Bundesjustizministerin Lambrecht (SPD) hält Freiheiten nur für Geimpfte und Genesene für verfassungswidrig. Italien soll über die Legalisierung der Suizidhilfe abstimmen. Ex-BND-Chef Schindler wird für seine Kritik am BVerfG angegangen.
Thema des Tages
Lambrecht im Interview: In der WamS (Thorsten Jungholt/Jacques Schuster) findet sich ein Interview mit Justizministerin Christine Lambrecht u.a. zur Corona- und Familienpolitik. Dabei äußert sie Bedenken, den Zugang zum öffentlichen Raum für nichtgeimpfte Personen nach dem Prinzip "2G" (geimpft oder genesen) zu beschränken. "Ich sehe nicht, wie man eine derart schwerwiegende Beschränkung mit dem Infektionsschutz rechtfertigen könnte." Auch einen neuen Lockdown könne sie sich nicht vorstellen; er ließe sich nicht rechtfertigen, wenn ein großer Teil der Bevölkerung geimpft sei. Hinsichtlich der gescheiterten Reform des Abstammungsrechts, um lesbischen Frauen die gemeinsame Mutterschaft zu ermöglichen, zeigt sie sich "traurig": Die Union habe sich hier aus ideologischen Gründen dem Kindeswohl verweigert.
Rechtspolitik
DAV – Rechtspolitik: Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat die Agenda der Anwaltschaft für die nach der Bundestagswahl anstehenden Koalitionsverhandlungen vorgelegt. Darin wird unter dem Stichwort "Zugang zum Recht" u.a. eine mit digitaler Infrastruktur ausgestattete Justiz gefordert und auf die rechtsstaatliche Funktion der Anwaltschaft hingewiesen. Es berichtet LTO.
Corona – epidemische Lage: Wie die Mo-taz (Christian Rath) berichtet, wird der Bundestag in einer Sondersitzung am Mittwoch voraussichtlich das Fortbestehen der "epidemischen Lage nationaler Tragweite" für weitere drei Monate beschließen. Der Beschluss ermöglicht insbesondere den Bundesländern, Maßnahmen gegen die vierte Coronawelle auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes aufrechtzuerhalten und neue einzuführen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, kritisiert die geplante Fortgeltung in der Mo-Welt. Da inzwischen keine Überlastung der Intensivstationen mehr drohe, entfalle die Rechtfertigung für den "Gesundheitsnotstand". Dieser entmachte vielmehr das Parlament zugunsten der Bundesregierung, welche aus eigener Macht heraus u.a. Fragen der Gesundheitsversorgung oder der Versorgung mit Arzneimitteln regeln könne, für die sie ansonsten ein Parlamentsgesetz benötige.
Bundessicherheitsrat: Den Vorschlag des Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU) zur Schaffung eines neuen "Bundessicherheitsrats" zur Bündelung und Bewertung von Wissen der Nachrichtendienste bespricht Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz auf dem Verfassungsblog. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestünden keine unüberwindbaren Hindernisse. Eine derartige Behörde könne etwa auf Grundlage von Artikel 87 Absatz 3 Grundgesetz geschaffen werden. Über Verwaltungsreformen zu diskutieren, sei jedoch müßig, wenn es – wie beim "Afghanistan-Debakel" – um Konsequenzen aus politischem Versagen gehe.
Geldwäsche: Die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) hat dem Bund unter Berufung auf Zahlen ihres Ministeriums vorgeworfen, dass die Spezialeinheit des Zolls FIU bei der Aufklärung von Geldwäsche nicht genug Fälle an die Polizei zur Ermittlung abgegeben habe. Dabei sei die Zahl der durch die FIU zu filternden Verdachtsfälle, die durch Banken gemeldet worden waren, im letzten Jahr angestiegen. Es berichtet der Spiegel (Ansgar Siemens).
