Der Bundesgerichtshof erklärte die Nutzungsbedingungen von Facebook für unwirksam. Wissenschaftler:innen fordern regulierte Suizidhilfe. Über ein Drittel der polnischen Richter:innen fordert die Umsetzung von EuGH-Urteilen.
Thema des Tages
BGH zu Facebook-Gemeinschaftsstandards: Der Bundesgerichtshof hat die Nutzungsbedingungen von Facebook in einer AGB-Kontrolle für unwirksam erklärt. Zwar dürfe Facebook in seinen Gemeinschaftsstandards über die Anforderungen des Strafgesetzbuches hinausgehen. Die Rechte der Nutzer:innen seien bei Facebook-Sanktionen jedoch zu schwach ausgestaltet. So müsse ein Nutzer, dessen Post als Hassrede gelöscht wird, nachträglich Gelegenheit zum Widerspruch erhalten. Soll der Account eines Nutzers gesperrt werden, müsse die Anhörung sogar vorab stattfinden. Der BGH ließ offen, ob die inhaltlichen Anforderungen der Gemeinschaftsstandards den Anforderungen der Meinungsfreiheit genügen. Bis auf weiteres kann Facebook nun keine Löschungen und Sperrungen wegen Verstoßes gegen die Gemeinschaftsstandards mehr vornehmen. Erst muss das Netzwerk seine Nutzungsbedingungen an die Vorgaben des BGH anpassen. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), LTO (Christian Rath) und tagesschau.de (Gigi Deppe).
Wolfgang Janisch (SZ) warnt davor, Facebook zu viel Freiraum für eigene Standards zu geben, weil das Unternehmen letztlich immer kommerzielle (und nicht demokratische) Interessen verfolge. Michael Hanfeld (FAZ) prognostiziert, dass Facebook "eine Menge Leute einstellen" müsse, um die BGH-Vorgaben zu erfüllen.
Rechtspolitik
Suizidhilfe: Eine 12-köpfige Arbeitsgruppe der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, zu der auch Andreas Voßkuhle, der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, gehört, hat einen Vorschlag vorgelegt, wie das vom BVerfG anerkannte Recht auf einen selbstbestimmten Tod ausgestaltet werden soll. Danach soll der Zugang zu todbringenden Medikamenten nur nach einer Beratung gewährt werden, die sicherstellt, dass die Suizidabsicht voll verantwortlich getroffen wurde und nicht Ausdruck einer psychischen Krankheit ist. Zwischen der Beratung, in die Ärzte einzubeziehen sind, und der Selbsttötung müsse ausreichend Bedenkzeit liegen. Kommerzielle Angebote der Suizidhilfe seien zu verbieten. Es berichten SZ (Christina Berndt), FAZ (Heike Schmoll) und zeit.de (Johannes Süssmann).
Corona – Testpflicht bei Reiserückkehr: Wer aus dem Ausland zurückkehrt und weder geimpft noch genesen ist, braucht ab Sonntag einen negativen Corona-Test. Nach Informationen der SZ (Nico Fried) zeichnet sich eine entsprechende Einigung in der Bundesregierung ab. Die Testpflicht solle per Rechtsverordnung eingeführt werden. Das Justizministerium hätte es allerdings bevorzugt, wenn im Infektionsschutzgesetz zunächst eine Verordnungsermächtigung geschaffen worden wäre. Hierzu wäre allerdings eine Sondersitzung des Bundestags erforderlich gewesen.
eVerkündung: Die digitale Verkündung von Gesetzen wird nicht wie ursprünglich geplant Anfang 2022 starten. Dies teilte die Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage mit, berichtet LTO.
Bitcoins: Rechtsprofessor Henning Ernst Müller (beck-community) rechnet mit einem baldigen Verbot oder zumindest einer De-Anonymisierung von Kryptowährungen wie Bitcoin. Grund ist der regelmäßige Einsatz als Lösegeld-Währung bei Erpressungen mit Ransomware.
Diskriminierung im Steuerrecht: Der Anwalt und Doktorand Jan Winterhalter stellt im JuWissBlog die These auf, dass das Ehegattensplittung und die Freibeträge im Erbschaftssteuerrecht verfassungswidrig die weiße westdeutsche Normal-Familie bevorzugen und migrantische bzw. ostdeutsche Familien benachteiligen. Die Privilegien sollten daher abgeschafft werden. Er lehnt sich an das Buch "The Whiteness of Wealth" der US-Professorin Dorothy A. Brown an.
