"Die Wut hat mich gerettet"
Vanessa M.* hat Herzrasen, wenn sie sich aus liegender Position aufsetzt. Manchmal schläft sie zwei oder drei Tage kaum bis gar nicht. Sie vergisst beim Sprechen, wie sie ihren Satz beenden wollte. Heute geht es ihr "okay".
Wie viele andere auch steckte Vanessa sich im Januar 2020 mit dem Corona-Virus an. Nach zwei Wochen testete sie sich negativ, aber die eigentliche Tortur fing für sie erst dann an: Die Symptome, die bei ihr bis heute andauern, sind typisch für eine sogenannte Long-Covid-Erkrankung. Das aber ist der Wissenstand von heute. Damals wusste sie das noch nicht.
Puls wie bei einer Panikattacke
Im April 2020 startete die damals 25-Jährige ihr Referendariat im Ausbildungsbezirk München. Der Einstieg ist für alle Referendar:innen intensiv: neue AG mit neuen Leuten und neuen Inhalten, neue Ausbilder, viermal in der Woche Unterricht und auf den Einführungslehrgang folgt der Einsatz am Zivilgericht.
Vanessa fehlte oft, schon beim einführenden Lehrgang. "Manchmal war es mir einfach nicht möglich, das Haus zu verlassen. Aber ich konnte gar nicht erklären, warum", erzählt sie. "Es war ein Leben mit einem Puls, als hätte ich dauerhaft eine Panikattacke." Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen gingen einher mit der Angst, ihre Ausbilder:innen und Kolleg:innen würden ihr nicht glauben, ihr unterstellen, sich mit einer billigen Ausrede freie Tage zu erschleichen. "Ich wusste ja selbst nicht, was mit mir nicht stimmte. Nur, dass irgendwas falsch war." Ihre Hausärztin verwies sie schließlich an einen Kardiologen, der Herzrhythmusstörungen feststellte.
Diagnose: Long Covid
Ein Gesamtbild ergab sich erst nach den Untersuchungen in der Long-Covid-Ambulanz der Universitätsklinik München. Sie bekam eine Diagnose und ein Wort für ihre Beschwerden: Long Covid. Das Pulsrasen, die Schlaflosigkeit, die Konzentrationsschwäche und die Wortfindungsstörungen fügten sich zu einem behandelbaren Krankheitsbild zusammen.
Die Erkenntnisse halfen ihr aber nicht für das Referendariat. Für sie galt die Pflicht zur Vollzeitausbildung. Denn das Teilzeitreferendariat hat Bayern zwar 2023 eingeführt, aber wie gesetzlich vorgesehen nur für die Betreuung des eigenen Kindes oder die Pflege von Angehörigen – und nicht für die Pflege von sich selbst.
Sie bekam von ihren Ärzten eine umfassende Dokumentation über ihre Erkrankung und die langfristigen Beschwerden, die sie bei ihrer Ausbildungsstelle vorlegte. Das befreite sie aber nicht von der Pflicht, für jeden einzelnen Krankheitstag, der sich über mehr als einen Tag erstreckte, ein ärztliches Attest beizubringen. Sie sei enorm beeinträchtigt gewesen, erinnert sie sich. Je mehr Herztabletten sie gegen die Herzrhythmusstörungen einnahm, desto benebelter wurde sie.
Einzelne Menschen, wie Vanessas AG-Leiterin, unterstützten sie. Die Ausbilderin ermöglichte ihr an schlimmen Tagen die Online-Teilnahme. Die Münchener Großkanzlei, bei der sie ihre Anwaltsstation absolvierte, räumte ihr absolute Flexibilität ein: "Manchmal war ich nur einmal pro Woche in der Kanzlei. Und wenn es am Montag nicht ging, konnte ich eben am Dienstag kommen. Das war für alle okay. Dieses Verständnis hat mir damals sehr geholfen."
Wie ein Mathestudent, der nicht rechnen kann
Die Zeit schritt voran, Vanessa kämpfte sich mit vielen Fehltagen durch eine Station nach der anderen. Die Symptome blieben. Neu hinzu kam die Sorge, wie sie sich fünf Stunden am Stück auf die Examensklausuren konzentrieren sollte. Vanessa sah eine Chance in einer Schreibverlängerung durch einen Nachteilsausgleich. Der Begriff steht für Hilfen für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, um die aus diesen Einschränkungen resultierenden Folgen auszugleichen. Diese werden in der Regel in Form einer Schreibverlängerung gewährt.
Die zuständige Amtsärztin forschte damals auch zu Long Covid. Ihr musste Vanessa nicht viel erklären, die Ärztin erkannte die Symptome sofort. "Nicht Sie sind krank, sondern Ihr Nervensystem." Die Ärztin empfahl ihr in ihrem Gutachten eine Stunde Nachteilsausgleich. Das ist die gesetzlich maximal mögliche zusätzliche Zeit. Mehr geht nicht.
Mit dem Gutachten der Amtsärztin beantragte Vanessa im Oktober 2023 beim Landesjustizprüfungsamt (LJPA) den Nachteilsausgleich. Fünf Wochen später kam die Antwort: Nachteilsausgleich könne nach § 13 Abs. 1 Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) nur gewährt werden, soweit die Beeinträchtigung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betreffe. Beim zweiten juristischen Staatsexamen gehe es aber auch um das Abrufen von konzentrativer Dauerbelastbarkeit und Durchhaltevermögen – und genau diese beiden Punkte sind laut dem amtsärztlichen Attest beeinträchtigt.
