In einem Grundsatzurteil verweigerte das BVerwG Sterbewilligen den Zugang zu Natriumpentobarbital. Die CDU-CSU im Bundestag will ein "Sexkauf"-Verbot durchsetzen. Am LG Leipzig begann der Strafprozess gegen Sänger Gil Ofarim.
Thema des Tages
BVerwG zu Suizidmedikament: Sterbewillige haben gegenüber dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) keinen Anspruch auf die Erlaubnis zum Erwerb des tödlichen Betäubungsmittels Natriumpentobarbital. Dies entschied das Bundesverwaltungsgericht. Die Beschränkung von Ausnahmeerlaubnissen im Betäubungsmittelgesetz auf Heilungszwecke greife zwar in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ein, so das Gericht. Dies sei jedoch aufgrund des hohen Missbrauchspotentials des tödlichen Medikaments gerechtfertigt. Verhältnismäßig sei der Eingriff auch, weil es "andere zumutbare Möglichkeiten zur Verwirklichung des Sterbewunsches" gebe, insbesondere die Unterstützung durch Sterbehilfeorganisationen. Die vom Gericht 2017 entwickelte verfassungskonforme Auslegung des BtMG, wonach in "extremen Notlagen" doch ein Anspruch auf Natriumpentobarbital bestehe, spielte diesmal keine Rolle. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), tagesschau.de (Kolja Schwartz), beck-aktuell und Anne Baldauf auf LTO.
spiegel.de (Sara Wess) stellt einen der Kläger vertieft vor: Harald Mayer ist 52 Jahre alt, leidet unter Multipler Sklerose und hat die Absicht, sein Anliegen bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu tragen.
Daniel Deckers (FAZ) beklagt, dass der Gesetzgeber in einem hochsensiblen Bereich nach wie vor untätig ist und so das "Richterrecht eine vorherrschende Rolle einnimmt." Immerhin sei nun der "Sophistik" des contra legem ergangenen BVerwG-Urteils von 2017 ein Ende gesetzt worden. Die früheren Bundesgesundheitsminister könnten sich mit ihrem auf das damalige Urteil folgenden Nichtanwendungserlass bestätigt fühlen. Auch Christian Rath (LTO) bezeichnet das aktuelle Urteil in seinem Kommentar als richtig. Die Aufbewahrung des tödlichen Medikaments bei den Sterbewilligen sei zu gefährlich. Bemerkenswert sei zudem die Wertschätzung, die Sterbehilfevereine mittlerweile offenbar auch beim BVerwG genießen. Dass sie "plötzlich Teil der verantwortungsbewussten, professionellen Lösung" seien, verdankten sie nicht zuletzt dem "radikalen Urteil" des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar 2020 das Verbot geschäftsmäßiger Förderung der Sterbehilfe kassierte. An der mangelhaften Kontrolle der Sterbehilfeorganisationen stört sich Ronen Steinke (SZ). Das "extrem liberale, fast fahrlässige" deutsche Recht übersehe geflissentlich die Lebenswirklichkeit alter kranker Menschen, deren scheinbar selbstbestimmter Wunsch zu sterben oftmals eben doch äußeren Zwängen folge.
Rechtspolitik
Prostitution: Die Unionsfraktion im Bundestag hat ein Positionspapier für einen "Paradigmenwechsel in der Prostitutionsgesetzgebung" vorgestellt. Kern ist ein "Sexkaufverbot" entsprechend dem sogenannten Nordischen Modell, berichtet LTO. Auch der Betrieb von Prostitutionsstätten soll verboten werden.
Asyl: SZ (Robert Roßmann u.a.) und zeit.de (Mariam Lau) beschreiben die Entscheidungsfindung des sogenannten Bund-Länder-Migrationsgipfels. Die politischen Reaktionen auf die erzielten Einigungen fasst LTO zusammen. Über die Relevanz und rechtliche Realisierbarkeit der Maßnahmen spricht spiegel.de (Marc Röhlig/Anna Reihmann) mit Expert:innen.
