Das polnische Verfassungsgericht erklärt Anwendungsvorrang des nationalen Verfassungsrechts. Ein texanisches Gericht stoppte das rigide Abtreibungsverbot vorerst. Mietervereinen wird vom OVG-NRW die Befugnis zur Verbandsklage zugestanden.
Thema des Tages
Polen – Verfassungsgericht zu EU-Recht: Nachdem die Entscheidung in den letzten Wochen mehrfach vertagt worden war, fällte das polnische Verfassungsgericht nun ein Urteil, das den vorläufigen Höhepunkt im Streit zwischen Polen und der EU markiert. "Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen (...) die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt", heißt es in der Entscheidung. Polen habe mit dem Beitritt zur EU nicht seine Souveränität an die EU abgegeben. Das Verfahren vor dem Verfassungsgericht war vom polnischen Ministerpräsident Mateusz Morawiecki angestrengt worden, um gegen ein Urteil des EuGH vom März vorzugehen, das Polen verpflichtete, Vorschriften des nationalen Verfassungsrechts außer Acht zu lassen, wenn sie gegen EU-Recht verstoßen. Damals ging es um die Regeln zur Besetzung des Obersten Gerichts Polens. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist nun zwar mündlich verkündet worden, rechtsverbindlich wird die Entscheidung nach polnischem Recht aber erst mit Veröffentlichung im polnischen Gesetzblatt, was sich in anderen heiklen Fällen auch schon monatelang verzögert hat. Es berichten SZ (Florian Hassel), FAZ (Reinhard Veser/Thomas Gutschker), LTO (Markus Sehl), focus.de und spiegel.de.
Mit dem Urteil sei klar, welchen Weg Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki beschreiten will, so Albrecht Meier (Tsp): "Der Premier steuert einen 'juristischen Polexit' an. Soll heißen: Polen bleibt zwar in der EU und kann weiterhin von den finanziellen Vorteilen der Gemeinschaft profitieren, muss sich aber nicht mehr den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg unterwerfen." Es wäre deshalb nur folgerichtig, wenn die EU-Kommission auf das Urteil des Verfassungsgerichts mit einer Sperrung der milliardenschweren Corona-Hilfen für Polen auf unbefristete Zeit reagieren würde. Florian Hassel (SZ) prognostiziert jedoch, dass als Reaktion wohl "kaum wirklich Durchgreifendes" aus Brüssel zu erwarten sei. Ein Zwangsgeld als Folge eines Vertragsverletzungsverfahrens werde Polen aus der Portokasse zahlen. Mit einer dauerhaften Verweigerung der Milliarden aus dem EU-Corona-Aufbaufonds sei nicht zu rechnen, die EU werde sich wohl "wieder mit kosmetischen Zugeständnissen zufriedengeben".
Rechtspolitik
Soziale Netzwerke: Die derzeitige rechtspolitische Diskussion um eine gesetzliche Regulierung des Internetkonzerns Facebook und anderer sozialer Netzwerke geht weiter. Laut Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) reiche es nicht aus, an das Gewissen von Konzernen zu appellieren, vielmehr brauche es in Europa "starke und wirkungsvolle Regulierungen", um der Verbreitung von Hass und Hetze im Internet entgegenzuwirken. Ähnlich äußerte sich Binnenmarktkommissar Thierry Breton, wie FAZ, Hbl (E.Fischer/C.Herwartz) und zeit.de berichten. Facebook kämpfe derweil genau gegen solche europäische Regelungen, indem das Unternehmen Geld in entsprechende Lobbykampagnen stecke.
