"Vollbefriedigend" abschaffen
Wer in Deutschland Jura studiert, lernt gleich zu Beginn des Studiums ein Wort, das nicht im Duden steht und auch sonst im deutschen Sprachgebrauch unüblich ist. Mit ihm aber steht und fällt der Studienerfolg offenbar: vollbefriedigend, VB, neun Punkte – die magische Grenze, das sogenannte Prädikat. Obgleich ein Fixpunkt der juristischen Ausbildung, hat bisher scheinbar noch niemand die Geschichte von "vollbefriedigend" aufgearbeitet.
Auch in der derzeitigen Reformdiskussion um die Juristenausbildung kommt das hyperdifferenzierte Notensystem aus 18 Noten und sieben Notenstufen zu kurz. Der Beitrag ist einerseits interessante Trivia, andererseits rechtspolitischer Aufschlag gegen ein Kuriosum, das wir Jurist:innen einfach so hinnehmen, obwohl es abgeschafft werden sollte.
Notenwirrwarr: Zehn Punkte, neun Punkte, kleines Prädikat, großes Prädikat
Im allgemeinen deutschen juristischen Sprachgebrauch beginnt die Notenstufe "vollbefriedigend" und das "Prädikat" ab neun Punkten. Aber das bedarf der Präzisierung. Juristische Noten sind durch eine Rechtsverordnung auf Grundlage von § 5d Abs. 1 S. 3 Deutsches Richtergesetz (DRiG) bundeseinheitlich geregelt. Nach § 1 der Verordnung über eine Noten- und Punkteskala für die erste und zweite juristische Prüfung (JurPrNotSkV) sind es eigentlich zehn Punkte, nur in der Gesamtnote nach § 2 JurPrNotSkV reichen bereits 9,00 Punkte. Das Prädikat einer Klausur beginnt also bei zehn Punkten, das Prädikatsexamen bei neun Punkten.
Das hält aber manche nicht von einer abweichenden Formulierung ab: In Bayern spricht man vom "kleinen" Prädikat ab 6,5 Punkten (befriedigend oder besser in der Gesamtnote), so die offizielle Verwendung des Bayerischen Landesjustizprüfungsamts. Das führt in den Statistiken in Bayern zu dem verwunderlichen Ergebnis, dass um die 45 Prozent "Prädikatsexamina" – gemeint sind aber die "kleinen" – vergeben werden. Bei 25 Prozent Durchfallern in der Ersten Juristischen Staatsprüfung ist dann der Korridor des durchschnittlich bestandenen Examens auf einmal recht schmal.
Den bayerischen Sprachgebrauch mag man für irritierend halten, aber faktisch ist er näher dran an der Praxis als das "große Prädikat". Die zum Berufseinstieg in der Justiz erforderlichen Noten, die sich in Höhe und Zusammensetzung je nach Einstellungsdurchgang, Zweig der Gerichtsbarkeit und Bundesland erheblich unterscheiden, aber oft näher an 6,5 als 9,0 liegen, sollte man transparenter kommunizieren – auch frühzeitig gegenüber den Studierenden. Für Nordrhein-Westfalen etwa gibt es gemäß einem 24 Jahre alten Erlass des Justizministers eine einheitliche, harte Einstellungsuntergrenze bei 7,76 Punkten in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung (Erlass vom 29. Juni 1999, 2201 – I.A 86).
Bei Kanzleien sieht es nicht anders aus: Statt "Doppel-VB" sind bei den Mindestanforderungen die Grundrechenarten gefragt: "18 aus 2" (18 Punkte aus beiden Examina) oder "2 aus 4" (Ausgleich fehlender Prädikatsexamina durch eine Promotion oder einen LL.M.) lauten gängige Formeln.
Woher kommt der Fetisch des Prädikatsexamens und des "VB", wenn doch die Praxis so häufig von diesem Ideal abweicht?