Telemedien-Datenschutz: In einem Gastbeitrag für die Mo-SZ kritisiert Wolfgang Lanzrath, CEO des Unternehmens "Infoline", das im Dezember in Kraft tretende "Telekommunikation-Telemedien-Datenschutzgesetz". Dieses verlange, dass jeglicher Zugriff auf das Endgerät eines Users mit Ausnahme technisch notwendiger Funktionen eine aktive Zustimmung benötige; das bisher geltende sogenannte "berechtigte Interesse" werde ab dem Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr möglich sein. Es stelle sich die Frage, wie Medienhäuser in Zukunft ihre Redaktionen bezahlen sollten, wenn keine Zustimmung des Users für personalisierte Werbung erfolgt und damit zielgerichtete Werbung nicht mehr möglich sei.
Polizeiausbildung Hessen: In einem Gastbeitrag für LTO kritisiert Rechtsprofessor Markus Ogorek, der in der Sache als unabhängiger Sachverständiger für den Innenausschuss des Hessischen Landtags tätig war, die Pläne zur Reform der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV). Diese solle in eine zu schaffende Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) eingegliedert werden. Deren Hochschulleitung solle abweichend von allgemeinen Selbstverwaltungsgrundsätzen des Hochschulgesetzes nicht durch den Senat bestimmt, sondern durch das Innenressort. Er diagnostiziert ein durch die Reform entstehendes, verfassungsrechtlich unauflösliches Spannungsverhältnis zwischen Rechts- und Fachaufsicht.
Justiz
BVerfG – IfSG/Bundesnotbremse: Bis Ende Juli sind beim Bundesverfassungsgericht insgesamt 301 Verfahren, davon viele Verfassungsbeschwerden, gegen die Maßnahmen der sogenannten Bundesnotbremse (§ 28b IfSG) zur Eindämmung von Corona-Infektionen eingegangen. Eilanträge waren erfolglos geblieben, nun will der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, nach eigener Ankündigung ohne mündliche Verhandlung, bis Herbst über die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen entscheiden. Ausführlich berichtet LTO.
BVerfG zu Steuerzinsen: Der Spiegel (Christian Reiermann) thematisiert mögliche Folgen des Steuerzinsen-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts auf Pensionsrückstellungen. Da auch hier eine Verzinsung von 6 Prozent gesetzlich festgeschrieben sei, könne es sein, dass auch dieser Zinssatz vom BVerfG als zu hoch angesehen werden könnte. Ein niedrigere Verzinsung würde den Unternehmen aber höhere Rückstellungen erlauben, was zu hohen Steuerausfällen beim Fiskus führen könne, so die Sorge im Bundesfinanzministerium.
BGH zu NSU: Die Sa-FAZ (Helene Bubrowski) analysiert die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die Revision von Beate Zschäpe gegen ihre Verurteilung als Mittäterin der NSU-Morde zu verwerfen. Für Studenten gebe es den Merksatz: Ein "Minus" bei der Tatausführung kann durch ein "Plus" bei der Tatplanung ausgeglichen werden. Ein echtes Plus Zschäpes bei der Tatplanung sei allerdings nicht belegt. Der Anwalt Ali Norouzi beobachte beim BGH schon länger "expansive Tendenzen" im Umgang mit dem Begriff der Mittäterschaft. Auch Ex-Bundesrichter Thomas Fischer schreibt auf spiegel.de über den BGH-Beschluss. "Weder die Form noch der Inhalt der Entscheidung waren eine Sensation oder auch nur überraschend." Dass man nicht "Täter" im Rechtssinn sein könne, wenn man am Tatort und/oder zum Tatzeitpunkt nicht körperlich anwesend ist, "ist eine Mär, die noch nie gestimmt hat".
BayObLG zu Corona-Maskenpflicht: beck-aktuell (Thomas C. Knierim) bespricht ein Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts von Mitte Juli zur Frage der Tätereigenschaft bei Missachtung der Maskenpflicht auf einem Wochenmarkt. Das Gericht hatte konkretisiert, wer Verkaufspersonal, Kunde oder Begleitperson im Sinne der 6. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) ist und damit bei Missachtung der Maskenpflicht zur Zahlung eines Bußgelds aufgefordert werden kann.
