Das Prädikat als Zufallsprodukt
Noch immer hängen die Karrieremöglichkeiten von Jurist:innen ganz entscheidend von den Noten ab, die in der ersten und zweiten juristischen Staatsprüfung erzielt werden. Diese Notenfixierung kann man bereits für sich genommen kritisieren. Können sechs bis sieben innerhalb von zwei bis drei Wochen geschriebene, fünfstündige Klausuren wirklich etwas über das spätere Talent der Person als Richter oder Anwältin aussagen? Insbesondere dann, wenn rhetorische Fähigkeiten oder wirtschaftliches Geschick überhaupt nicht abgefragt werden?
Auch das Zustandekommen der Noten in den juristischen Aufsichtsarbeiten per se steht seit Jahrzehnten in der Kritik. Auf dem Papier gilt für die Klausuren der prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit nach Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Dieser besagt, dass für vergleichbare Prüflinge so weit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungsmaßstäbe gelten sollen. Aber ist das überhaupt leistbar? Glaubt man der Binsenweisheit "zwei Juristen, drei Meinungen", ist das zumindest eine Herausforderung.
Die juristische Prüfungspraxis geht davon aus, dass eine Ursache-Wirkungsbeziehung zwischen hohem juristischem Können und hohen Noten besteht. Dabei stellen juristische Klausuren psychologische Tests dar, die objektiv, valide und verlässlich sein müssen. Die Frage nach der Objektivität versucht Clemens Hufeld, Doktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in einer Studie empirisch zu beantworten.
Notendifferenz zwischen vier und elf Punkten
Objektivität beschreibt, zu welchem Grad die Klausurergebnisse unabhängig von der Person der Korrektor:innen sind. Dies wollte Hufeld durch Notenabweichungen messbar machen. Dazu bat er 23 Korrektor:innen der Universität um Hilfe, von denen 22 momentan promovieren. Gegenstand von Hufelds Studie waren 15 studentische Bearbeitungen derselben Drittsemesterklausur im Verwaltungsrecht. Jede Person korrigierte zehn Klausuren, sodass insgesamt 230 Korrekturen erhoben wurden. Jede Klausur bekam damit entweder 15 oder 16 Benotungen (siehe Tabelle). Mit überraschenden Ergebnissen.
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Der Gesamtdurchschnitt aller Klausuren lag bei 6,83 Punkten. Die Notendifferenz lag zwischen vier und elf Punkten pro Klausur. Bei der umstrittensten Klausur lag die niedrigste Note bei vier Punkten, während einer der Korrektor:innen für diese Klausur sogar 14 Punkte vergab. Die Klausur, bei der sich die Korrektor:innen am ehesten einig waren, erhielt Noten zwischen zwei und fünf Punkten. Vier Klausuren erreichten nicht die zum Bestehen erforderlichen vier Punkte. Jedoch hätten immerhin 44 Prozent der Bewertungen diese Klausuren bestehen lassen – teilweise sogar mit sieben Punkten._
Durchschnittliche Notendifferenz von 6,47 Punkten
Zwei Drittel der Korrektor:innen haben in mindestens einer Klausur nur zwei Punkte vergeben. Es vergab aber in den insgesamt 230 Korrekturen niemand die Punkte null, eins oder 18. Dass die juristische Notenskala nicht voll ausgeschöpft wird, ist dabei kein Geheimnis. Besonders erschreckend ist jedoch die durchschnittliche Notendifferenz: Der Unterschied zwischen höchster und niedrigster Note über alle Klausuren hinweg beträgt 6,47 Punkte. Und: Die Ergebnisse für dieselbe Klausur lagen nur bei durchschnittlich 42 Prozent der Korrekturen innerhalb derselben Notenstufe. Das sind Abweichungen, die weit über das hinaus gegen, was selbst die größten Kritiker:innen der juristischen Bewertungspraxis schon seit Jahren befürchten.