"Vollbefriedigend" stammt aus Preußen
Die Notenstufe "vollbefriedigend" stammt aus Preußen. Erstmals offiziell wurde sie 1923 eingeführt: Nach § 18 Abs. 1 der Preußischen Ausbildungsordnung für Juristen vom 11. August 1923 konnten für die Erste Juristische Prüfung als Gesamtnote die Prädikate "vollbefriedigend – gut – mit Auszeichnung" vergeben werden. In der Prüfungsordnung von 1913 hießen die Prädikate noch "ausreichend – gut – mit Auszeichnung". Nachlesen kann man das beim ehemaligen Amts- und Landgerichtsrat, Dozenten und Verfasser juristischer Ausbildungsliteratur Artur Weinmann (Weinmann, S. 33). Nach § 64 der Preußischen AO wurden für das zweite Examen, genannt "Große Staatsprüfung", die Prädikate "ausreichend – vollbefriedigend – gut – mit Auszeichnung" vergeben.
Zuvor war "vollbefriedigend" lediglich ein interner Aktenvermerk (Weinmann, S. 94). Noch nicht formalisiert, hieß diese Zwischennote auch manchmal "nahezu gut" oder "fast gut", schreibt Ina Ebert in ihrer Doktorarbeit zur preußischen Juristenausbildung in den Jahren 1849-1934 (Ebert, S. 259).
Jede Note ist ein Prädikat
Spätestens seit dem 4. Deutschen Juristentag im Jahr 1863 war umstritten, ob es überhaupt Noten für das Referendarexamen geben sollte, weil anders als beim Assessorexamen keine Einstellungsentscheidung davon abhängt (Ebert, S. 156). Die Prüfungspraxis in Preußen wechselte daher zwischen Phasen mit Noten und ohne Noten, wobei inoffiziell doch wieder Noten als angebliches Internum vergeben wurden (Ebert, S. 38, 157).
Daher handelt es sich bei einem Prädikat – im eigentlichen Wortsinn – um jede Note, die für eine bestandene Leistung erteilt wird. Seit wann es den inoffiziellen juristischen Sprachgebrauch gibt, dass ein Prädikat nur eine besonders lobenswerte Leistung bezeichnet, ist ungeklärt.
"Vollbefriedigend" gab es vor "befriedigend"
Die Note "vollbefriedigend" gab es vor der Note "befriedigend", die erst mit der – nunmehr reichseinheitlichen Justizausbildungsordnung (JAO) von 1934 – in deren § 18 Abs. 1 eingeführt wurde. "Befriedigend" war durch eine Rundverfügung des Justizministers seit 1932 gebräuchlich (Ebert, S. 157). Die JAO entsprach im Wesentlichen der preußischen Ausbildungsordnung, hatte aber nationalsozialistisches Gepräge, analysiert Martin Würfel in seiner Dissertation zum Reichsjustizprüfungsamt (Würfel, S. 182 ff.). In § 18 JAO wurden die in den verschiedenen Ländern stark abweichenden Noten vereinheitlicht und auch das System der Zwischennoten abgeschafft (Würfel, S. 46).
Die Notenskala für die schriftliche Arbeiten nach § 18 JAO hatte sieben Stufen und lautete "ungenügend – unzulänglich – ausreichend – befriedigend – gut – lobenswert – ausgezeichnet". Hier zeigt sich eine Parallele zur heutigen Regelung, außer dass bei den Durchfallern nicht weiter differenziert wird: "nicht bestanden – ausreichend – befriedigend – gut – lobenswert – ausgezeichnet".
Der Vorläufer der bundesweiten Regelung verzichtete auf die Notenstufe "vollbefriedigend" (Entschließung des Deutschen Bundestags vom 24. Juni 1971, wiedergegeben in BT Drs. 7/3604 v. 7. Mai 1975, S. 3), in manchen Bundesländern gab es sie und man schrieb sie "voll befriedigend". Die Notengebung wich aber in den Bundesländern stark voneinander ab, weshalb einheitliche Noten, Notenstufen und ihre Definitionen geschaffen werden sollten.