LAG Berlin-BB zu GDL-Tarifvertrag: Nun berichtet auch LTO über den Rechtsstreit zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer und dem Arbeitgeberverband MOVE (dem die Deutsche Bahn angehört), den die GDL zur Anwendung des Tarifvertrags mit der GDL verpflichten will. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat am vergangenen Donnerstag den Antrag auf einstweilige Anordnung zugunsten der Gewerkschaft GDL abgelehnt, da es aufgrund der in einem Monat anstehenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren die Eilbedürftigkeit nicht für gegeben sah.
VG Berlin zu Tanzverbot: Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin dürfen Tanzveranstaltungen nicht generell aus Gründen des Infektionsschutzes verboten werden, jedenfalls nicht für geimpfte und genesene Personen. Insoweit stelle dies eine unverhältnismäßige Einschränkung der Berufsfreiheit des klagenden Diskothekenbetreibers dar. Ungeimpfte und Getestete dürfen jedoch von Tanzveranstaltungen ausgeschlossen werden, da ein Test nur eine Momentaufnahme darstelle. Es berichten Sa-FAZ (Corinna Budras) und LTO (Hasso Suliak).
AG Schwelm – weglaufende Polizistinnen: Am Amtsgericht Schwelm sind zwei Polizistinnen wegen "gemeinschaftlicher versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen" angeklagt. Sie sollen weggelaufen sein, als Kollegen von einem Dealer beschossen wurden, statt den Kollegen zu helfen. Der Spiegel (Christian Parth) berichtet ausführlich.
BVerfG mit Instagram-Account: Nun berichtet auch die FAS (Harald Staun) mit ironischer Anmerkung über den neuen Instagram-Account des Bundesverfassungsgerichts. Die Mo-FAZ (Andrea Diener) bemängelt im Feuilleton die bisherigen Posts als wenig abwechslungsreich und fragt sich, "ob es sich schickt, einem Verfassungsorgan zuzurufen, dass es sich ein bisschen zusammenreißen soll, schließlich schaut die Bundeskanzlerin hin und der Bundesrat auch."
Stoizismus vor Gericht: Martin Rath ergründet auf LTO den verschiedentlich vor Gericht und in Urteilen zu beobachtenden Trend, anderen Prozessbeteiligten ein "stoisches" Verhalten zu unterstellen. Auf Grundlage einer genauen Betrachtung der philosophischen Schule der Stoa empfiehlt er, "in Justizschreibstuben und Anwaltskanzleien darauf Acht zu geben, dass im Schriftverkehr niemand als "stoisch" beschimpft wird, wenn im Diktat vielleicht noch ein "störrisch" reichte."
Recht in der Welt
Italien – Suizidhilfe/Sterbehilfe: In Italien wird es nach einer Unterschriftenaktion wohl zu einem Referendum über die Legalisierung des assistierten Suizids sowie der Tötung auf Verlangen kommen. Wie die Mo-FAZ (Matthias Rüb) berichtet, hat eine Initiative, die sich für eine Abschaffung der derzeit geltenden entsprechenden Straftatbestände einsetzt, die erforderliche Anzahl einer halben Million Unterschriften erreicht. Hintergrund ist ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichtes aus dem Jahr 2019, wonach die Suizidhilfe unter bestimmten Bedingungen nicht strafbar sein solle.
China – Datenschutzgesetz: Die wesentlichen Inhalte des im November in Kraft tretenden neuen chinesischen Datenschutzgesetzes erläutert community-beck (Dennis-Kenji Kipker). Es übertrage zahlreiche Prinzipien der europäischen Datenschutz-Grundverordnung, allerdings werde der Datenschutz in praktischer Hinsicht durch die Aufsichtsbehörden nicht immer effektiv durchgesetzt.
China – Dreikindfamilie: Wie zeit.de berichtet, hat China ein Gesetz erlassen, welches Paaren erlaubt, drei Kinder zu haben. Die jahrzehntelange strenge Einkindpolitik wurde bereits 2015 abgeschafft, jedoch seien die Geburtszahlen weiterhin rückläufig.