Untersuchungshaft: EU-Justizkommissar Didier Reynders arbeitet auf gemeinsame Leitlinien und Mindeststandards für die Untersuchungshaft in den EU-Staaten hin. Diese sollen als Empfehlung des Rates beschlossen werden, berichtet die FAZ (Thomas Gutschker). Eine Empfehlung wäre zwar nicht rechtlich bindend, aber politisch. Die Kommission könnte die Umsetzung überwachen und so durch "naming and shaming" Druck ausüben. Ein Treffen der EU-Justizminister zeigte, dass vor allem Mitgliedstaaten wie Rumänien, Polen und Ungarn, deren Haftbedingungen regelmäßig gerügt werden, den Plan ablehnen. Deutschland unterstütze die EU-Kommission, lehne aber rechtlich verbindliche Lösungen ab, die die Kompetenz der Mitgliedstaaten beschneiden könnten.
Straßenverkehr: Am heutigen Freitag wird der Bundesrat der Bußgeldreform im Straßenverkehrsrecht zustimmen. Die SZ (Markus Balser) gibt einen Überblick über die geplanten verschärften Bußgelder. Der Bußgeldkatalog war bereits vor eineinhalb Jahren verschärft worden, doch nach Protesten u.a. des ADAC berief sich Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) auf einen Formfehler, worauf Bund und Länder einen neuen Kompromiss aushandelten.
Bundesverkehrswegeplan: Nach einem vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten der Anwältin Franziska Heß ist der aktuelle Bundesverkehrswegeplan verfassungswidrig, berichtet die taz (Anja Krüger). Er genüge nicht den Anforderungen des Klimaschutzes. Der BUND will aber nicht das Bundesverfassungsgericht anrufen, weil dies zu lange dauere, sondern drängt auf eine politische Neuregelung.
Justiz
OVG NRW zu Verbandsklagebefugnis für Mietervereine: Nach Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen muss das Bundesamt für Justiz einen Mieterverein in die Liste der qualifizierten Einrichtungen nach dem Unterlassungsklagengesetz eintragen. Das hat zur Folge, dass dem Verein die Befugnis zur Erhebung von Verbandsklagen im Verbraucherinteresse zukommt. Voraussetzung sei jedoch, dass der Verein Verbraucheraufklärung und Beratung in einem größerem Umfang betreibe, so LTO und deutschlandfunk.de. Laut FAZ handle es sich um ein "wegweisendes Urteil", von dem mehr als 300 örtliche Mietervereine in ganz Deutschland betroffen seien.
EGMR – Rückholung von IS-Frauen: LTO (Claudia Kornmeier) berichtet über die mündliche Verhandlung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Klage von französischen Großeltern, deren Töchter und Enkelkinder als IS-Angehörige in kurdischen Lagern in Nordsyrien festgehalten werden. Die Weigerung des französischen Staates, die Frauen zurückzuholen, stelle eine unmenschliche und entwürdigende Handlung dar und verletze damit die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Frankreich argumentierte, dass die EMRK in Syrien nicht gelte. Das Urteil werde laut LTO auch Auswirkungen auf vergleichbare deutsche Fälle haben.
BGH zu Vertragsgenerator Smartlaw: Auf dem Handelsblatt-Rechtsboard befassen sich die Rechtsanwälte Mario Profahl und Maximilian Mann mit dem im September ergangenen Smartlaw-Urteil des BGH. Der BGH hatte entschieden, dass die Legal-Tech-Anwendung Smartlaw, die mittels eines Frage-Antwort-Katalogs Vertragsdokumente erstellt, zulässig ist. Die Autoren stimmen grundsätzlich zu, jedoch könne ein Frage-Antwort-Katalog trotz vorformulierter Klauseln so granular ausgestaltet sein, "dass die individuellen Verhältnisse des Einzelfalls doch Berücksichtigung finden und eine Rechtsberatung vorliegt".
OLG Frankfurt/M. zu Steinschlag durch Mäharbeiten: Das Oberlandesgericht Frankfurt/M. sprach einem Busunternehmen Schadensersatz zu und wich damit von der Entscheidung der Vorinstanz ab. Der abgestellte Linienbus war durch einen Stein beschädigt worden, der bei Mäharbeiten direkt neben dem Bus hochgeschleudert worden war. Laut OLG hätte die Verkehrssicherungspflicht geboten, den Busfahrer von den geplanten Mäharbeiten zu unterrichten, um ihm die Möglichkeit zu geben, den Bus an einem anderen Ort zu parken. Es berichtet LTO.
