Umfrage an der Uni Tübingen

Jura­stu­die­rende finden die Justiz zu lasch

Gastbeitrag von Stefanie WeberLesedauer: 5 Minuten

Professor Jörg Kinzig fragt seine Studierenden regelmäßig nach ihrer Meinung zu kriminalpolitischen Fragen rund um Strafe und Justiz. Die teils strengen Ansichten der angehenden Juristen überraschen. Von Stefanie Weber.

Seit zehn Jahren befragt Prof. Dr. Jörg Kinzig, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Strafrecht und Sanktionenrecht der Universität Tübingen und Direktor des Instituts für Kriminologie, im Rahmen seiner Vorlesung seine Jurastudierenden. Es geht darin um ihre politische Einstellung, den Sinn und die Angemessenheit von Strafe sowie die Arbeit der Justiz. Im Sommersemester 2024 haben 181 Studierende des zweiten und dritten Semesters an der anonymen Umfrage teilgenommen.

Im Vergleich mit der bundesweiten aktuellen Sonntagsfrage würden die Jurastudierenden demnach häufiger die Grünen und die FDP wählen, aber seltener die AfD, wo nur drei Prozent ihr Kreuz machen würden. Auch die CDU/CSU sowie die Linke würden weniger Jurastudierende wählen, die SPD wählen sie hingegen genauso häufig wie der bundesweite Durchschnitt.

Im folgenden Teil der Umfrage geht es dann um Fragen der Kriminalpolitik.

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Kein großes Vertrauen in die Gerichte

In einigen der Antworten lassen die Studierenden einen Mangel an Vertrauen in die Justiz erahnen. Etwa die Aussage "Vor den Strafgerichten profitiert der, der sich teure Anwälte leisten kann" wird in der Tendenz eher bejaht, als dass sie abgelehnt wird. Dem Grundsatz, dass vor den Gerichten alle gleich sind, wird im Schnitt lediglich mit "teils/teils" zugestimmt.

Etwas mehr als die Hälfte der Studierenden (51 Prozent) befürwortet die Forderung, dass die Strafmündigkeitsgrenze von Jugendlichen in Deutschland von 14 auf zwölf Jahre herabgesetzt werden sollte. Dabei liegt in kaum einem europäischen Land die Strafmündigkeit bei unter 14 Jahren.  

Sie fordern auch ein härteres Strafrecht, wenn es um die Schaffung eines Straftatbestandes "Catcalling" geht. Hier unterscheiden sich die Antworten der weiblichen und männlichen Befragten besonders. Die Neueinführung dieses Delikts wird auf einer Skala von 1 (= unwichtig) bis 5 (= sehr wichtig) von den weiblichen Befragten im Schnitt mit einer 4,1, von den männlichen Befragten mit einer 3,3 bewertet.

Zu lasche Justiz

Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern ist auch bei Fragen bezüglich der Haftbedingungen erkennbar. Die Forderung, dass Strafgefangene aus Sicherheitsgründen weder Urlaub noch Freigang erhalten sollten, findet bei männlichen Befragten etwas weniger Anklang als bei den weiblichen.  

Auch andere Fragen beantworten die Studierenden mit einer gewissen Strenge. Auf einer Skala von 1 (= stimme nicht zu) bis 5 (= stimme voll zu) bewerteten sie die Aussage, dass Strafgefangene in der Regel viel zu früh entlassen werden, mit einer 3,1. Dass Resozialisierung die Gesellschaft etwas kosten darf, wird häufiger mit "teils/teils" als mit Zustimmung beantwortet. Die Strenge der Justiz bewerten die Befragten von 1 (= zu lasch) und 5 (= zu streng) im Schnitt mit einer 2,5.  

Die angehenden Juristen befragt Kinzig auch nach ihrer Einstellung zur Folter. Einige lehnen die Möglichkeit, Folter zur Abwehr schwerster Gefahren für die Allgemeinheit einzusetzen, nicht grundsätzlich ab. Auf einer Skala von 1 (= trifft nicht zu) bis 5 (= trifft zu) ergibt der Schnitt der Befragten eine 2,9.

