Der EuGH verhandelt darüber, ob ein EU-Haftbefehl aus Polen noch verpflichtend sein kann. Das LG Berlin erklärt Negativzinsen auf Girokonten für unzulässig. In Russland droht der NGO Memorial das gerichtliche Aus.
Thema des Tages
EuGH – EU-Haftbefehl/Polen: Der Europäische Gerichtshof verhandelt am heutigen Dienstag über die Frage "ob ein EU-Haftbefehl für Polen noch Gültigkeit beanspruchen kann, wenn das rechtliche Fundament zusehends erodiert" und Skepsis an der Gesetzmäßigkeit polnischer Gerichte besteht. Anlass ist das Vorabentscheidungsersuchen eines niederländischen Gerichts, das den EuGH mit der Frage angerufen hatte, ob ein durch ein polnisches Gericht verurteilter Straftäter nach Polen ausgeliefert werden dürfe. Im Jahr 2017 hatte der EuGH in einer ähnlichen Konstellation entschieden, dass "systemische Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz" noch nicht ausreichen, um eine Auslieferung zu verhindern. Vielmehr müsse im Einzelfall geprüft werden, ob eine echte Gefahr bestehe, dass der mutmaßliche Straftäter vor einem rechtsstaatswidrig besetzten Gericht lande. Da die Zahl der mit unabhängigen Richte:innen besetzten Spruchkörper inzwischen weiter abgenommen hat, könnte die Entscheidung des EuGH diesmal anders ausfallen. Es berichtet die SZ (Wolfgang Janisch).
Rechtspolitik
Corona – Impfpflicht: Rechtsprofessor Uwe Volkmann hält im Verfassungsblog eine allgemeine Impfpflicht für verfassungsrechtlich vertretbar, einen neuen Lockdown für alle hingegen nicht. Auch Reinhard Müller (FAZ) befürwortet eine Impfpflicht, sie müsse dann aber auch richtig kontrolliert und bei Nichteinhaltung sanktioniert werden. Der Jurastudent Manuel Beh stellt auf FAZ-Einspruch fest, dass Solidarität ein dem Grundgesetz inhärentes Prinzip ist, auf das sich jedoch nicht nur Ungeimpfte, sondern vielmehr auch Geimpfte berufen sollten und dürften.
Corona – Infektionsschutzgesetz: Über die Nachbesserung des Ampel-Gesetzentwurfs zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes berichten nun auch FAZ (Helene Bubrowski/Eckart Lohse), taz (Christian Rath), LTO, zeit.de und Hbl (Heike Anger/Dietmar Neuerer/Frank Specht). So sollen die Länder auch weiterhin Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum anordnen können. Eine Öffnungsklausel, die den Landtagen ermöglicht eine "Art epidemische Lage auf Landesebene festzustellen", soll erhalten bleiben, aber nicht mehr Zugriff auf den ganzen Instrumentenkasten von § 28a Abs. 1 IfSG eröffnen. Direkt im Bundesgesetz wird 3G in Bahnen und am Arbeitsplatz eingeführt. Dabei sollen Arbeitgeber:innen den Impfstatus ihrer Arbeitnehmer:innen erfragen dürfen. Für Pflegeheime, Gefängnisse und ähnliche Einrichtungen wird eine strenge Testpflicht für Beschäftigte und Besucher:innen eingeführt. Die Nachjustierung des Entwurfs beruhe auf der "massiven Kritik aus den Bundesländern und von medizinischen Experten", sei aber aus Sicht vieler Politiker:innen sowie der Arbeitgebervereinigung noch immer zu unklar. Das Gesetz soll am Donnerstag im Bundestag beschlossen werden.
Behinderte: Am kommenden Freitag wird der Gemeinsame Bundesausschuss eine Richtlinie veröffentlichen, mit der das im vergangenen Jahr beschlossene Intensiv- und Rehabilitationsgesetz umgesetzt werden soll. Welche Befürchtungen Menschen, die intensivpflegerisch zu Hause betreut werden, bei der Umsetzung dieses Gesetzes haben und wie die Betreuung in Zukunft ausgestaltet sein soll, fasst die FAZ (Britta Beeger) ausführlich zusammen. Laut Einschätzung von Expert:innen werde die häusliche Versorgung von beeinträchtigten Personen immer komplizierter.
Geldwäsche: Auf dem Handelsblatt-Rechtsboard stellen die Rechtsanwälte Felix Link und Michael Josef Braun die Entwürfe der EU-Kommission für eine EU-Geldwäscheverordnung ("GwVO") und einer 6. Geldwäscherichtlinie ("6.GwRL") vor, die ggf. bis 2024 umgesetzt werden sollen. Vorgesehen sei darin die Einführung einer EU-Agentur zur Bekämpfung von Geldwäsche.