LAG Hessen zu Massenentlassungsanzeige: Auf LTO erörtert der Anwalt Alexander Willemsen die Bedeutung des im Juni vom hessischen Landesarbeitsgericht gefällten Urteil zur Massentlassungsanzeige. Danach müssen Arbeitgeber vor einer geplanten Massenentlassung der Arbeitsagentur nicht nur die sogenannten Muss-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG übermitteln, sondern auch die Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Andernfalls sei die Massenentlassung unwirksam. Das Urteil führe zunächst zu Rechtsunsicherheit bei den Unternehmen. Eine Prognose, wie das Bundesarbeitsgericht über eine mögliche Revision entscheiden wird, sei schwierig, auch eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof sei nicht ausgeschlossen.
LG Braunschweig – Dieselskandal/VW-Führungskräfte: LTO zieht Bilanz über die ersten drei Verhandlungswochen im großen VW-Dieselprozess. Ohne den früheren VW-Chef Martin Winterkorn, dessen Verfahren aufgrund einer Hüft-Operation vorerst ausgesetzt wurde, sei es schwierig, Klarheit in den Fall zu bringen und die Annahme des gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs zu beweisen. Es handle sich um ein "Prozessdrama ohne Hauptdarsteller", das womöglich bis 2023 andauern werde. Ob die Abtrennung des Verfahrens der vier anderen Angeklagten sinnvoll war, sei deshalb sehr umstritten.
LG Neuruppin – KZ-Wachmann Sachsenhausen: Vor dem Landgericht Neuruppin fand der Prozessauftakt gegen den 100 Jahre alten Josef S. statt, der im KZ Sachsenausen Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen begangen haben soll. Im KZ Sachsenhausen gab es während der Jahre 1941 bis 1945 systematische Tötungen von Lagerinsassen durch Massenerschießungen in speziellen Anlagen, Vernichtungsaktionen in Gaskammern und das Sterben durch Entkräftung und Krankheiten. "Der Angeklagte unterstützte dies wissentlich und willentlich zumindest durch gewissenhafte Ausübung des Wachdienstes, die sich nahtlos in das Tötungssystem einfügte", heißt es in der verlesenen Anklageschrift. Der Angeklagte machte bis jetzt keine Aussage zu den Vorwürfen, wie SZ (Robert Probst), FAZ und spiegel.de schreiben.
Wolfgang Janisch (SZ) kommentiert im Leitartikel: "Das Jahrhundertverbrechen zu sühnen, solange es geht, ist Ausdruck des 'Nie wieder', das zur deutschen DNA gehört. Dass es nach so vielen Jahrzehnten dem Zufall überlassen ist, wer noch vor Gericht gestellt wird, nimmt diesen Verfahren nicht ihre Rechtsstaatlichkeit. Gerichte können dies durch milde, symbolische Strafen kompensieren, und sie tun dies."
LG Heidelberg zu jugendlicher Messerattacke: Vor dem Landgericht Heidelberg beginnt am 20. Oktober der Prozess gegen einen 14-jährigen Jugendlichen. Der Junge soll einen anderen Jungen in Sinsheim aus Eifersucht wegen eines Mädchens mit mehreren Messerstichen getötet haben und ist wegen Mordes angeklagt. Der Prozess findet wahrscheinlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wie spiegel.de schreibt.
GBA – IS-Rückkehrerinnen: Nachdem acht Frauen und 23 Kinder aus Syrien nach Deutschland zurückgeholt wurden, hat der Generalbundesanwalt gegen mindestens drei der Frauen Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Entziehung Minderjähriger mit Gefährdung sowie Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht erhoben. Die Frauen waren aus Deutschland nach Syrien gereist, um sich dem IS anzuschließen. Es berichten FAZ (Christoph Ehrhardt/Johannes Leithäuser/Marlene Grunert), SZ und zeit.de.
bild.de porträtiert einen Teil der betroffenen Personen und die SZ (Paul-Anton Krüger) erläutert, weshalb die Beweislage gegen zurückgeholte mutmaßlich Terrorverdächtige oft "sehr dünn" sei.
