"Manchmal streiten wir um Luxusprobleme"
Die Liebe zum Tourismus wurde Anja Smettan-Öztürk in die Wiege gelegt: "Meine Mutter leitete ein Tourismusinstitut", sagt die Anwältin. Ihre Berliner Kanzlei mit Schwerpunkt im Reise- und Tourismusrecht feiert in diesem Jahr zwanzigjähriges Jubiläum.
Nach dem Referendariat arbeitete sie zunächst zwei Jahre in der Tourismusbranche, bevor sie sich als Rechtsanwältin niederließ. "So konnte ich wertvolle Branchenkenntnisse sammeln, von denen ich bis heute profitiere", sagt Smettan-Öztürk.
Zu ihrem Mandatsstamm zählen Verbraucher:innen, aber auch Veranstalter:innen. "Mein Credo ist: Einigung. Wenn ich beide Seiten verstehe, habe ich alles im Blick. Außerdem mag ich die Abwechslung", erklärt sie. Für Verbraucher klagt sie beispielsweise Rückzahlungen wegen Reisemängeln ein. Veranstalter berät sie bei Vertragsgestaltungen oder entwirft AGB. Die Beratung und gerichtliche Vertretung von Fluggesellschaften machen seit vielen Jahren einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit aus. Zusätzlich bietet sie Rechtsschulungen für Reiseunternehmen und Handelskammern an. "Man braucht ein gutes Organisationsmanagement, ich muss jede Woche neu strukturieren."
"Es gibt immer Arbeit"
Seine Arbeitszeit gut einteilen muss auch Holger Hopperdietzel. Dabei hat der Rechtsanwalt vor allem feststehende Gerichtstermine zu berücksichtigen, von denen pro Woche durchschnittlich fünf bis zehn anstehen. Hopperdietzel arbeitet seit über dreißig Jahren im Reise- und Luftfahrtrecht, mittlerweile in einer Bürogemeinschaft in Wiesbaden. Sein Interesse für das Rechtsgebiet entwickelte sich eher zufällig: "In der Examensvorbereitung kam ich mit Reiserecht in Berührung, konnte damit aber nicht viel anfangen. Als frischgebackener Rechtsanwalt bat mich ein Freund, ein Pauschalreiseveranstalter, um Rat und so habe ich erste Schreiben verfasst und Verfahren begleitet." Obwohl er zu Beginn seiner Karriere touristische Unternehmen vertrat, wird er heute ausschließlich für Verbraucher:innen tätig. "Auf beiden Seiten zu arbeiten ist für mich ausgeschlossen. Als Verbrauchervertreter muss ich versuchen, außergewöhnliche Umstände, die eine Entschädigungszahlung an den Verbraucher entfallen lassen können, abzulehnen. Da kann ich im nächsten Fall nicht dagegen argumentieren."
Den Mandant:innenwechsel erklärt der Jurist vor allem mit einer veränderten Nachfrage: "Der Europäische Gesetzgeber und der Europäische Gerichtshof haben das Verbraucherrecht in den vergangenen Jahren enorm gestärkt. Es gibt immer Arbeit." Allerdings empfiehlt er Berufseinsteiger:innen die Arbeit mit touristischen Unternehmen: "Die Mandatsakquise kann einfacher sein. Es gibt viele Fälle in kurzer Zeit zu bearbeiten. Wer Veranstalter vertritt, erlangt einen umfangreichen Einblick in die Branche, den Verbraucher naturgemäß nicht haben. Gerade zu Beginn ist das hilfreich, um die Branche zu verstehen."
"Als nationaler Anwalt Europarecht mitdenken"
Ohnehin ist das Reiserecht stark durch Europarecht geprägt. Wer die Vorschriften zum Pauschalreisevertrag – die §§ 651a ff. BGB – aufschlägt, erkennt schon an der späteren Einführung ins Gesetz: Hier wurden europarechtliche Richtlinien umgesetzt.
Wichtig ist vor allem die EU-Fluggastrechteverordnung, die die Rechte von Verbraucher:innen stärkt. Als Verordnung geht sie dem deutschen Luftverkehrsgesetz vor. Seit ihrem Inkrafttreten 2005 regelt sie Ansprüche von Reisenden bei Nichtbeförderung, Annullierung oder Verspätung von Flügen innerhalb der EU. Auf internationaler Ebene beantwortet diese Fragen hingegen das Montrealer Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr.
Hinzu kommt, dass das Reiserecht auf nationaler- und EU-Ebene auch auf einzelfallbezogener Rechtsprechung beruht. Eine Methodik, die dem deutschen Recht fremd ist und in Studium und Referendariat stiefmütterlich behandelt wird. "Als nationaler Anwalt muss ich das Europarecht mitdenken, es reicht nicht in einem Lehrbuch zu § 651h BGB zu lesen. Ich muss Entscheidungen des EuGH und europarechtliche Erwägungsgründe kennen" schließt Hopperdietzel. Eine umfassende Kenntnis ist vor allem in Konstellationen wichtig, in denen BGH und EuGH unterschiedliche Rechtsmeinungen vertreten oder eine Entscheidung auf Unionsebene noch aussteht. Daher kommt es im Reiserecht besonders häufig zu Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Beispielsweise legte dieser auf Vorlage des BGH die EU-Fluggastrechteverordnung dahingehend aus, dass Reisende auch dann Schadensersatz erhalten können, wenn sie internationale Anschlussflüge nicht erreichen. Der Auslegung folgend gab der BGH im Mai 2023 dann der Klage, die dieser Vorlage zu Grunde lag, statt. Wenig später, im September 2023, stärkte der EuGH erneut die Rechte der Verbraucher:innen und stellte fest, dass nationale Gerichte Reisende über potentielle Rücktrittsrechte informieren dürfen.
