Medizinrechtsprofessor über Jura und Ethik

"Was mit dem Mensch­sein zusam­men­hängt, berührt mich am meisten"

Interview von Annabell Horn und Franziska KringLesedauer: 6 Minuten

Bernhard Kretschmer ist Strafrechtsprofessor und lehrt auch im Medizinrecht. Im Interview berichtet er davon, warum ein Jurist mehr als ein Jurist sein muss und wie er Klinikpersonal in kritischen Situationen zur Seite steht.

LTO: Herr Professor Kretschmer, Sie sind Strafrechtler. Was hat Sie zum Medizinrecht gebracht?

Prof. Dr. Bernhard Kretschmer: Meine Dissertation. Darin geht es um den Rechtsstatus des menschlichen Leichnams und um den Umgang mit Toten, etwa im Rahmen von Sektionen und Transplantationen. Die Arbeit klärt die rechtliche Legitimation für Fälle wie Transplantationen, bei denen die Behandlung von Toten nicht dem Üblichen entspricht. Derlei Aspekte sind auch für Versuche an Leichen bedeutsam sowie für deren Verwendung in Aus- und Fortbildung. 

Außerdem lernte ich damals über meinen früheren Chef die Arbeit eines Hospiz-Kuratoriums sowie des Ethikrats eines großen Trägers von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen kennen und durfte mich mit damit zusammenhängenden Themen beschäftigen. Da ging es etwa um die Patientenverfügung, die damals noch Neuland war, die Ernährung mit einer PEG-Sonde oder GPS-Tracker, um in einer Einrichtung wohnende demente Personen, die sich verlaufen haben, wiederzufinden. Andere Techniken wiederum verhindern systematisch, dass Bewohner das Gelände zu ihrer Sicherheit gar nicht erst allein verlassen können. Das hat durchaus freiheitsbeschränkenden Charakter und bedarf gegebenenfalls der betreuungsgerichtlichen Bewilligung.

Um welche weiteren rechtlichen Fragen geht es im Medizinrecht?

Das lässt sich kaum kurz beantworten, weil es sich beim Medizinrecht um eine weitgreifende Querschnittsmaterie handelt, die mit fast allen juristischen Teilbereichen verbunden sein kann. Geht es in der straf- und zivilrechtlichen Praxis oft um Behandlungsfehler, kann sich das mögliche Betätigungsfeld zum Beispiel auf Krankenhausplanung, Aspekte der Kranken- und Unfallversicherung oder die Nutzung von Gesundheitsdaten für medizinische Forschung erstrecken. Desgleichen gilt für Fragen der Gefahrenabwehr, wie wir in der Corona-Pandemie lernen mussten, als eine mögliche Triage breit diskutiert und das Infektionsschutzgesetz zum juristischen Mainstream wurde. 

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"Jeden Tag sterben fast 3.000 Menschen in Deutschland"

Gibt es einen bestimmten Fall, der in Ihren Vorlesungen zum Medizinrecht nicht fehlen darf? 

Das dürfte der Fall Putz sein. Hier geht es darum, wann es rechtmäßig ist, wenn Betreuer und Berater durch aktives Tun, hier konkret Durchschneiden eines Schlauches für die künstliche Ernährung, die weitere Behandlung verhindern. Der BGH entschied, dass jeder Mensch das Recht hat, ärztliche Heileingriffe inklusive lebensverlängernden Maßnahmen abzulehnen. Falls sich eine Person nicht mehr äußern kann, könnten ihre Betreuer dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen entsprechend entscheiden. Mit diesem Beschluss hat der BGH den Begriff des Behandlungsabbruchs eingeführt und zeitgleich die im medizinischen Bereich oft unpassende Unterscheidung von Tun und Unterlassen weithin aufgegeben. Seither sind die schon immer ungenauen Begriffe von "aktiver Sterbehilfe" und "passiver Sterbehilfe" im Wesentlichen antiquiert. Solche Handlungsweisen lassen sich nunmehr einheitlich als Behandlungsabbruch erfassen, was den klinischen Alltag der Ärztinnen und Ärzte erleichtert und Überbehandlungen vermeiden hilft. 

Die Entscheidung wirkt sich wohl wie keine andere auf das täglich vielfache Sterben(lassen) in den Krankenhäusern aus. Denn Tag für Tag sterben fast 3.000 Menschen in Deutschland, davon ungefähr die Hälfte im Krankenhaus. 

Prof. Bernhard Kretschmer. Foto: JLU/Rolf Wegst.

Fällt es den Jurastudierenden schwer, sich in diese im Studium vergleichsweise wenig behandelte Materie einzuarbeiten?

Nach meiner Einschätzung lässt sich dank der methodischen Fähigkeiten, die man im Jurastudium seit dem ersten Semester erlernt, jedes Rechtsgebiet einigermaßen schnell erschließen. Dringt man dann jedoch tiefer, warten immer schwierige und spezifische Fragestellungen. Dann ist es wichtig, die Querbezüge in andere Bereiche des Rechts zu erkennen und zu verstehen. Das setzt natürlich Erfahrung voraus, aber auch Interesse am Thema. Aber es hilft immer, über den juristischen Tellerrand hinausschauen zu wollen, sich also im Medizinrecht auch für medizinische Fragen zu interessieren. Eines meiner Lieblingszitate stammt von Luther: "Ein Jurist, der nicht mehr ist als ein Jurist, ist ein arm Ding." Übrigens: Wer jemals in einem differentialdiagnostischen Buch geschmökert hat, ist gern erstaunt, wie sehr gute Medizin mit guter Detektivarbeit zusammenhängt.

