Nudging in der Arbeitswelt

Anstoßen statt Anordnen

Gastbeitrag von Dr. Sarah Reinhardt-Kasperek und Jasmin OnderschekaLesedauer: 5 Minuten

Kürzere Meetings ansetzen, Selbsteinschätzungen verlangen: Mit konkreten Angeboten können Arbeitnehmer zu erwünschtem Verhalten gebracht werden. Wie weit der Arbeitgeber gehen darf, erklären Sarah Reinhardt-Kasperek und Jasmin Onderscheka.

"Nudging" heißt wörtlich übersetzt zunächst einmal so viel wie "schubsen" oder "anstoßen". Geprägt wurde der Begriff von den US-amerikanischen Professoren Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein in ihrem Bestseller "Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness" aus dem Jahr 2008, worin sie für einen "libertären Paternalismus" plädieren. Sie wollen die autoritäre staatliche Handlungsform der Ver- und Gebote, aber auch die Methode des wirtschaftlichen Anreizes in vielen Bereichen ersetzen und einen dritten Weg gehen. Den Bürgern sollen mögliche Entscheidungsoptionen so präsentiert werden, dass sich ihnen von alleine erschließt, was das "Richtige" ist.

Beim Nudging wird auf Erkenntnisse aus der Entscheidungspsychologie zurückgegriffen. Zur Entscheidungsfindung kann das menschliche Gehirn auf zwei kognitive Systeme zugreifen: Das reflektierende und das automatische System. Das reflektierende System benutzen wir, um z.B. eine schwierige Rechenaufgabe zu lösen. Es funktioniert langsam und kontrolliert. Der Mensch trifft seine alltäglichen Entscheidungen in aller Regel jedoch nicht durch eine sachliche Abwägung von Vor- und Nachteilen. Viel häufiger hilft uns das automatische System bei der Entscheidungsfindung. Es lässt uns reflexartig und intuitiv entscheiden und ist überdies recht träge.

Nudging macht sich diese Denksysteme zu Nutze. "Anstoßen statt Anordnen" lautet die Devise. Nudging verändert die Rahmenbedingungen, in denen die Entscheidung getroffen werden, dahingehend, dass der Mensch zwar immer noch die freie Wahl hat, aber unterbewusst zum "richtigen" Verhalten gelenkt wird. So fühlt er sich weniger bevormundet und befindet sich immer noch in der Position, selbst eine Entscheidung zu treffen.

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Konzept für Autobahn bis Organspende

Das Konzept des "Nudging" lässt sich bereits in vielen Lebensbereichen beobachten. Ein Beispiel hierfür sind mahnende Autobahnplakate. Anstelle von Geschwindigkeitsbegrenzungen installiert das Verkehrsministerium am Straßenrand diese Plakate. Hierauf erkennt man beispielsweise eine glückliche Familie mit Kind im Auto und darunter die Worte "Einer drängelt, drei sterben". In diesen Kontext lassen sich auch Geschwindigkeitsanzeigetafeln einordnen, die bei Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung einen lachenden Smiley zeigen. Die Schilder sollen erreichen, dass wir uns selbst für die niedrigere oder die richtige Geschwindigkeit entscheiden, anstatt uns zu überschätzen.

Ein weiteres Beispiel ist die inzwischen abgelehnte sog. "Widerspruchslösung" bei Organspenden. Hiernach sollte zunächst jeder Bürger als Organspender gelten, es sei denn er ändert diesen Status aktiv. Die Vielzahl der Menschen verhält sich hier allerdings passiv und verändert nichts an dem geschaffenen Zustand, sodass deutlich mehr Organe gespendet werden.

Beeinflussung des Arbeitsumfelds

Auch Arbeitgeber können diese Methode aus der Verhaltensökonomie zu ihrem Vorteil nutzen und das Arbeitsumfeld entsprechend ihrer Vorstellungen gestalten. Möchte sich der Arbeitgeber also nach dem Konzept des Nudging die Trägheit des automatischen Systems zu Nutze machen, könnte er z.B. einen Urlaubsplan entsprechend der betrieblichen Interessen erstellen und individuelle Wünsche der Mitarbeiter erst dann berücksichtigen, wenn sie ihm im Anschluss explizit vorgetragen werden. Vermutlich würden einige Mitarbeiter den vorgelegten Plan aus Bequemlichkeit akzeptieren.

Es stellt sich allerdings die Frage: Darf sich der Arbeitgeber diese Art der Beeinflussung durch Nudging einfach einseitig zu Nutze machen oder muss er gewisse Dinge beachten? Schranken für das Verhalten des Arbeitgebers können sich individualrechtlich aus den Grenzen des Weisungsrechts und kollektivrechtlich aus den betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrechten ergeben.