"Fälle meist nicht so emotionsgeladen"
Hopperdietzel versteht einen Vorteil der Arbeit im Reiserecht darin, dass "die Fälle meist nicht so emotionsgeladen sind." Außerdem geht es oft nicht um existenzbedrohende Sachverhalte. "Manchmal streiten wir um Luxusprobleme. Ich hatte aber auch schon schwere Urlaubsunfälle bis hin zu Todesfällen zu bearbeiten", so Hopperdietzel.
Zusätzlich bietet der Job eine hohe Flexibilität, insbesondere beim Arbeitsort. "Die meisten Besprechungen finden online statt, denn meine Mandanten kommen nicht immer aus Deutschland. Schriftsätze kann ich am Laptop schreiben." Gerichtstermine muss Hopperdietzel, der zusätzlich einige Jahre als Lehrbeauftragter das Reiserecht an Studierende vermittelte, hingegen vor Ort wahrnehmen. Mittlerweile werden aber auch Videotermine abgehalten.
Dazu kommt eine Vielzahl an Mandaten, denn gereist wird immer. Durch Ereignisse wie die Corona-Pandemie begegnen Reiserechtler:innen immer neuen juristischen Herausforderungen und müssen Kreativität mitbringen. So stellte sich beispielsweise bei Flugstornierungen wegen kollektiver Krankmeldungen des Flugpersonals der Reisegesellschaft TUIfly die Frage, ob ein solcher "wilder", also nicht gewerkschaftlich organisierter Streik, Urlauber:innen zu Entschädigungszahlungen berechtigen könne. 2018 entschied der EuGH zu Gunsten der Reisenden, dass ein "wilder Streik" gerade kein "außergewöhnlicher Umstand" sei, der eine Fluggesellschaft von Entschädigungszahlungen befreie und TUIfly musste zahlen.
Fachanwalt für Reiserecht?
Smettan-Öztürk und Hopperdietzel stimmen überein: Im Reiserecht sollte ein Fachanwaltslehrgang eingeführt werden. "Im Reise- und Tourismusrecht mangelt es im Vergleich an Fortbildungsveranstaltungen", meint Hopperdietzel. Durch die Einführung des Fachanwalts würde sichergestellt, "dass diejenigen, die in dem Bereich tätig sind, auch tatsächlich spezialisiert sind und nicht nur nebenbei ein paar wenige Fälle begleiten."
Derzeit bestehen laut Auskunft der Bundesrechtanwaltskammer allerdings keine Bestrebungen, einen Fachanwaltslehrgang einzuführen.
Schlichten statt richten
Doch es bedarf nicht immer einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Vor allem bei Herausforderungen im öffentlichen Personenverkehr, wie beispielsweise Flug- und Zugverspätungen oder verlorenem Gepäck, kann eine außergerichtliche Streitbeilegung in Betracht kommen. Eine solche wird durch Verbraucherschlichtungsstellen, wie die staatlich anerkannte Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e.V. (SÖP), umgesetzt. Seit ihrer Gründung 2010 ist die Berliner Schlichtungsstelle mit mittlerweile über 50 Mitarbeitenden, 25 davon Volljurist:innen, zur größten Verbraucherschlichtungsstelle der EU gewachsen.
"Verbraucher:innen stellen zumeist online einen Antrag, den wir prüfen und an das betreffende Unternehmen weiterleiten", beschreibt Dr. Christof Berlin, Leiter der SÖP, den Beginn eines Schlichtungsprozesses. "Das Unternehmen kann sofort anerkennen oder ein Angebot machen, das wir den Verbraucher:innen kommunizieren. Falls das Unternehmen ablehnt, prüfen unsere Jurist:innen anschließend detailliert den Einzelfall und unterbreiten den Beteiligten einen Vergleich." Wird dieser angenommen, ist er verbindlich. In seltenen Fällen kommt es zur Ablehnung und gerichtlichen Fortführung des Rechtsstreits, wobei sich Gerichte mitunter auch an der vorherigen Aufarbeitung des Vergleichs orientieren.
Berlin, der nach einigen Jahren anwaltlicher Berufserfahrung die Schlichtungsstelle mit aufbaute, gefällt an der Arbeit vor allem, "dass man nicht für eine Seite beauftragt wird, sondern für beide zusammen. So findet sich eine einvernehmliche und funktionierende Lösung für alle." Schlichter:innen nehmen also eine neutrale Position, fast wie ein Gericht ein. "Wichtig sind für uns fachliche Präzision, menschliche Empathie und prozessuale Effizienz" schildert Berlin die Philosophie der SÖP. Außerdem sei es ein zukunftsorientierter Beruf. Das bestätigten die steigende Nachfrage und die weitgehend digitale Erledigung. Die SÖP stelle laufend Jurist:innen ein und eigne sich insbesondere für den Berufseinstieg, so Berlin.
Für ihn, wie auch für Smettan-Öztürk und Hopperdietzel steht fest: Das Reiserecht bietet facettenreiches Arbeiten und fordert ein stetiges Up-to-date-Sein. Trotzdem können alle drei selbst noch entspannt in den Urlaub fahren.
Tamara Wendrich, LL.M. ist Referendarin am Kammergericht.
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2023 M11 3
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