EU-Investitionsabkommen mit China: Die FDP im Bundestag fordert eine Nachverhandlung des Investitionsabkommens der EU mit China in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Abbau von Wettbewerbsverzerrungen, Marktzugang und Menschenrechte, berichtet die SZ (Daniel Brössler). Der zugesagte Marktzugang sei wenig wert, solange es keinen Investitionsschutz-Mechanismus gebe. Unklugerweise sei dieses Thema bisher jedoch ausgeklammert worden
Justiz
BGH zum Lindt-Hasen: Der goldene Farbton der Folie, mit der der Schoko-Osterhase von Lindt eingewickelt ist, genießt Markenschutz, beschloss der Bundesgerichtshof. Die Farbe habe sich als Benutzungsmarke durchgesetzt. Mehr als die erforderlichen 50 Prozent der Verbraucher:innen verbinden die Farbe Gold mit Lindt. Nun muss das OLG München entscheiden, ob der Konkurrent Heilemann mit seinem Goldhasen die Markenrechte von Lindt verletzte. Es berichten FAZ (Corinna Budras), SZ (Kassian Stroh) und LTO.
BGH zum Hohenloher Weiderind: Das "Hohenloher Weiderind" und das "Hohenloher Landschwein" können als Kollektivmarken nach deutschem Recht auch dann geschützt werden, wenn sie nicht die strengeren Anforderungen einer "geschützten geografischen Angabe" nach EU-Recht erfüllen. Dies entschied der Bundesgercihtshof laut LTO.
BGH zum Dieselskandal/VW: VW-Käufer, die sich zumindest zeitweise der Musterfeststellungsklage des Verbraucherzentrale Bundesverbands gegen VW angeschlossen hatten, können auch noch nach der eigentlichen Verjährung der Ansprüche Ende 2018 gegen VW klagen. Die Verjährung werde bereits durch die rechtzeitige Einlegung der Musterfeststellungsklage seitens des Verbands gehemmt. Es sei auch nicht rechtsmissbräuchlich, so der BGH, sich zeitweise einer Musterfeststellungsklage anzuschließen, um mehr Zeit für die Vorbereitung einer individuellen Klage zu gewinnen. Es berichten FAZ (Corinna Budras), tagesschau.de (Kerstin Anabah) und LTO.
BGH – Flaschenpfand: Müssen die Preise für Getränke und ähnliches in Prospekten und Ettiketten inklusive Pfandbetrag angegeben werden oder muss der Warenwert plus dem Pfandbetrag genannt werden? Diese Frage hat nun der Bundesgerichtshof dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Der EuGH soll die Lage nach EU-Recht klären und zudem entscheiden, ob deutsches Recht gegegebenenfalls von EU-Recht abweichen darf. Es berichtet LTO.
BGH – Werbung durch Influencer:innen: Der Bundesgerichtshof verhandelte in den Fällen von drei Influencerinnen über die Frage, wann sie die Besprechung von Waren, die sie gekauft haben, als Werbung kennzeichnen müssen. Dabei ist vor allem relevant, ob Tap Tags, die direkt auf Firmen-Accounts verlinken, die Kennzeichnungspflicht auslösen. Die Landgerichte und Oberlandesgerichte entschieden bisher uneinheitlich. Der BGH will sein Urteil am 9. September verkünden. Es berichten LTO, zeit.de und spiegel.de.
BGH zu Cum-Ex: Volker Votsmeiter (Hbl) kommentiert das BGH-Urteil vom Mittwoch, in dem Cum-Ex-Tricksereien als strafbare Steuerhinterziehung bestätigt wurden. "Der Bundesgerichtshof beendet mit seiner Entscheidung auch eine Phase, in der die deutsche Justiz die Finanzindustrie teilweise äußerst nachsichtig behandelte." Der Autor erinnert an die "Schwarzgeldexzesse vieler Geldhäuser, die ihren Kunden aktiv dazu rieten, ihr Erspartes vor dem Fiskus zu verstecken". Die Justiz habe nach der Aufklärung der Strukturen einige Millionen Euro von den Banken kassiert, Anklagen habe es so gut wie nie gegeben. "Es war eine Art moderner Ablasshandel."