In einem weiteren Beitrag geht zeit.de (Katharina Schuler) auf den Plan ein, Asylverfahren zu beschleunigen. Während die durchschnittliche Bearbeitungsdauer der beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anhängigen Verfahren in den vergangenen Jahren tatsächlich gesunken sei, bewege sich die Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren weiterhin auf einem hohen Niveau.
Politische und juristische Hindernisse des zu prüfenden Vorschlags, Asylverfahren außerhalb der EU durchzuführen, beschreiben SZ (Markus Balser u.a.) und Welt (Ricarda Breyton).
Planungsbeschleunigung: Der Bund-Länder-Gipfel hat sich auch über einen "Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung" verständigt. Durch zahlreiche neue, etwa von der FAZ (Corinna Budras u.a.) vorgestellte Regelungen sollen Vorhaben schneller umgesetzt werden können. Dabei sollen u.a. "im Einklang mit Unionsrecht" Verzögerungen durch "missbräuchliche" Klagen gegen Vorhaben vermieden werden.
Michael Bauchmüller (SZ) begrüßt die hinter dem Pakt stehende Idee, bezweifelt aber deren praktischen Nutzen. Wenn vermittelt werde, dass "Störenfriede überwunden oder eingehegt werden" müssten, führe dies zu neuen – zeitraubenden – Konflikten.
Cannabis: Die Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags zum geplanten Cannabisgesetz hat nach dem Eindruck von LTO (Hasso Suliak) wenig Überraschendes zutage gefördert. So forderten Grüne und FDP – ebenso wie die Linke – weiterhin eine "großzügig-liberale Lösung", wohingegen das von Karl Lauterbach (SPD) geleitete Gesundheitsministerium "ein stückweit auf der Bremse" stehe. CDU und AfD hätten sich dagegen in ihrer ablehnenden Haltung bestätigt gesehen. Bezüglich des Zeitplans bestehe noch keine Klarheit. So könne es sein, dass das Gesetz erst im Frühjahr in Kraft trete.
Schwarzfahren: Die SPD-Fraktion im Bundestag spricht sich in einem Positionspapier für eine Entkriminalisierung des sogenannten Schwarzfahrens aus. Die Leistungserschleichung passe nicht in die Systematik des Strafrechts, außerdem sei die Kriminalisierung unverhältnismäßig. LTO berichtet.
Parteienfinanzierung: Am morgigen Donnerstag soll der Bundestag in erster Lesung über die Reform der staatlichen Parteienfinanzierung beraten, so LTO. Die 2018 beschlossene Anhebung der staatlichen Teilfinanzierung auf 190 Mio. Euro/a war im Januar vom Bundesverfassungsgericht wegen mangelhafter Begründung beanstandet worden. Nun soll die Obergrenze rückwirkend auf 184 Mio. Euro/a. angehoben werden.
Justiz
LG Leipzig – Gil Ofarim: Am Landgericht Leipzig ist das Strafverfahren gegen den Musiker Gil Ofarim wegen Verleumdung unter regem Publikumsinteresse eröffnet worden. Der Vorsitzende Richter teilte den Anwesenden mit, dass "offener und verdeckter Antisemitismus" in allen gesellschaftlichen Schichten eine allgemeinkundige Tatsache sei und keines Beweises bedürfe. In einem ausführlichen Eröffnungsstatement äußerte die Verteidigung des Angeklagten sodann Überlegungen zum Begriff der Wahrheit und stellte Vergleiche zu Fällen sexueller Belästigung auf. Auch dort stehe häufig Aussage gegen Aussage. Eine Frau wäre bei Nichterweislichkeit der Wahrheit nicht wegen Verleumdung angeklagt worden. Im Anschluss begann die Zeugenvernehmung des betroffenen Hotelmitarbeiters, der darlegte, wie ihm der Sänger "wild gestikulierend" angedroht habe, aus Ärger über schlechten Service ein negatives Video zu veröffentlichen. Erst am Folgetag habe der auch als Nebenkläger auftretende Zeuge erfahren, dass Ofarim ihm Antisemitismus vorwarf. Die Zeugenvernehmung wird am heutigen Mittwoch fortgesetzt. Der Angeklagte will sich erst persönlich äußern, wenn ihm alle Akten vorliegen. Über die Verhandlung berichten SZ (Anette Ramelsberger), Tsp (Jost Müller-Neuhof), spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO (Linda Pfleger).