Eindeutiger reagieren die Studierenden in Sachen Todesstrafe. Auf die Frage, ob diese abgeschafft bleiben solle, antworten sie seit Jahren gleichbleibend zustimmend. Auch eine Einführung als mögliche Sanktion nur bei besonders schweren Delikten lehnen die Studierenden eher ab.  

In der Umfrage geht es auch um den Sinn und Zweck von Strafe. Unter verschiedenen Antwortmöglichkeiten sehen die Befragten als wichtigsten Strafzweck die Besserung des Täters. Diese Antwort wählten die weiblichen Befragten öfter, so wie auch die Option, "zur Genugtuung des Opfers beizutragen". Als am wenigsten wichtig bewerteten die Studierenden die Vergeltung der Tat als Sinne und Zweck von Strafe.  

Auch diese Antworten haben sich kaum verändert, seit Kinzig seine Studierenden befragt. Lediglich die Genugtuung des Opfers wird in den vergangenen Jahren ansteigend etwas häufiger als ein wichtiger Strafzweck bewertet.  

Mehrheit lehnt zivilen Ungehorsam bei Klimaprotesten ab

Die Umfrage greift auch aktuelle Diskussionen auf, etwa die Frage, ob ziviler Ungehorsam als Mittel des Klimaprotests legitim ist. Nur 26 Prozent der Befragten sehen das so.

Das überrascht, wenn man die Ergebnisse mit jenen anderer Umfragen vergleicht. Abweichend sind etwa die Resultate der Studie "Junges Europa" der TUI Stiftung vom Mai 2024. In der Studie werden Europäer zwischen 16 bis 26 Jahren befragt, also eine annähernd vergleichbare Altersgruppe wie die der Studierenden. Hier finden 40 Prozent der 1.052 deutschen Befragten Sitzblockaden im Rahmen von politischer Einflussnahme gerechtfertigt – eine auffällig höhere Zahl als bei den Jurastudierenden.

In Bezug auf andere Delikte sprechen sich die Studierenden allerdings für eine Entkriminalisierung aus. Etwa das sogenannte Containern (Entwendung weggeworfener Lebensmittel) sollte nach Auffassung der Befragten in Zukunft nicht mehr unter Strafe gestellt sein.  

Milde Strafen wünschen sich die Studierenden für das Fahren ohne Fahrschein. So taten es auch schon die Befragten in den vergangenen Jahren, sogar mit einer leichten Tendenz hin zur Straflosigkeit. Eine Entwicklung, die sich mit politischen Diskussionen deckt. In Köln wird inzwischen beim Schwarzfahren keine Strafanzeige mehr gestellt und bundesweit fordert Justizminister Marco Buschmann eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit.

Studierende nehmen Kriminalitätsraten verfälscht wahr

Die Studierenden sollten in der Umfrage auch die Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität der vergangenen zehn Jahre schätzen. Sie nahmen dabei an, dass die Fallzahlen von Betrug und Diebstahl zugenommen hätten, einige nahmen das auch für Mord an. Tatsächlich sind die Zahlen der registrierten genannten Delikte allerdings rückläufig. 2013 wurden 2.382.743 Diebstähle erfasst, 2023 nur noch 1.971.435. Auch Straftaten wie Wohnungseinbruch (2013 wurden 149.500 Delikte erfasst, 2023 noch 77.819) oder Autodiebstahl (37.427 zu 29.985) sind 2023 weniger häufig erfasst worden als 2013.

Woher also diese Fehleinschätzung? Sollte eine solche Entwicklung nicht zu einem gegenteiligen Gefühl führen? Auslöser der verzerrten Wahrnehmung könnte etwa eine stärkere Thematisierung von Verbrechen und Gewalt in den Medien sein.

Leider findet eine Beschäftigung mit Zahlen wie diesen im Jurastudium nicht statt, die empirische Wissenschaft der Kriminologie ist höchstens ein Wahlfach. Es fehlt im Jurastudium an Platz, in Ruhe über die Wirkung und Folgen von Strafe und ihre Grenzen nachzudenken.

Die Autorin Stefanie Weber studiert Rechtswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

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