OLG Düsseldorf – Goyim-Partei: Am Oberlandesgericht Düsseldort hat der Prozess gegen drei führende Mitglieder der rechtsextremistischen "Internationalen Goyim-Partei" begonnen. Dieser Club aggressiver Judenhasser:innen hatte im Internet u.a. Aufrufe verbreitetet, Juden und Jüdinnen zu töten und Synagogen niederzubrennen. Angeklagt sind die Männer wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereingung und Volksverhetzung. Es berichtet die FAZ (Reiner Burger).
OLG Frankfurt/M. – syrischer Folter-Arzt: focus.de (Axel Spilcker) schildert Inhalte aus der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft gegen den syrischen Arzt Alaa M., der in einem syrischen Militärkrankenhaus 2012 mindestens 18 Gefangene gefoltert und einen Dissidenten getötet haben soll. Die Verteidigung spricht von einem Komplott gegen den Arzt. Der Arzt suchte bei der syrischen Botschaft um Unterstützung und möglicherweise fingierte Entlastungbeweise nach.
OVG Münster zu Dublin-Überstellungen nach Italien: Das Oberverwaltungsgericht Münster hält die Überstellung von Flüchtlingen nach Italien für ausgeschlossen, wenn diesen dort "extreme materielle Not" droht, weil sie keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und einer damit verbundenen Versorgung haben. Geklagt hatten ein in Italien anerkannter Schutzberechtigter aus Somalia und ein Asylsuchender aus Mali. Beide waren nach Deutschland weitergereist. Es berichtet zeit.de.
OLG Stuttgart – Vergütung von Kameramann: Jost Vacano, der Kameramann des Kinofilms "Das Boot", hat vor dem Oberlandesgericht Stuttgart einen Vergleich mit dem Südwestrundfunk geschlossen, dem inzwischen auch der Westdeutsche Rundfunk beigetreten ist. Vacano, der unter Berufung auf den Fairnessparagraphen des Urheberrechtsgesetzes eine Nachvergütung für seine Arbeit an dem Erfolgsfilm gefordert hatte, erhält nun zusätzliche 150.000 Euro plus Umsatzsteuer. In früheren Urteilen, die jedoch der BGH aufgehoben hatte, waren Vacano größere Summen zugesprochen worden. Es berichtet die FAZ.
VG München – BFH-Spitze: Ein Jahr nach dem Ausscheiden von Rudolf Mellinghof als Präsident des Bundesfinanzhofs sind seine Nachfolger wegen laufenden Konkurrentenklagen immer noch nicht endgültig im Amt. Das Verwaltungsgericht München hatte eine Klage gegen die Ernennung des neuen Präsidenten Hans-Josef Thesling zwar jüngst abgelehnt, die Entscheidung ist aber noch nicht rechtskräftig. Gegen die Vizepräsidentin Anke Morsch laufen noch vier Konkurrentenklagen, berichtet LTO.
Recht in der Welt
Polen – Justizreform: Rund 3600 polnische Richter:innen – mehr als ein Drittel der Richterschaft des Landes – haben mit einer Petition die Regierung aufgefordert, die Tätigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts einzustellen und damit ein entsprechendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen. Unter den Unterzeichner:innen sind auch 47 Richter:innen des Obersten Gerichts, etwa die Hälfte der dortigen Richterschaft. Es berichtet die FAZ (Gerhard Gnauck).
Italien – Justizministerin Cartabia: Die SZ (Oliver Meiler) portraitiert die parteilose italienische Justizministerin Marta Cartabia, die auch schon Präsidentin des Verfassungsgerichts war. Sie muss die chronisch langsame Justiz beschleunigen, weil sonst die EU die Milliarden aus dem Corona-Aufbaufonds nicht auszahlen will.
Sonstiges
Corona-Impfpflicht für Beschäftigte: Dass Google eine Impfpflicht für seine Mitarbeiter:innen einführt, nehmen die SZ (Helmut Martin-Jung) und das Hbl (Barbara Gillmann u.a.) zum Anlass, die Rechtslage in Deutschland zu diskutieren. Danach kann ein Arbeitgeber gar nicht oder nur in eng begrenzten Fällen von seinen Beschäftigten eine Corona-Impfung verlangen, solange diese nicht gesetzlich vorgeschrieben ist.
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lto/chr
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Die juristische Presseschau vom 30. Juli 2021: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45600 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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