In einem separaten Kommentar schreibt Jost Müller-Neuhof (Tsp), dass der Fall "das Problem des vorschnellen Urteils" in der politischen Debatte offenlege. Die öffentlichen Meinungsäußerungen unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls hätten ohne Rücksicht auf die Unschuldsvermutung einseitig Partei genommen und damit der Glaubwürdigkeit, auf die auch der Kampf gegen Antisemitismus angewiesen ist, Schaden zugefügt.
BVerfG – Bundestags-Wahlrecht/Fünf-Prozent-Klausel: Die frühere Bundestagsabgeordnete der Linken Halina Wawzyniak stellt auf dem Verfassungsblog die Argumentation der von der NGO "Mehr Demokratie" koordinierten Verfassungsbeschwerde gegen die im Bundeswahlgesetz festgelegte 5%-Sperrklausel dar. Der Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze der Unmittelbarkeit und Gleichheit der Wahl sei nach den jüngsten Wahlrechtsänderungen (inklusive Abschaffung der Grundmandateklausel) nicht mehr zu rechtfertigen.
BVerfG zu Wiederaufnahme: Der SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel/Kolja Schwartz) greift das in der vergangenen Woche verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit von § 362 Nr. 5 StPO auf und stellt hierzu auch den zugrundeliegenden Mordfall Frederike von Möhlmann vor.
Christian Geyer (FAZ) stellt aus Anlass des Urteils im Geisteswissenschaften-Teil rechtsphilosophische Überlegungen zum "strafrechtlichen Wahrheitsverzicht" an. Dieser könne mit "Ambiguitätstoleranz" verglichen werden, der juristischen Fähigkeit, "den Doppelsinn zur Kenntnis zu nehmen und auszuhalten."
BGH zu Insolvenz-Warnpflichten von Anwälten: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ weisen die Rechtsanwälte Ludwig Weber und Thomas Dömmecke auf ein jüngst veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtshofs von Ende Juni hin, mit dem "Haftungsrisiken für Unternehmensberater erheblich erweitert" wurden. Das Gericht habe in seiner Entscheidung über Regressansprüche nach Zahlungen trotz Insolvenzreife Hinweis- und Warnpflichten für Anwälte und Steuerberater auch dann bejaht, wenn die Beratung über Insolvenzgründe überhaupt nicht zur Hauptleistung der Mandatsvereinbarung gehörte. Dies belege die Notwendigkeit weiterer Expertise in sämtlichen Fällen mit einem Insolvenzzusammenhang.
LG Köln – Thomas Drach: Über den 94. Verhandlungstag im Strafverfahren gegen Thomas Drach berichtet die FAZ (Reiner Burger). Seit Februar muss sich der frühere Reemtsma-Entführer am Landgericht Köln wegen mehrerer Raubüberfälle verantworten. Die Anklage stützt sich auf Indizien, sehe aber dennoch ihre Vorwürfe bestätigt. Die Verteidigung Drachs habe zuletzt "einige Runden Konfliktverteidigung" mit ausufernden Beweisanträge angekündigt. Deshalb sei der Abschluss des unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindenden Prozesses nicht absehbar.
ArbG Berlin zu Ex-RBB-Verwaltungsdirektor: Der FAZ (Jochen Zenthöfer) liegt das bislang unveröffentlichte, Anfang September vom Arbeitsgericht Berlin verkündete Urteil zur – erfolglosen – Kündigungsschutzklage des vormaligen RBB-Verwaltungsdirektors Hagen Brandstäter vor. Die Entscheidung übe in nie dagewesener Deutlichkeit Kritik "am öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seiner Geldverschwendung". Insbesondere über das dem Direktor gewährte Ruhegeld habe das Gericht Fassungslosigkeit geäußert. Entgegen dem ursprünglichen Sinn einer solchen Zahlung – dem Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes – sah die mit dem unterlegenen Kläger abgeschlossene Vereinbarung keinerlei Anrechnung künftigen Einkommens vor und hätte sogar dann gegolten, wenn dieser selbst gekündigt hätte.