Chatkontrolle: Die Innenminister:innen der EU-Staaten begrüßen die Pläne der EU-Kommission zur Einführung einer Chatkontrolle, bei der Dateien auf Endgeräten von Bürger:innen noch vor der Versendung über einen Messenger durchsucht werden können. Die Probleme und Fragen, die mit diesem umstrittenen Überwachungsinstrument einhergehen, werden auf netzpolitik.org (Markus Reuter) dargestellt und erläutert. Zwar seien die Ziele des Gesetzes (u.a. die Bekämpfung von Kindesmissbrauch) löblich, jedoch stelle die geplante Anwendung von Überwachungstechnologie eine Gefahr für die Privatssphäre, die IT-Sicherheit, die Meinungsfreiheit und die Demokratie dar.
Justiz
LG Berlin zu Negativzinsen: Das Landgericht Berlin hat laut Informationen des Hbl entschieden, dass die Sparda-Bank Berlin keine Minuszinsen mehr auf Giro- und Tagesgeldkonto erheben darf und Verwahrentgelte zurückzahlen muss. Damit bekam die Verbraucherzentrale Bundesverband Recht, die diese Praxis der Banken für unzulässig erachtet und geklagt hatte. Sollte das Urteil durch weitere Instanzen bestätigt werden, drohen ungefähr 430 Banken und Sparkassen immense Rückzahlungen, was schon jetzt zu Unruhe bei den Geldhäusern führe, erläutert das Hbl (Elisabeth Atzler).
BGH zum Lkw-Kartell/Befangenheit: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass Richter:innen als befangen eingestuft werden können, wenn sie als Referendar:innen während ihrer Anwaltsstation in einer Kanzlei zu den entsprechenden Themen mitgearbeitet hatten. So dürfe ein Richter am LG Frankfurt, der sich als Referendar bei Hengeler Mueller mit dem Streit um das LKW-Kartell befasst hatte, nicht bei dem entsprechenden Verfahren über Schadensersatzklagen von 28 hessischen Städten gegen Mitglieder des LKW-Kartells beisitzen. Es berichtet LTO.
OLG Frankfurt/M. – 3. Börsengang der Telekom: Laut Mitteilung des Oberlandesgerichts Frankfurt soll im Anlegerprozess um den letzten von drei Börsengängen der Deutschen Telekom am kommenden Dienstag über einen Vergleichsvorschlag diskutiert werden. Für Kursverluste während dieses dritten Börsengangs verlangen circa 16.000 Kleinaktionär:innen Schadensersatz. Der Vergleichsvorschlag beinhaltet, dass die Kläger:innen "die ursprünglichen Kaufkosten voll zurück erhalten und sich Dividendenzahlungen anrechnen lassen müssen", so das Gericht. Es berichten FAZ und LTO.
LG Berlin zu Immobilien-Betrug: Das Landgericht Berlin hat im Prozess um einen Immoblien-Betrug zwei Mitglieder eines arabischstämmigen Clans sowie einen Kaufmann und einen Rechtsanwalt zu Freiheitsstrafen nicht unter drei Jahren verurteilt. Die Angeklagten hatte eine GmbH gegründet, über die sie sich illegal ein Mehrfamilienhaus im Wert von über sechs Millionen in Berlin-Friedrichshain übertragen lassen haben. Dafür haben sie Verkaufsunterlagen gefälscht und durch den Anwalt, der als Vertreter der bisherigen Eigentümer:innen auftrat, eine Grundbuchänderung zu ihren Gunsten erwirkt, wovon die tatsächlichen Eigentümer:innen aber nichts wussten. Es berichten FAZ und zeit.de. Mit den Hintergründen des Falls und damit welche Methoden kriminelle Clans nutzen, um sich zu bereichern, befasst sich die SZ (Verena Mayer).
Encrochat-Verfahren: Die Encrochat-Verfahrenswelle überlaste die Justiz, teilte der Deutsche Richterbund mit. Um die äußerst komplexen Verfahren und die Auswertung riesiger Datenmengen zu bewältigen, forderte der Richterbund mehr Personal, schreibt spiegel.de. Insgesamt wurden, nachdem die Ermittler:innen die Encrochat-Software entschlüsselt hatten, bundesweit mehr als 2700 Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Recht in der Welt
Russland – "Memorial"?: Die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands namens "Memorial", die seit Jahrzehnten für das Gedenken an die stalinistischen Säuberungen der 1930er Jahre und den sowjetischen Terror kämpft, wird ihre Arbeit in Zukunft möglicherweise aufgeben müssen. Der russische Generalstaatsanwalt habe vor dem Obersten Gericht Russlands die Liquidierung der Organisation verlangt, die wie viele andere kritische Organisationen auf der vom Justizministerium geführten Liste "ausländischer Agenten" stehe, so die taz (Inna Hartwich). Der Organisation wird vorgeworfen, wiederholt gegen Auflagen verstoßen zu haben.