"Wir vermitteln angehenden Ärzten juristische und ethische Grundkenntnisse"

Sie halten aber nicht nur Vorlesungen für Juristen. An welche Zielgruppen richten Sie sich noch?

Wir haben mehrere Wahlfächer für Medizinstudierende entwickelt, welche den angehenden Ärztinnen und Ärzten juristische und ethische Grundkenntnisse vermitteln, die ihnen im späteren Berufsalltag helfen sollen. Dazu gehört beispielsweise das Wahlfach "Medizin und Recht". Darin geht es etwa um die Schweigepflicht und das richtige Verhalten beim Verdacht auf Kindesmisshandlung.

Ein weiteres Wahlfach ist das Fallseminar "Grenzfälle in der Medizin – Interdisziplinäre Perspektiven", das ich seit einigen Semestern gemeinsam mit Kollegen der Medizin, Theologie und Ethik halte. Hier simulieren wir ethische Fallbesprechungen, wie sie auch im Klinikalltag vorkommen. Es geht beispielsweise um Schwangerschaftsabbrüche bei Minderjährigen, über das richtige Verhalten nach einem Behandlungsfehler und über die Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht.

Seit einigen Jahren wirken Sie an verschiedenen Ethik-Komitees in Kliniken mit und begleiten selbst solche Fallgespräche. Um welche Fälle geht es da?

Meistens geht es um Fragen der Therapiezieländerung. Kommen Patienten ins Krankenhaus, geht es in der Regel zunächst darum, dass sie wieder gesund werden. In bestimmten Fällen ist das aber nicht mehr möglich. Dann gilt es sorgsam zu prüfen, etwa anhand einer Patientenverfügung, ob und wann auf eine palliative Behandlung umgestellt wird, um die letzte Lebensphase patientenorientiert zu gestalten. Bei den Gesprächen wirken Experten aus verschiedenen Disziplinen mit. Das ist sehr bereichernd, weil es andere Sichtweisen verständlich macht, so nicht zuletzt der Pflegenden, um dann gemeinsam bestmögliche Lösungen zu entwickeln. 

Außerdem wirken Sie als Jurist in den Ethik-Kommissionen der Universität Gießen in den Fachbereichen Medizin und Psychologie mit. Welche Fragen behandeln Sie dort?

Anders als im Ethik-Komitee geht es nicht um tägliche Fragen des klinischen Alltags, sondern um Forschungsfragen. Nur durch Forschung lässt sich die medizinische Behandlung von Menschen verbessern. Das betrifft die Entwicklung und Etablierung neuer Arzneimittel oder Medizinprodukte, die der Zulassung bedürfen, oder auch die vergleichende Prüfung, welche Untersuchungs-, OP- oder sonstige Behandlungs- und Versorgungstechniken am besten geeignet sind.

“Ich lernte die Selbstverständlichkeiten des Lebens bewusst zu schätzen”

Was fasziniert Sie am meisten am Medizinrecht?

Es sind die Momentaufnahmen, die mit dem Menschsein zusammenhängen, die mich mehr berühren als medizinrechtliche Belange. Mich beeindruckt immer wieder von Neuem, wie sehr sich Ärztinnen und Ärzte und gleichermaßen Pflegende und Seelsorge in den Krankenhäusern um das Wohl der Patienten bemühen. Am prägendsten war aber wohl, als ich das erste Mal eine Patientin im Wachkoma sah. Sie war mittleren Alters und (vermutlich) ihre Kinder hatten ein bildhaftes Tuch angefertigt, das unter der Decke angebracht war. An diesem Tag lernte ich die Selbstverständlichkeiten des menschlichen Lebens neu und bewusst zu schätzen: sprechen, essen, gehen zu können und vieles mehr. An diesem Abend brannten in meiner Wohnung alle Lampen, obwohl ich sonst oft nur mit der Schreibtischleuchte am Rechner sitze.

In Ihrer Arbeit haben Sie auch viel mit dem Thema Tod zu tun. Wie belastend ist das für Sie?

Im Barock waren sogenannte Vanitas-Stillleben gängig, das waren Gemälde, auf denen ein Totenkopf auf dem Schreibtisch des Gelehrten abgebildet war. So hat man sich die eigene Vergänglichkeit bewusst gemacht. Meine Dissertation befasst sich ja auch mit dem Tod – vielleicht auch eine Form der Verarbeitung. Schon weil meine Tätigkeit nicht direkt am Krankenbett erfolgt, lässt sich die professionelle Distanz gut wahren, ohne dass die Empathie darunter leiden müsste. Für Ärztinnen und Ärzte ist das ungleich schwerer, wiewohl unbedingt notwendig, damit sie ihren Job weiter ausüben können. Die Teilnahme an einer Obduktion lehrt übrigens vor allem eines: wie wertvoll das Leben ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Bernhard Kretschmer ist seit 2013 Inhaber der Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist Mitglied in den Ethik-Kommissionen der Fachbereiche Medizin und Psychologie der Gießener Universität und war bis 2022 Dekan der dortigen juristischen Fakultät. Vor einem Jahr wurde er zudem ins Kammernetzwerk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ein beratendes Expert:innengremium, berufen und bringt dort seine Kenntnisse in bioethischen Fragestellungen ein.

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