Kay Nehm: Sicherungsverwahrung

Sicherungsverwahrung

12.05.2010

Wohl kaum eine Materie unseres Strafrechts hat in jüngster Zeit mehr Anlass zu revisionsgerichtlicher Beanstandung gegeben als die nachträgliche Verhängung der Sicherungsverwahrung gegen Sexualstraftäter. Kay Nehm regt an, die nachträgliche Sicherungsverwahrung für gefährliche Sexualtäter neu zu regeln – und ihre Anordnung dabei für bestimmte Sexualdelikte zum Regelfall zu machen.

Die "Entlassung" in die Sicherungsverwahrung nach Vollstreckung der schuldangemessenen Strafe erscheint, nicht zuletzt im Hinblick auf deren strafähnliche Ausgestaltung, schon für sich genommen problematisch. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung durch einen Strafrichter ist jedoch bei allem Respekt vor den auf dem Spiel stehenden überragenden Gemeinschaftsinteressen nur schwer erträglich.

Ursprünglich für die Notfälle des Übergangs von DDR-Recht gedacht, fand die nachträgliche Sicherungsverwahrung infolge veränderter kriminalpolitischer Stimmungslage auf der Woge populistischer Entrüstung über Einzelfälle der Sexualdelinquenz Eingang in die allgemeine Rechtspraxis. Zwar suchte der Gesetzgeber sein schlechtes Gewissen durch verschärfte Anforderungen zu beruhigen. Gerade diese Beschränkungen begründen jedoch Zweifel an der Sinnhaftigkeit und der Rechtsstaatlichkeit der Ausnahmeregelung.

Deutsches Strafrecht: Sicherungsverwahrung ist keine Strafe

Bei der Sicherungsverwahrung handelt es sich nach deutschem Strafrecht nicht um Strafe für begangenes Unrecht, sondern um eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Sie muss bei Verurteilung wegen bestimmter schwerer Straftaten und bei Vorliegen strenger formeller Voraussetzungen angeordnet werden, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Unsicherheiten der Prognose kann der Richter durch den Vorbehalt der Unterbringung Rechnung tragen. Zudem ist sichergestellt, dass die tatrichterliche Einschätzung vor dem Übergang in die Maßregel und danach fortlaufend überprüft wird.

Die Sicherungsverwahrung kann auch nachträglich angeordnet werden, wenn vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe neue Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen und wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

Nachträgliche Anordnung: Ausnahmeregelung mit hohen Anforderungen

Im Ergebnis läuft die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf die Nachbesserung beziehungsweise Ergänzung des tatrichterlichen Urteils durch einen Strafrichter hinaus. Sie gehört somit dogmatisch zu den wenigen Ausnahmen, die, ähnlich wie die Wiederaufnahme des Verfahrens, eine Durchbrechung der Rechtskraft erlauben. Daher muss sie sich auch an den hohen Hürden messen lassen, die sich aus dem schützenswerten Vertrauen auf ein bestandskräftiges Urteil im Rechtsstaat ergeben.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach geltendem Recht erscheint jedoch weder als einzig möglicher Weg noch als geeignetes Instrument, den Schutz der Allgemeinheit angemessen zu gewährleisten.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) kommen als neue Tatsachen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder seinerzeit vom Tatrichter nicht erkannt werden konnten. Nur so sei sichergestellt, dass nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert würden.

Das negative Echo der vox populi auf diese Rechtsprechung reicht von völligem Unverständnis bis zu heller Empörung über die Freilassung gefährlicher Sexualstraftäter - nicht zu Unrecht. Zwar kann sich der BGH auf den Gesetzeswortlaut und die Entstehungsgeschichte stützen, die richtige Auslegung eines falschen Gesetzes macht die Sache indessen nicht besser. Erweist sich nämlich ein Verurteilter im Sinne der abgeurteilten Anlasstat als derart gefährlich, dass seine anstehende Entlassung nicht zu verantworten ist, darf der Schutz der Allgemeinheit ebenso wie der Schutz des Straftäters vor sich selbst nicht davon abhängen, ob der Tatrichter diese Umstände seinerzeit erkannt und verworfen hat oder ob er sie zumindest hätte erkennen können. Die Allgemeinheit hat einen Anspruch auf Sicherung auch und gerade dann, wenn dem Tatrichter Fehler unterlaufen sind.