Besonders bei den Stationsnoten im Referendariat sah man eine Noteninflation. Eine Sehnsucht nach strenger Benotung zeigt sich auch in der Bundestagsdebatte von 1971, wo Bismarcks Stationszeugnis angeführt wird: "Wenn es dem Referendar Bismarck gelänge, seine natürliche Faulheit zu überwinden, wäre er zu höchsten Staatsämtern befähigt." (zit. nach Dichgans, 131. Sitzung des Deutschen Bundestag v. 24. Juni 1971, S. 7646). Noteninflation bei Stationszeugnissen gibt es aber noch immer. Was hat die JurPrNotSkV also bewirkt?
"Hyperdifferenzierung" in der aktuellen Regelung
Die Regelung in der JurPrNotSkV hat vor allem eins erreicht: eine Ausdifferenzierung der Notenstufen, während die inhaltliche Definition mit der Bezugnahme auf eine fiktive "durchschnittliche Leistung" vage bleibt. Die Ausdifferenzierung der Noten folgt der preußischen Terminologie, hat aber die Struktur des § 18 JAO von 1934, ergänzt um Zwischennoten. 18 Noten und sieben Notenstufen – ist das zu viel Differenzierung?
Ein Blick in die Geschichte lehrt: Ja, denn über die lange Zeitachse der Geschichte betrachtet sinkt mit mehr Differenzierung die Häufigkeit höherer Noten (Ebert, S. 161). Es ist ein zeitloses Phänomen der deutschen Juristenausbildung, dass die ganz oberen Noten äußerst selten vergeben werden (Ebert, S. 38, 51, 74 f., 161, 258; Hauser/Wendenburg, ZRP 2011, 18, 19). Mehr Notenstufen führten zu einer Verschiebung der gaußschen Glockenkurve, nicht zu einer differenzierteren, leistungsgerechteren Bewertung.
Bezeichnung "Prädikat" neu regeln
Daher gibt es auch einige Stimmen, die die Notenstufe vollbefriedigend abschaffen wollen (etwa Hauser/Wendenburg, ZRP 2011, 18, 20). Dem ist zuzustimmen: Die zusätzliche Notenstufe "vollbefriedigend" verhilft Jurist:innen nicht zu „besseren“ Noten. Der Trick der Notenverschiebung in der JurPrNotSkV – nach der Idee des Verordnungsgebers mit der Intention, mehr Jurist:innen in gute Noten zu hieven – ist intransparent und unehrlich.
Stattdessen sollte man einheitlich für Einzelprüfungsleistungen und Gesamtnoten 15 Noten und sechs Notenstufen wie in der gymnasialen Oberstufe etablieren – und diese nach oben besser ausreizen. Eine solche Notenskala "sehr gut – gut – befriedigend – ausreichend – mangelhaft – ungenügend" scheint ein pragmatischer Kompromiss zwischen dem Bedürfnis nach Differenzierung und dem Ausdruck an Wertschätzung, die in Noten zum Ausdruck kommen müssen. Ansonsten entsteht psychischer Druck durch "unerreichbare Noten". Die Bezeichnung "Prädikat" sollte durch den Verordnungsgeber geregelt werden – hier wäre neu darüber nachzudenken, wann eine prädikatwürdige Leistung vorliegt. Statt Erlasse der Justizminister sollten alle Anordnungen zu juristischen Noten aufgrund ihrer Grundrechtssensibilität eine hinreichende Rechtsgrundlage haben.
Das juristische Notensystem kommuniziert unterschwellig mit Bezeichnungen wie "vollbefriedigend" keine Wertschätzung, sondern eine Kleinhaltung der Kandidat:innen durch preußische Obrigkeitsstaatlichkeit. Moderne Juristenausbildung braucht auch moderne Notengebung – sprachlich-klassifikatorisch sowie inhaltlich.
Ass. jur. Diana Liebenau, LL.M. (Harvard) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Wettbewerbsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Quellennachweise:
Ina Ebert, Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849–1934), Berlin 1994
Paul Hauser und Felix Wendenburg, Das (obere) Ende der Notenskala – Plädoyer für eine Reform des juristischen Benotungswesens, ZRP 2011, 18–21
Artur Weinmann, Die Preußische Ausbildungsverordnung für Juristen vom 11. August 1923, 2. Aufl., Berlin 1927
Martin Würfel, Das Reichsjustizprüfungsamt, Tübingen 2019
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