Urlaubsplan und Anwesenheitsprämie

In Betrieben, in welchen ein Betriebsrat existiert, muss der Arbeitgeber diesen bei einer Vielzahl von Entscheidungen mit einbeziehen. Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sieht dessen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte in z.B. sozialen und personellen Angelegenheiten an zahlreichen Stellen vor. Neben bloßen Informations- und Einsichtsrechten sieht das Gesetz in bestimmten Angelegenheiten auch eine echte Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat vor. Hält sich der Arbeitgeber nicht an diese Vorgaben, kann der Betriebsrat seine Rechte in einem Einigungsstellenverfahren durchsetzen.

So hat der Arbeitgeber bei der Urlaubsplanung ein Mitbestimmungsrecht zu beachten, weil der Betriebsrat bei der "Aufstellung des Urlaubsplans und der Festsetzung der zeitlichen Lage des Urlaubs" mit einzubeziehen ist, § 87 Abs. 1 Nr. 5 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Denkbar wäre auch die Einführung einer "Anwesenheitsprämie", wonach dem Mitarbeiter ein Geldbetrag in Aussicht gestellt wird, welcher sich mit jedem Tag einer krankheitsbedingten Abwesenheit weiter reduziert. Dieses Vorhaben unterliegt als "Frage der betrieblichen Lohngestaltung" ebenfalls der Mitbestimmung des Betriebsrats, § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG.

Um z.B. sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter die erforderliche Schutzkleidung tragen, könnte der Arbeitgeber festlegen, dass Schutzkleidung bereits anziehbereit und in der richtigen Reihenfolge zurechtgelegt werden muss. Durch die vereinfachte Bereitstellung würden Mitarbeiter die Schutzkleidung eher in Anspruch nehmen. Auch dieses Vorhaben könnte als "Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz" ein Mitbestimmungsrecht auslösen.

Kürzere Meetings ansetzen und Selbsteinschätzungen

Es sind jedoch auch Gestaltungsmöglichkeiten denkbar, die Arbeitgeber einfach und je nach Sachverhalt und Ausgestaltung ohne Betriebsräte umsetzen können. So könnte der Arbeitgeber zur Steigerung der Effektivität von Meetings die Standard-Einstellung für die Dauer eines Meetings um einige Minuten zu reduzieren. Es ist davon auszugehen, dass diese Einstellung in den überwiegenden Fällen übernommen wird und diese daher insgesamt kürzer dauern.

Möchte sich ein Arbeitgeber von einem unliebsamen Mitarbeiter trennen, ohne das Risiko eines Kündigungsschutzprozesses auf sich zu nehmen, könnte er den Mitarbeiter z.B. mittels eines Fragebogens zur Selbstreflexion über seine eigene Arbeitsleistung anregen, sodass dieser bestenfalls selbst den Wunsch bildet die Arbeitsstelle zu kündigen.

Will der Arbeitgeber beispielsweise die Teilnahmezahl für betriebliche Veranstaltungen steigern, könnte er dies erreichen, indem er die Mitarbeiter hierzu automatisch anmeldet. Wer nicht teilnehmen möchte, muss sich aktiv abmelden. All diese Regelungen könnte der Arbeitgeber einseitig einführen.

Weisung ja, Willkür nein

Auf individualrechtlicher Ebene kommt eine Beschränkung des Arbeitgebers durch die Grenzen des Weisungsrechts in Betracht. Dies gibt dem Arbeitgeber die Befugnis, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung näher zu bestimmen. Allerdings muss er hierbei die Grenzen "billigen Ermessens" beachten, er kann also keine willkürlichen Anordnungen treffen. Im Falle des Nudgings besteht jedoch der entscheidende Vorteil, dass die Mitarbeiter gerade nicht auf Anordnung des Arbeitgebers, sondern aus freier Entscheidung handeln. Aus diesem Grund sind auch Kollisionen mit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers eher selten zu befürchten.

Gleichwohl müssen Arbeitgeber vorab immer genau prüfen, ob ihr Vorhaben möglicherweise nur unter Beteiligung des Betriebsrats oder rechtlich nur eingeschränkt umsetzbar ist.

Da die Nudges des Arbeitgebers häufig (z.B. im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz) auch Vorteile für die Arbeitnehmer mit sich bringen können, ist davon auszugehen, dass sich der Betriebsrat mit derartigen Konzepten oftmals einverstanden erklärt.

Die Autorin Dr. Sarah Reinhardt-Kasperek ist Partnerin und Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Beiten Burkhardt. Sie berät nationale und internationale Unternehmen neben klassischen individual- und kollektivarbeitsrechtlichen Themen in dem Bereich HR- Compliance. Jasmin Onderscheka ist Rechtsanwältin bei Beiten Burkhardt.

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Thema:

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