Hufeld untersuchte jedoch nicht nur die einzelnen Klausuren, sondern auch die einzelnen Korrektor:innen. Demnach ist nicht zu erkennen, dass nur einzelne Personen für die großen Spannweiten verantwortlich waren. So vergab eine korrigierende Person beispielsweise in zwei Fällen die wenigsten Punkte, bei einer Klausur aber auch die höchste Note.
Bewertung juristischer Klausuren nicht objektiv
"Die Ergebnisse zeigen, dass die vorliegend gemessenen Bewertungen in sehr geringem Maß objektiv sind, sondern vielmehr von der korrigierenden Person abhängen", so Hufeld in seinem Aufsatz in der Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft (ZDRW).
Zwar beriefen sich die Landesgesetzgeber und die Justizprüfungsämter auf die Chancengleichheit. Dass jedoch das Prüfungssystem selbst ein Problem für die Chancengleichheit sein könnte, werde nicht in Betracht gezogen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hänge der Erfolg in Klausuren von Faktoren wie der individuellen Begabung, dem persönlichen Lerneifer und der Intensität der Vorbereitung ab (etwa Beschl. v. 30.6.2015, Az. 6 B 11/15). Nach den Erkenntnissen dieses Versuchs muss laut Hufeld jedoch auch die korrigierende Person mit in die Aufzählung aufgenommen werden.
Als Ursache für die große durchschnittliche Notendifferenz nennt Hufeld zwei entscheidende Faktoren: Zum einen die Unklarheit über den Prüfungsgegenstand ("Was bedeutet juristisches Können?") und zum anderen, die Unklarheit über den Prüfungsmaßstab ("Welcher Klausurinhalt ist 'vollbefriedigend', welcher 'ausreichend' etc.?"). Den Wettstreit verschiedener Meinungen lässt Hufeld dabei nicht als Ausrede gelten: "Ein Argument, nach dem zu einer juristischen Leistung zwingend verschiedene Meinungen bestehen und daher auch eine Klausur unterschiedlich bewertet wird, mag der Realität entsprechen, lässt ein Prüfungssystem aber als undurchsichtig und unfair dastehen."
Ohne Forschung nur "Stochern im Nebel"
Trotzdem nennt Hufeld die Bewertungen nicht "willkürlich" und bezeichnet den Ruf nach einer Veränderung des Prüfungssystems als "verfrüht". Zunächst müssten die Ergebnisse in anderen Rechtsgebieten, Abschnitten des Studiums sowie Arten der Korrekturen wiederholt werden. Daneben könnte an den Universitäten beispielsweise auch mit alternativen Klausurformen (z.B. multiple-choice) experimentiert werden.
Das Problem: Bisher gibt es in Deutschland hierzu überhaupt keine empirische Forschung. Eine Studie mehrerer Wissenschaftler zeigt, dass Geschlecht, Fakultät, Anzahl der Probeklausuren, der Examenstermin und der Migrationshintergrund eine signifikante Auswirkung auf die Examensnote haben können. Das jetzige juristische Prüfungssystem besteht unhinterfragt seit über 200 Jahren.
"Ohne die wissenschaftliche Untermauerung mit Daten zur aktuellen Prüfungsform und alternativen Prüfsystemen, wäre jede politische Entscheidung ein Stochern im Nebel auf Kosten der Studierenden und der Rechtsstaatlichkeit", schreibt Hufeld. Aufgrund der hohen praktischen Relevanz des Staatsexamens sei die erste Priorität festzustellen, inwieweit die Ergebnisse auf Ebene des Staatsexamens bestätigt werden können.
Und jetzt? "Wenn es also der Anspruch des juristischen Prüfungssystems ist, die verfassungsrechtlich aufgetragene Chancengleichheit zu gewährleisten, sollte den Ergebnissen dieser Studie weiter nachgegangen werden", betont Hufeld.
Nachzulesen in: Hufeld, ZDRW 1/2024, 59-83.
Jannina Schäffer ist Gründerin und Chefredakteurin des Online Magazins "JURios – kuriose Rechtsnachrichten". Die Volljuristin promoviert berufsbegleitend an der Deutschen Hochschule der Polizei.
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