Wenn aber genau das Leistungsbild betroffen ist, das geprüft werden soll, könne es keinen Nachteilsausgleich geben. Sonst wäre es so, als gewähre man einem Mathestudenten einen Nachteilsausgleich, weil er nicht rechnen kann, soll in diesem Kontext gesagt worden sein.
Chancengleichheit ja, Nachteilsausgleich nein
Als die Antwort vom LJPA kam, blieben noch sieben Tage bis zur ersten Klausur. Den eilig eingereichten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wies das Verwaltungsgericht (VG) München ab (Beschl. v. 23.11.2023; Az. M 4 E 23.5514). Die Beschwerde dagegen blieb beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) erfolglos (Beschl. v. 27.11.2023; Az. 7 CE 23.2130).
In den grundlegenden Punkten sind sich die Parteien dennoch einig: Der Grundsatz der Chancengleichheit, abgeleitet aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG), gebietet es, dass Prüfungsbedingungen für alle gleich sind. Gleichzeitig kann eine solche Einheitlichkeit bei Ungleichheit der Prüflinge dazu führen, dass die Chancengleichheit verletzt ist und der Nachteil auszugleichen ist.
Bei den Folgen von Long Covid gehen die Ansichten dann auseinander. Aus Sicht des LJPA kann der Nachteilsausgleich nur gewährt werden, wenn die Beeinträchtigung nicht das abgeprüfte Leistungsbild betrifft. Die Beeinträchtigung muss also dazu führen, dass tatsächlich vorhandene Kenntnisse und Fähigkeit nicht erbracht werden können. Ein Prüfling also, der beim E-Examen zwei verstauchte Finger hat und dadurch langsamer tippen kann, hätte womöglich Anspruch auf eine Schreibverlängerung, weil er schlicht nicht zeigen kann, was er alles weiß.
Anwalt: Keine persönlichkeitsbedingte Eigenschaft
Im Kern dreht sich die juristische Auseinandersetzung um die Frage: Kann Vanessa aufgrund der Krankheit nicht unter Beweis stellen, was sie wirklich kann? Oder sind ihr aufgrund der Krankheit diejenigen Fähigkeiten abhandengekommen, die sie für die Juristenberufe dringend benötigt?
Vanessas Anwalt argumentierte, dass die Krankheit vorübergehend sei und es daher nicht um eine Einschränkung der abzuprüfenden Leistungsfähigkeit gehe. Die Kandidatin habe amtsärztlich attestiert Aussicht auf (teilweise) Genesung und könne dann wieder auf ihre vollständige Konzentrationsfähigkeit und ihr Durchhaltevermögen zurückgreifen. Diese vorübergehende krankheitsbedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit sei keine "persönlichkeitsbedingte Eigenschaft", denn sie verschwinde wieder, sobald auch die Krankheit verschwinde.
Für das LJPA aber beeinträchtigt das Krankheitsbild die Konzentrationsfähigkeit und das Durchhaltevermögen der Kandidatin. Diese Fähigkeiten sollen in den Examensklausuren als Eignung für juristische Berufe mit abgeprüft werden. In einem solchen Fall "kommt die Gewährung einer Arbeitszeitverlängerung nicht in Betracht", so das LJPA gegenüber LTO.
Der bayerische VGH argumentierte in dem Beschluss: "Einer jeglichen Prüfung ist immanent, dass die an diesem bestimmten Tag nicht abstrakt, sondern konkret vorhandene Leistungsfähigkeit des Prüflings in die Bearbeitung der Prüfungsaufgabe einfließt und damit Grundlage für die Beurteilung ist, ob der Prüfling das abgeforderte Leistungsbild erfüllt." Deswegen sei es unerheblich, ob die Krankheit dauerhaft oder vorübergehend sei. Es komme auf die Momentaufnahme an.
"Ich war so wütend, deshalb habe ich durchgehalten"
Die Entscheidung des VGH Bayern erreichte Vanessa am Vorabend ihrer ersten Examensklausur. Sie musste entscheiden: Tritt sie von den Klausuren zurück oder schreibt sie die Prüfungen, dann aber auch mit ihren Belastungen und ohne Nachteilsausgleich?
Wenn sie heute zurückschaut, weiß Vanessa kaum mehr, wie sie diese Klausuren überstanden hat. "Teilweise habe ich um mich herum nichts mehr gehört, nur noch meinen rasenden Herzschlag." Einige Worte seien ihr nicht eingefallen. Sie habe dann bunte Klebezettel an ihre Ausführungen geklebt, wo noch Wörter fehlten und habe eine halbe Stunde früher aufgehört zu schreiben, um vielleicht noch Lücken füllen zu können. Am Ende hat es gereicht. Sie hat das zweite Examen bestanden. Heute sagt sie: "Ich war so wütend. Deshalb habe ich durchgehalten. Wenn ich einfach nur traurig gewesen wäre, hätte ich es nicht geschafft."
Das Notendilemma
Eine gute Note hat sie aber nicht erreicht. Dabei hätte sie sich eine Karriere in einer Großkanzlei vorstellen können. Seit ihrem ersten Examen arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Großkanzlei in München im Bereich Real Estate, bis heute. Doch ihr Ergebnis wird mit alleinigem Blick auf die Noten nicht reichen für eine Anstellung als Anwältin in einer großen Kanzlei.
Ihr Dilemma: Entweder sie bewirbt sich unkommentiert mit ihren wenigen Punkten im Zweiten Examen. Dann wird ihre Leistung wahrscheinlich als unzureichend angesehen. Oder sie breitet während einer Bewerbung ihre Krankengeschichte aus. Schon wieder.
*Die Redaktion hat den Namen der Person geändert, der echte Name ist der Redaktion bekannt.
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2024 M07 21
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