StA Dresden – Antisemitismus: Im Fall des Musikers Gil Ofarim, der am Montag im Leipziger Hotel Westin aufgefordert worden sein soll, seine Kette mit Davidstern abzulegen, wenn er einchecken wolle, versucht die Staatsanwaltschaft jetzt unbeteiligte Dritte als Zeugen zu finden und zu befragen, wie die SZ berichtet. Nach Informationen von bild.de will der Sänger nun auch Strafanzeige erstatten.
Recht in der Welt
USA – Abtreibungsgesetz Texas: Das Abtreibungsgesetz des Bundesstaats Texas wurde nun durch ein Gericht in Texas vorläufig gestoppt. Das Gesetz verbietet Abtreibungen, sobald der Herzschlag des Fötus feststellbar ist. Die republikanische Regierung von Texas hat jedoch bereits Berufung gegen das Urteil angekündigt. Es berichten FAZ, taz und LTO.
EGMR/Frankreich – Corona-Impfpflicht: Im September reichte ein französischer Feuerwehrmann Beschwerde gegen die für ihn geltende Corona-Impfpflicht ein. Er machte eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) und einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) geltend. Der EGMR forderte nun Frankreich zur Stellungnahme auf, wie LTO berichtet. Die Klage eines Mannes aus Montpellier gegen den französischen Gesundheitspass, der mit der deutschen 3G-Regelung vergleichbar ist, sei durch den EGMR bereits als formell unzulässig abgewiesen wurden.
Österreich – Kanzler Sebastian Kurz: Nachdem bekannt wurde, dass die Justiz wegen Beteiligung an Untreue und Bestechlichkeit gegen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ermittelt, kündigte dieser nun an, sich "mit allen rechtlichen und demokratischen Mitteln" gegen die Vorwürfe zu wehren. Kurz wird verdächtigt, bei der Mediengruppe Österreich im Zeitraum von 2016 bis 2018 durch Inserate des Finanzministeriums eine "wohlwollende Berichterstattung" gekauft zu haben. Es berichten taz (Ralf Leonhard), SZ (Leila Al-Serori), Hbl (Daniel Imwinkelried) und spiegel.de.
Sonstiges
Ausreise aus Afghanistan: Die Beendigung der militärischen Intervention und der Abzug deutscher Streitkräfte aus Afghanistan wirft neben politischen auch rechtliche Fragen auf. Damit befassen sich der Rechtsprofessor Thilo Marauhn und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Daniel Mengeler und Vera Strobel auf dem Verfassungsblog. Vorläufig kommen sie zu dem Fazit, die deutsche Staatsgewalt sei ihren verfassungs- und völkerrechtlichen Pflichten nicht vollumfänglich nachgekommen. Unter anderem seien zu wenig Menschen von der Bundesregierung aus Afghanistan ausgeflogen worden.
Welt-Konstitutionalismus: Auf dem Verfassungsblog beschäftigt sich Rechtsprofessor Michael Wilkinson (in englischer Sprache) mit der von Bruce Ackermann vor 25 Jahren aufgestellten Ankündigung, es stehe ein "rise of world constitutionalism" bevor. Er analysiert, ob sich diese Ankündigung als falsch herausgestellt habe und ob das als gut oder schlecht einzuordnen sei. Ferner gibt er einen historischen Überblick über die Entwicklung eines europäischen Konstitutionalismus.
Klimaschutz und Recht: Im Fokus der diesjährigen Bitburger Gespräche an der Universität Trier stand das Thema "Der Klimawandel als Herausforderung des Rechts". LTO (Franziska Kring) gibt einen Überblick über die auf der Tagung erarbeiteten Fragestellungen und Redebeiträge.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mr
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
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Die juristische Presseschau vom 8. Oktober 2021: . In: Legal Tribune Online, 08.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46261 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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