Die Diskrepanz zwischen der notstandsartigen Rechtfertigung der Rechtskraftdurchbrechung einerseits und der selektiven Beachtung staatlicher Schutzpflichten andererseits nimmt dem Gesetz nicht nur die Legitimation. Die Entscheidung in zeitlicher Nähe zur Beendigung der Strafvollstreckung berührt auch das Gebot des fairen Verfahrens und, sofern die Strafe vor der Gesetzesänderung verhängt worden ist, das Rückwirkungsverbot.

EGMR: Sicherungsverwahrung ist Strafe, Rückwirkungsverbot in "Altfällen" verletzt

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die tatbestandliche Rückanknüpfung wegen ihres engen, auf besondere Ausnahmefälle begrenzten Anwendungsbereiches bislang unbeanstandet gelassen. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Dezember vergangenen Jahres die Sicherungsverwahrung nach dem deutschen Strafgesetzbuch als "Strafe" im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingestuft (Urt. v. 17.12.2009, Az. 19359/04). Sie sei gegen den Beschwerdeführer nachträglich nach einem Gesetz verhängt worden, das erst in Kraft getreten sei, nachdem der Beschwerdeführer seine Straftat begangen habe.

Es liegt auf der Hand, dass dieses Urteil, obgleich in einem Fall nachträglich verlängerter Unterbringungsdauer ergangen, auch die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als solche in Frage stellt.

Der Versuch, das Urteil korrigieren zu lassen, ist am vergangenen Dienstag gescheitert. Der EGMR hat die Verweisung an die Große Kammer abgelehnt; die Entscheidung ist rechtskräftig. Damit obliegt es nun der Bundesregierung im Zusammenwirken mit den Ländern, dem Paradigmenwechsel Rechnung zu tragen.

Das Gesetzgebungsverfahren sollte Anlass geben, den bisherigen, fadenscheinig gewordenen Flickenteppich der Sicherungsverwahrung für gefährliche Sexualtäter nicht nur auszubessern, sondern rundum zu erneuern. Wie könnte das geschehen?

Mögliche Modifikationen: Prävention auf Länderebene

Denkbar wäre, zumindest hinsichtlich schwerer Sexualdelikte, ein deutlicher Paradigmenwechsel von der Repression zur Prävention. Das Bundesverfassungsgericht hat eine landesrechtliche Regelung der Materie seinerzeit nur deshalb verworfen, weil den Ländern für eine Anknüpfung an die Anlasstat - also für eine strafrechtliche Lösung - die Gesetzgebungskompetenz gefehlt hat. Dies stünde einer zumindest vorübergehenden Lösung des Problems auf dem Wege des landesrechtlichen Unterbringungsrechts aber nicht entgegen.

… und die Sicherungsverwahrung als Regelkonsequenz bestimmter Sexualdelikte

Im Zuständigkeitsbereich des Bundes wäre die strafrichterliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Sexualtäter systemgerecht zu modifizieren. So könnte der Gesetzgeber die Anordnung der Sicherungsverwahrung für bestimmte Sexualdelikte mit hoher Gefährlichkeit und hoher Rückfallwahrscheinlichkeit als Regelfall einer obligatorischen Maßregel einstufen. Dies hätte zur Folge, dass die abstrakte, nach dem begangenen Sexualdelikt anzunehmende Gefährlichkeit im Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft am Maßstab des Vollzugsverhaltens zu überprüfen wäre, ohne dass wichtige Fakten kraft Gesetzes ausgeblendet bleiben müssten. Dann wüsste auch der Verurteilte, woran er ist. Die drohende Sicherungsverwahrung wäre ihm ständige Mahnung, aktiv an der Verwirklichung des Vollzugsziels mitzuarbeiten.

Wie auch immer die Lösung dieses drängenden Problems aussehen mag, Bund und Länder bleiben, nicht zuletzt in der Gestaltung des Übergangs in ein neues Recht, zur Kooperation verpflichtet.

Der Autor Kay Nehm ist ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und Generalbundesanwalt a.D.

 

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Zitiervorschlag

Kay Nehm: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/389 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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