Myanmar – verurteilter Journalist: Der in Myanmar inhaftierte und erst vor wenigen Tagen zu elf Jahren Haft verurteilte US-Journalist Danny Fenster wurde begnadigt und freigelassen. Die Anklage gegen den 37-Jährigen, der erneut wegen Aufruhr und Terrorismus vor Gericht erscheinen sollte, sei nach Einschätzung von Dritten voller falscher Fakten gewesen. Grund für die Freilassung seien aber die Vermittlungen des ehemaligen US-Diplomaten Bill Richardson mit dem Militärjunta-Chef Min Aung Hlaing in Mayanmar gewesen. Es berichten taz (Sven Hansen), SZ und zeit.de (Max Skowronek).
USA – Supreme Court und VW-Dieselgate: In den USA hat der Supreme Court die VW-Anträge zur Überprüfung von zwei noch ausstehenden Verfahren im sog. "Dieselgate"-Skandal ohne Begründung abgelehnt. VW war wegen der Manipulation der Abgaswerte von Dieselautos bereits zu Straf- und Kompensationszahlungen in den USA verurteilt worden, wobei nun aber Staaten wie Ohio und Landkreise Floridas und Utahs in zusätzlichen Verfahren mehr Geld von VW fordern. Die FAZ berichtet.
USA – Massenpanik beim "Astroworld": Gegen Travis Scott, Rapper und Gründer des Festivals "Astroworld", sowie den Konzertveranstalter Live Nation wurden über 100 Klagen eingereicht, nachdem bei dem Festival in Houston nach Ausbruch einer Massenpanik zehn Menschen gestorben waren. Scott werde vorgeworfen, zusammen mit dem Rapper Drake die Show ohne Unterbrechung fortgeführt zu haben, obwohl die "Panik direkt vor ihren Augen" entstanden sei. Zweifelhaft sei, wie unabhängig die Polizei den Fall ermitteln wird, da Scott gute Beziehungen zu lokalen Polizist:innen hat, wie SZ (Jürgen Schmieder) ausführt.
Sonstiges
Antisemitismus: Die SZ (Ronen Steinke) setzt sich mit der staatlichen Reaktion auf Antisemitismus in Deutschland auseinander. Sinnbildlich sei, dass am 12. Mai 2021 "dutzende Polizisten" bei einem FC Schalke 04-Fussballspiel im leeren Stadion anwesend waren, während die Polizei zeitgleich in Gelsenkirchen, wo Pro-Palästina-Demonstrant:innen vor einer Synagoge antisemitische Parolen skandierten, vollständig unterbesetzt war. Solche Geschehnisse, bei denen der deutsche Staat nicht hinreichend gegen Judenhass einschreite, seien bundesweit kein Einzelfall. Der Autor lobt jedoch die Aufarbeitung in Gelsenkirchen und die Versuche, die Täter doch noch vor Gericht zu bekommen.
50+1-Regel: Die Deutsche Fußball-Liga hat die kartellrechtlichen Bedenken des Bundeskartellamtes an den Ausnahmen der 50+1 Regel mit einer Stellungnahme zurückgewiesen. Die 50+1 Regel bestimmt, dass es Kapitalanlegern nicht möglich sein soll, "die Stimmmehrheit bei Kapitalgesellschaften zu übernehmen, in die Fußballvereine ihre Profimannschaften ausgegliedert haben". Das soll die Ausgeglichenheit des Wettbewerbs stärken und die Vereinswerte "prägen". Über die Stellungnahme und die Reaktionen von Sport- und Wettberwerbsrechtlern berichtet Hasso Suliak (LTO).
Bitcoins als Insolvenzmasse: Mit der Frage wie insolvenzrechtlich und zivilprozessual vorgegangen wird, wenn Währungstoken und Kryptowertpapiere wie Bitcoins Teil einer Insolvenzmasse darstellen, befasst sich das Hbl (Heike Anger). Obwohl seit 2020 im Kreditwesengesetz festgelegt wurde, wie "Kryptowerte" genau zu definieren sind, gebe es dennoch Diskussionen über das Erfordernis, dass die Kryptowerte im Rahmen eines Insolvenzverfahrens übertragbar sein müssen. Die Arbeit von Insolvenzverwaltern werde deshalb immer komplexer.
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lto/mr
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Die juristische Presseschau vom 16. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46656 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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