstatt wie bisher 4.500 Ausbildungsstellen, sollen es in Zukunft nur noch 3.000 Stellen sein, so soll es die leitende Ministerialrätin im Justizministerium NRW am 21. Mai 2024 in einer von der Landesfachschaft Jura organisierten Podiumsdiskussion in Bonn erklärt haben. Eine offizielle Mitteilung des Justizministeriums an die Öffentlichkeit oder die übrigen Fraktionen im Landtag über die Kürzungen gibt es nicht.

Auf Anfrage von LTO erklärt das Justizministerium NRW jedoch, die kursierenden Zahlen seien irreführend: Die Kapazität von 4.500 Plätzen stamme noch aus der Coronazeit. Aufgrund der Erschwernisse durch die Pandemie sei es häufiger zu längeren Ausbildungszeiten gekommen. "Dementsprechend befanden sich mehr Personen im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis als dies regulär gewesen wäre", so der Pressesprecher des Justizministeriums. Eine Beibehaltung dieser erhöhten Stellenanzahl sei nach Beendigung der Pandemie aber nicht mehr realistisch. In den Jahren 2017-2019 waren laut Angaben des Ministeriums zwischen 3.678 und 3.874 Referendar:innen im Vorbereitungsdienst, während es in den Corona-Jahren, also 2020 bis 2022, zwischen 3.956 und 4.306 waren. Im vergangenen Jahr habe die Anzahl der Referendar:innen in NRW bei 3.776 gelegen. Daran zeigt sich, dass sich der Wert wieder normalisiert habe. Strunk gesteht aber auch zu: Ab Juli 2024 werden die Einstellungen in den Referendardienst begrenzt. Zunächst auf 3.300, perspektivisch sollen es aber nur noch 3.000 sein.

Das macht immer noch eine Kürzung von rund 780 Stellen. Den Normalwert von 3.776 Referendar:innen zugrundegelegt, sind es immerhin 20 Prozent weniger als zuvor. Das mag den öffentlich aufgegriffenen Zahlen zwar nicht ganz entsprechen, aber eine Offensive bei der Nachwuchsförderung ist das auch nicht.

Insbesondere vor dem Hintergrund bundesweit eklatanten Personalmangels stellt sich die Frage, wie nachhaltig diese Maßnahme ist. Im Dezember waren bei der Staatsanwaltschaft in NRW von insgesamt 1.480 Planstellen 84 nicht besetzt. Und die Pensionierungswelle kommt erst noch: Laut Angaben der Landesregierung gehen in NRW bis Ende 2030 knapp 680 Richter:innen sowie etwa 168 Staatsanwält:innen in den Ruhestand. Im August 2023 klagte der Justizminister selbst noch darüber, wie schwierig es sei die vielen offenen Stellen in NRW zu besetzen. Die Konkurrenz mit den Kanzleien sei groß und: "Die zahlenmäßig starken Jahrgänge gehen in Pension, schwache Jahrgänge kommen nach."

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Verunsicherung und untersagte Kommunikation?

Zahlreiche Referendar:innen sind derzeit verunsichert. "Mir wurde schriftlich ein Ausbildungsplatz für gegen Ende 2024 angeboten. Nachdem ich über Freunde von den Stellenkürzungen erfahren habe, habe ich telefonisch die Information von einer Mitarbeiterin der Referendarsabteilung am OLG Köln erhalten, dass mein Einstellungstermin drei Monate verschoben wurde", berichtet eine betroffene Referendarin aus dem OLG Köln Bezirk. Das sei ein richtiger Schock gewesen. In dem neuen Einstiegsmonat werde außerdem nicht an ihrem Wohnort ausgebildet. Daher müsste sie in jedem Fall umziehen, erzählt die Bewerberin. Damit sie einen Platz an ihrem Wohnort erhalten könne, müsse sie nun ihr Referendariat und damit auch ihren Berufseinstieg um noch einen weiteren Monat verschieben.

Im Telefonat mit der OLG-Mitarbeiterin sei ihr außerdem mitgeteilt worden: Die Referendar:innen würden nur auf Nachfrage über diese Veränderung informiert. Briefe, Informations-Mails oder Listen solle es nicht geben. Das sei nicht erwünscht. Auch das Statement des rechtspolitischen Sprechers der FDP im Landtag, Werner Pfeil, zitiert einen verschobenen Bewerber, der erfahren habe, dass die Streichung der Ausbildungskapazitäten "auf Weisung des Ministeriums hin nicht aktiv kommuniziert werde dürfe und nur auf Nachfrage im Einzelfall darüber informiert werden solle ".