Sonstiges
BND: Jost Müller-Neuhof (Tsp) kritisiert eine Äußerung des ehemaligen Chefs des Bundesnachrichtendienstes Gerhard Schindler, welcher das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Mai 2020 zur Auslandsgeltung der deutschen Grundrechte dafür verantwortlich gemacht hatte, dass der BND in Afghanistan versagt hat. Das Urteil möge wie eine Kränkung gewirkt haben, da sich Spione im Auslandseinsatz traditionell "den Fesseln der Verfassung" entbunden fühlten. Dennoch müsse auch der Bundesnachrichtendienst den Respekt vor den Grundrechten wahren. Ähnlich argumentiert Ronen Steinke (Sa-SZ). "Nein, es liegt nicht am bösen Bundesverfassungsgericht, dass der Dienst gerade eine schwierige Figur macht." Dem BND habe es in Afghanistan nicht an Befugnissen gefehlt. Er müsse einfach besser werden.
Afghanistan/Ortskräfte: Auf dem Verfassungsblog erläutern die Doktorand:innen Nerges Azizi und Mohjib Rahman Atal sowie der Assistenzprofessor Stefan Salomon die rechtlichen Rahmenbedingungen des sogenannten Ortskräfteverfahrens, mit dem gefährdeten Personen, die in Afghanistan unmittelbar für deutsche Bundesressorts arbeiteten, sowie deren Familien eine Einreise nach Deutschland ermöglicht werden kann. Grundlage sei § 22 S. 2 Aufenthaltsgesetz, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die "Wahrung der politischen Interessen der Bundesrepublik" knüpfe, wozu auch außen- und sicherheitspolitische Interessen gehörten. Die Autor:innen sprechen sich dafür aus, den Kreis der potentiell Begünstigten weit zu ziehen und nicht auf diejenigen zu beschränken, die unmittelbar bei deutschen Bundesressorts angestellt waren. Denn im Gegensatz zur deutschen Bürokratie unterschieden die Taliban "wohl kaum danach, ob die Zusammenarbeit mit deutschen Behörden auf Grundlage eines unmittelbaren Anstellungsverhältnisses erfolgte oder doch nur auf Grund eines Subunternehmervertrages."
Fridolin Schley/Ernst von Weizsäcker: Im Interview mit der Mo-SZ (Marie Schmidt) spricht der Autor Fridolin Schley über sein Buch "Die Verteidigung". Es befasst sich mit dem Prozess gegen den NS-Diplomaten Ernst von Weizsäcker, der u.a. von seinem Sohn, dem späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, verteidigt worden war. Ernst von Weizsäcker war 1949 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, kam allerdings schon 1950 frei und starb ein Jahr später.
Social Media und Meinungsfreiheit: Der Rechtsanwalt Ruben A. Hofmann berichtet in einem Gastbeitrag für LTO ausführlich über die Möglichkeiten von Social Media-Plattformen wie Facebook und Instagram, Posts zu löschen oder ganze Profile zu sperren, soweit diese durch die Rechtsprechung konkretisiert wurden. So dürfe etwa eine Sperrung nicht grundlos und nur zeitlich beschränkt erfolgen.
Bayerische Datenbank für Fußballfans: Das Bayerische Landeskriminalamt hat seit Januar 2020 eine Datenbank aufgebaut, in der Informationen über Fußballfans gesammelt werden. In der Datenbank mit dem Namen "EASy Gewalttäter Sport" sollen zum Stand 15. Juni 2021 die Datensätze von 1644 Personen erfasst sein. Die Datei beruhe auf "Individualprognosen" und solle der Verhütung und Bekämpfung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten dienen. Die Beweislast zur Löschung aus der Datei liegt bei den erfassten Personen. Hierüber und über datenschutzrechtliche Bedenken berichtet der Sportteil der Sa-SZ (Thomas Gröbner).
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/cc/mps
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 21. bis 23. August: . In: Legal Tribune Online, 23.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45789 (abgerufen am: 14.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag