Das BVerwG hat dem kommunalen Milieuschutz-Vorkaufsrecht weitgehend die Basis entzogen. Das EuG billigt ein gegen Google verhängtes Milliarden-Bußgeld. Das BAG verpflichtet Lieferdienste, Fahrradkurier:innen Handy und Fahrrad zu stellen.
Thema des Tages
BVerwG zu Vorkaufsrecht und Milieuschutz: Nun berichten auch SZ (Jan Heidtmann), FAZ (Julia Löhr), taz (Gareth Joswig) und LTO über die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von Dienstag, die das kommunale Vorkaufsrecht im Bereich von Milieuschutzsatzungen eng auslegt. Die bloße Annahme, dass Käufer:innen von Häusern die dort wohnenden Mieter:innen in Zukunft durch exzessive Mietsteigerungen verdrängen werden, genüge nicht für die Ausübung des Vorkaufsrechts. Laut Baugesetzbuch sei das Vorkaufsrecht ausgeschlossen, wenn das Grundstück entsprechend der städtebaulichen Ziele bebaut und genutzt ist und das Gebäude keine Mängel aufweist. Damit entzog das Leipziger Gericht der in Berlin und einigen anderen deutschen Städten üblichen Vorkaufspraxis weitgehend die rechtliche Grundlage.
Mit dem Urteil hätten die Richter:innen eine "schlagkräftige Regelung entkernt" und Rechtssicherheit auch "zu Gunsten skrupelloser Immobilienkäufer" geschaffen, meint Roland Preuß (SZ). Nun müsse der Bundestag handeln und schnellstmöglich das Baugesetzbuch korrigieren. Auch Gareth Joswig (taz) äußert Unverständnis über das Urteil, vor allem weil im konkreten Fall die klagende Immobilienfirma sich explizit weigere, eine Verpflichtung auf soziale Ziele zu unterzeichnen und damit deutlich mache, niemals die Absicht zu haben, "den Wohnraum im Sinne des Milieuschutzes und damit der Mieter:innen zu bewirtschaften".
Rechtspolitik
JuMiKo – Cyberkriminalität: Die am heutigen Donnerstag und am morgigen Freitag stattfindende Justizministerkonferenz wird über einen Antrag von Bayern bereaten, wonach die Strafen für Cyberkriminalität erhöht werden sollen. Bisher könnten die Strafrahmen den Unrechtsgehalt der Taten nicht ausreichend widerspiegeln und ihre generalpräventive Funktion nicht effektiv entfalten. Wie die FAZ (Helene Bubrowski) schreibt, sollen deshalb die Strafrahmen für die Grundtatbestände wie das Ausspähen und Abfangen von Daten oder Computersabotage angehoben werden.
Corona – Impfpflicht: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte eine Corona-Impfpflicht, insbesondere für Pflegekräfte, Kindergärtner:innen und Lehrer:innen. Wie die taz (Christian Rath) erläutert, hält der Bundestag Impfpflichten rechtlich für möglich, da seit März 2020 eine Masernimpfpflicht für Kinder und bestimmte Arbeitnehmer:innen besteht. Das Bundesverfassungsgericht hat noch nicht über die anhängigen Verfassungsbeschwerden entschieden. Der Autor kommt zum Schluss, dass gegen eine Corona-Impfpflicht nicht mehr eingewandt werden kann, sie sei nicht erforderlich (und damit unverhältnismäßig), weil die Herdenimmunität auch durch Appelle und Anreize erreicht werden könne.
Justiz
EuG zu Google Shopping: Die Entscheidung der EU-Kommission, gegen Google wegen Missbrauchs seiner marktbeherrschenden Stellung ein Bußgeld in Höhe von 2,42 Milliarden Euro zu verhängen, war rechtmäßig. Das entschied das Gericht der Europäischen Union. Die Kommission hatte Google vorgeworfen, seinen eigenen Google-Preisvergleichsdienst "Google Shopping" auf der Trefferliste der Google-Suchmaschine besser platziert zu haben als konkurrierende Preisvergleichsdienste. Gegen das Urteil des Gerichts der Europäischen Union kann Google zwar noch Rechtsmittel einlegen, das Urteil sei aber bereits "richtungsweisend" für zwei weitere anhängige Verfahren zwischen der EU-Kommission und dem US-Konzern, erklärt Rechtsanwalt José A. Campos Nave gegenüber LTO. Es berichten außerdem SZ (Josef Kelnberger), FAZ (Werner Mussler), taz (Christian Rath), Hbl (Herwartz/Holtzki) und netzpolitik.org (Alexander Fanta).
Werner Mussler (FAZ) ist mit dem Urteil einverstanden. Die Verfahrensdauer von 12 Jahren hält er aber für eindeutig zu lang, um effektiv gegen marktmissbräuchliches Verhalten anzugehen. Deshalb begrüßt er, dass die Kommission durch den momentan in der gesetzgeberischen Zielgerade befindlichen "Digital Markets Act" künftig "schärfere Instrumente" gegen digitale "Türsteher" wie Google erhalte. Laut Claus Hulverscheidt (SZ) erörtert der US-Kongress angesichts der Marktmacht von Giganten wie Google oder Amazon, Konzerne ab einer bestimmten Größe zu zerschlagen. Noch besser als die Zerschlagung fände Hulverscheidt, wenn "die EU und die USA ihre industriepolitischen Konzepte radikal überarbeiteten und junge, erfolgversprechende Firmen gezielt förderten", beispielsweise durch starke Vereinfachungen des Genehmigungs- und Steuerrechts.
BAG zu Fahrradkurier:innen: Lieferdienste müssen ihren Kurierfahrer:innen ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein internetfähiges Handy zur Verfügung stellen. Damit gab das Bundesarbeitsgericht den klagenden Fahrradkurier:innen letztinstanzlich Recht, berichten die FAZ (Marcus Jung) und beck.aktuell (Joachim Jahn). Es sei Sache des Arbeitgebers, die für die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit notwendigen Betriebsmittel bereitzustellen. Vertragliche Konstellationen, bei denen Arbeitnehmer:innen die betrieblichen Mittel ohne Kompensation selbst stellen müssen, führten zu einer unangemessenen Behandlung und seien deshalb als Allgemeine Geschäftsbedingung unwirksam. Wie Rechtsprofessor Michael Fuhlrott auf LTO zudem schreibt, wird nun erwartet, dass Lieferdienste ihre Arbeitsverträge zeitnah anpassen. Da das Urteil den Lieferdiensten aber nur den kompensationslosen Verweis auf eigene Arbeitsmittel der Beschäftigten verbietet, seien pauschale Abgeltungsvereinbarung weiterhin möglich.
BVerfG – AfD-Bundestagsvize: Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über die Organklage des AfD-Abgeordneten Fabian Jacobi, der in der letzten Legislatur als einzelner Mandatsträger einen Wahlvorschlag für die Wahl eines AfD-Abgeordneten als Bundestags-Vizepräsidenten machte. Diesen Vorschlag hatte das Präsidium des Bundestags mit dem Hinweis auf die Geschäftsordnung als unzulässig abgelehnt, da das Vorschlagsrecht nur den Fraktionen zustehe. Hiergegen wandte sich Jacobi unter Verweis auf sein Abgeordnetenrecht aus Artikel 38 Grundgesetz (GG) an das Bundesverfassungsgericht. Tsp (Jost Müller-Neuhoff) und FAZ (Alexander Haneke) berichten. In dem Verfahren geht es nicht um die Frage, ob der AfD ein:e Bundestags-Vizepräsident:in zusteht.
BSG zu künstlicher Befruchtung: Die Kosten einer künstlichen Befruchtung bei lesbischen Ehepaaren müssen die Krankenkassen nicht erstatten, auch wenn Unfruchtbarkeit einer Ehegattin gegeben ist. Das entschied das Bundesozialgericht in Kassel und wies damit die Revision der lesbischen und unfruchtbaren Klägerin als unbegründet zurück, da bereits keine Ungleichbehandlung vorliege. Die Kosten für eine künstliche Befruchtung bei vorliegender Unfruchtbarkeit würden schließlich sowohl für heterosexuelle als auch für homosexuelle Paare nicht übernommen. Erstattungsfähig sei eine Kinderwunschbehandlung nur im Fall einer homologen Insemination, bei der Ei- und Samenzelle von den Ehepersonen stammen, nicht aber bei Inseminationen, bei denen zwangsläufig Samenzellen eines Dritten genutzt werden müssen, wie im Fall gleichgeschlechtlichen Ehen, berichten sz.de, spiegel.de und LTO.
LG Hamburg – Rolling-Stones-Affäre: Vor dem Landgericht Hamburg begann der Prozess gegen den ehemaligen Leiter des Bezirksamtes Hamburg-Nord, Harald Rösler. Er soll dem Veranstalter eines Rolling Stones-Konzertes rund 400.000 Euro zu wenig für die Nutzung des Stadtparks berechnet haben, weil er ein Kontigent von 400 kostenlosen Eintrittskarten zu dem Konzert erhielt. Laut spiegel.de und taz (Gernot Knödler) sind neben Rösler, dem insbesondere Bestechlichkeit und Untreue vorgeworfen werden, noch drei weitere Personen angeklagt. Darunter der frühere stellvertretende Chef des Bezirksamtes, der alle Vorwürfe zurückwies und insbesondere argumentierte, solche Kontingente seien bundesweit üblich.
LAG BaWü zu Geschäftsgeheimnissen: Im Rahmen eines Unterlassungsanspruchs wegen der unbefugten Nutzung von Geschäftsgeheimnissen durch einen Arbeitnehmer, hatte sich das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg mit der Frage zu befassen, was eine "den Umständen nach angemessene Geheimhaltungsmaßnahme" gem. Geschäftsgeheimnisgesetz ist. Dabei kam es zu dem Schluss, dass "keine optimalen" Schutzmaßnahmen erforderlich sind. Es genügten Maßnahmen, die objektiv geeignet und nicht nur zum Schein ergriffen werden. Das im vergangenen August ergangene Urteil erörtert Rechtanwältin Nicola Dienst auf dem Handelsblatt-Rechtsboard.
VG Köln zu Hambacher Forst: Das NRW-Bauministerium hatte die Stadt Kerpen angewiesen, im Rechtsstreit um die Räumung des Hambacher Forsts in Berufung zu gehen. Dies begründet das Ministerium, wie LTO jetzt schreibt, mit einem "überörtlichen Interesse" in der Sache. Das Verwaltungsgericht Köln hatte im vergangenen September festgestellt, dass die Brandschutz-Begründung, mit der die Polizei 2018 den von Klimaschutzaktivist:innen besetzen Wald geräumt hatte, nur vorgeschoben und die Räumung damit rechtswidrig gewesen sei.
Recht in der Welt
USA – Angriff auf Kapitol: Der US-Kongress darf Akten der früheren Trump-Regierung zur Erstürmung des Kapitols einsehen. Das Bundesgericht in Washington hat den Antrag des früheren Präsidenten Donald Trump abgewiesen und betont, dass die verfassungsrechtlich gesicherten parlamentarischen Kontrollrechte Vorrang vor dem Recht auf Geheimhaltung hätten. Laut FAZ (Majid Sattar), wird jedoch damit gerechnet, dass Trump noch in Berufung gehen wird.
Türkei – Orhan Pamuk: Ein Istanbuler Amtsgericht hat die Staatsanwaltschaft angewiesen, eine Anklage gegen den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wegen Beleidigung des Gründers der Republik Kemal Atatürk und der türkischen Flagge zu erstellen. Laut SZ (Moritz Baumstieger) hatte ein Anwalt aus Izmir Anzeige erstattet, weil Pamuk in einem seiner Romane eine Karikatur Atatürks gezeichnet und ihn eine Fahne mit griechischem Symbol habe schwenken lassen. Pamuk war schon 2005 wegen "öffentlicher Herabsetzung des Türkentums" angeklagt, das Verfahren aber wieder eingestellt worden.
Frankreich – Bataclan-Anschlagsserie: Vor dem Sonderschwurgericht im alten Justizpalast in Paris findet seit Anfang September der Prozess gegen die noch lebenden Attentäter des Angriffs auf die Bataclan-Konzerthalle statt. Am Mittwoch war der damalige Präsident François Hollande als Zeuge geladen, um zu schildern, wie der Einsatz der Polizei aus dem Innenministerium koordiniert worden war. Es berichtet die taz (Rudolf Balmer).
Italien – Bootsunfall: Vor einem Gericht in Brescia hat der Prozess gegen zwei Münchener begonnen, die mit einem Luxus-Motorboot auf dem Gardasee ein italienisches Paar in einem kleinen Holzboot rammten und deren Tod verursachten. Die Staatsanwaltschaft wirft den Deutschen fahrlässige Tötung und unterlassene Hilfeleistung vor. Die SZ (Elisa Britzelmeier) berichtet vor allem über den Versuch des Bootsfahrers, sich bei den Eltern der Opfer zu entschuldigen, was diese aber für viel zu spät und taktisch motiviert hielten.
Spanien – Verfassungsrichter: An diesem Donnerstag wählt aller Voraussicht nach das spanische Parlament in Madrid auf Vorschlag der konservativen Partido Popular (PP) den 64-jährigen Enrique Arnaldo ins Verfassungsgericht. Wie die taz (Reiner Wandler) berichtet, werden Arnaldo von der spanischen Presse Vetternwirtschaft, Korruption und Beeinflussung der Justiz vorgeworfen. Er soll unter anderem als Anwalt den wegen Korruption verurteilten Regionalpräsidenten Jaume Matas bei dessen Geldwäsche unterstützt haben, wurde jedoch nie dafür belangt, da die Vorwürfe zum Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens verjährt waren.
Sonstiges
Anwältin Seda Başay-Yıldız : Die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız wurde am Montag im Münchner NS-Dokumentationszentrum mit dem Georg-Elser-Preis der Stadt ausgezeichnet. Mit dem Preis würdigt die Stadt seit 2013 alle zwei Jahre "das Wirken und Handeln von Menschen mit Zivilcourage, die sich für die demokratischen Errungenschaften einsetzen". Die gebürtige Marburgerin vertrat unter anderem Opferfamilien im Prozess um die NSU-Morde und nach den Anschlägen in Hanau und steht seit einigen Jahren selbst im Fokus rechter Hetze und Gewalt, wie die SZ (Martin Bernstein) schreibt.
Medienkorruption: In einem Gastbeitrag auf LTO beschreibt Rechtsprofessor Till Zimmermann die Strafbarkeit korrupter Medienvertreter:innen. Dabei geht er sowohl auf die Rechtslage in Deutschland als auch in Österreich ein. Prominentestes Beispiel ist Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, dem die Bestechung von Medien vorgeworfen wird.
Sicherheitsbericht: In gewohnt sarkastisch-zynischer Manier befasst sich der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer auf spiegel.de mit dem dritten Periodischen Sicherheitsbericht, den die Bundesregierung Anfang November vorstellte. Der Autor empfiehlt allen, "mal zwei Stunden" im Bericht zu lesen: "Freuen Sie sich über alles, was besser wurde!"
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ali
(Hinweis für Journalist:innen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 11. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 11.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46618 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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