Die drei Oberlandesgerichte in NRW (Köln, Hamm, Düsseldorf), die für die Einstellung der Referendar:innen zuständig sind, haben auf LTO-Nachfrage, wie die Benachrichtigung der betroffenen Referendar:innen verlaufe, keine Angaben machen wollen. Sie verweisen an das Justizministerium. Das Justizministerium wiederum äußerte sich auf Nachfrage von LTO nicht zu der Frage, ob eine aktive Benachrichtigung der betroffenen Referendar:innen unterbunden worden sei.

Der Bezirkspersonalrat der Referendar:innen am OLG Köln soll eigentlich ein Sprachrohr sein zwischen Ausbildungsstelle und Referendar:innen. Aber auch dieser wurde nicht informiert und erfuhr nur zufällig aus der Presse von den Kürzungen und durch die Nachfrage von Betroffenen. Als sich ein Betroffener bei ihnen meldete und um Rat fragte, reagierte das OLG nicht auf eine Nachfrage des Bezirkspersonalrats. Die Mitglieder des Personalrats zeigen sich empört darüber und meinen, die Landesregierung sollte "jungen Menschen berufliche Perspektiven bieten, anstatt Unsicherheiten zu säen. Insofern erwarten wir zumindest offene Kommunikation."

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Schwache Konjunktur und "Referendariatstourismus"

Die offizielle Begründung aus dem Ministerium lautet: "Die schwache Konjunktur in Deutschland hinterlässt (...) auch in Nordrhein-Westfalen deutliche Spuren", deshalb müsse ab sofort die Einstellungspraxis in den juristischen Vorbereitungsdienst "verantwortungsbewusst" gestaltet werden. Der Rechtsprofessor Matthias Kilian von der Universität Köln vermutet auf der Plattform X noch eine andere Motivation: Der "Referendariatstourismus" könne damit bekämpft werden. Denn NRW bilde insgesamt 24 Prozent der deutschen Referendare aus, bringe aber nur 18 Prozent der Absolventen durch das 1. Staatsexamen. Das bedeutet: Zahlreiche "Zugezogene" aus anderen Bundesländern absolvieren ihren juristischen Ausbildungsdienst in NRW. In anderen Bundesländern sei das genau andersrum: Bayern, Baden-Württemberg oder Hamburg "produzierten" deutlich mehr Absolvent:innen, als sie Referendar:innen einstellten. "3000 Plätze würde das exakt in Deckung bringen", so Kilian.

Zu viele Referendare ausgebildet, aber zu wenige wollen in die Justiz?

Diese Vermutung deckt sich auch mit der Einschätzung der Sprecherin für Rechtspolitik der Grünen Landtagsfraktion, Dagmar Hanses. Auf Nachfrage von LTO sagt sie: "NRW hat bislang überproportional und damit über dem eigenen Bedarf Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare ausgebildet." NRW bilde also mehr Referendar:innen aus als das Land benötigt und versorge damit andere Bundesländer mit, so Hanses. Die unbesetzten Stellen der Justiz-NRW sprechen allerdings dafür, dass selbst bei ausreichendem Nachwuchspotential sich offensichtlich nicht ausreichend Assessor:innen für den Beruf der Staatsanwältin oder des Richters entscheiden.

Aber auch die CDU-Landtagsfraktion positioniert sich kritisch zu der überproportionalen Referendar:innen-Ausbildung durch das Land und kann die Kürzungen nachvollziehen: "So schön es ist, dass Nordrhein-Westfalen beliebt bei den Rechtsreferendaren aus allen Ländern ist; die Frage nach einer gerechten Verteilung der Ausbildungskapazitäten muss gestellt werden." Sonja Bongers, rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, dagegen empfindet die Kürzungen angesichts des akuten Personalmangel in der Justiz als "blanke Hohn". Die Fraktionen seien weder über die Kürzungen der Ausbildungsstellen noch über die Haushaltskürzungen, die der angebliche Grund für diese Maßnahme seien, offiziell informiert worden. "Das Thema wird auf jeden Fall ein parlamentarisches Nachspiel haben", so Bongers.

Auch wenn es diskutable Gründe für die Anpassung der Stellenkapazität für Referendar:innen in NRW gibt, scheint die zukünftige Stellenplanung für den Nachwuchs nicht mit dem tatsächlichen Personalbedarf übereinzustimmen. Eine intransparente Kommunikation mit den Betroffenen rechtfertigt jedoch keines dieser Argumente. Womöglich werden sich in etwas mehr als zwei Jahren zahlreiche Assessor:innen fragen: Will ich wirklich für eine Justiz arbeiten, die mich trotz Zusage einfach versetzt hat?

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