VG Stuttgart zu Table-Dance: Ein Gaststättenbetrieb, in dem Table-Dance ebenso stattfindet wie die sogenannte "Anbahnung zur Prostitution" ist nach einem nun veröffentlichten Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart weiterhin erlaubnisfrei. Das Gegenteil hatte die beklagte Stadt unter Verweis auf das 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz behauptet und sich hierbei auch auf die räumliche Nähe des Lokals zu einem – vom gleichen Betreiber im gleichen Haus geführten – Bordell berufen. Nach den Feststellungen des Gerichts stellen die in der Gaststätte stattfindenden Anbahnungsgespräche zwischen Prostituierten und Kunden jedoch keine Prostitutionsvermittlung statt. LTO berichtet.
Recht in der Welt
USA – Trump/Immobiliengesellschaften: Über die denkwürdige Zeugenaussage des früheren US-Präsidenten Donald Trump im Verfahren über einen Betrug durch unrichtige Vermögensangaben berichten nun auch FAZ (Roland Lindner), spiegel.de (Ines Zöttl) und zeit.de (Martin Klingst). Trump habe seine Aussage als Bühne für einen kämpferischen Auftritt genutzt und durch seine weitschweifigen Ausführungen den Unwillen des Gerichts hervorgerufen.
Andreas Ross (FAZ) kommentiert, dass bislang noch "jede Anklage Trumps Kandidatur beflügelt habe." Nachdem seine Erzählungen über einen Wahlbetrug oder das Alter seines Amtsnachfolgers "keinen großen Neuigkeitswert mehr" besäßen, könne sich der mutmaßliche Präsidentschaftskandidat vor den Schranken von Gerichten als "unerschrockener Anführer" inszenieren und nutze dies in gewohnter Großspurigkeit.
USA – Todesstrafe per Stickstoff: In der vergangenen Woche entschied das Oberste Gericht des US-Bundesstaats Alabama, dass ein zum Tode Verurteilter auch per Stickstoffinhalation hingerichtet werden könne. Ein erster Vollstreckungsversuch per Giftinjektion sei zuvor gescheitert, schreibt spiegel.de (Anika Freier) und geht im Weiteren auf Details der bislang unerprpobten Hinrichtungsmethode ein. Aufgrund fehlender Erfahrungswerte könne nicht sicher gesagt werden, dass die zwangsweise Gabe reinen Stickstoffs zu einem schnellen Tode führt, wie dies Befürworter behaupten.
Italien – Airbnb: Ein italienisches Gericht hat die Beschlagnahmung von fast 780 Millionen Euro beim Zimmervermittler Airbnb angeordnet. Ein 2017 verabschiedetes Gesetz verpflichte das Unternehmen, eine Immobiliensteuer abzuführen, erläutert die FAZ (Christian Schubert). Airbnb habe versucht, diese auf die jeweiligen Wohnungsinhaber abzuwäzen, sei mit diesem Anliegen jedoch im vergangenen Dezember am Europäischen Gerichtshof unterlegen. Die Steuer sei aber weiterhin nicht abgeführt worden, weil sich Airbnb durch die Anordnung, einen im Land ansässigen Steuerbeauftragten zu benennen, in seiner Dienstleistungsfreiheit eingeschränkt gesehen habe.
Sonstiges
AfD S-A: Der sachsen-anhaltinische Verfassungsschutz stuft den Landesverband der AfD als "gesichert rechtsextremistisch" ein. Aufgrund von Auswertungen von Aussagen von Funktions- und Mandatsträgern sei die Behörde zu der Erkenntnis gelangt, dass der Landesverband bestrebt sei, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen. Die SZ (Iris Mayer) berichtet.
Michael Kunze: Aus Anlass seines bevorstehenden 80. Geburtstags bringt die FAZ (Milos Vec) in ihrem Geisteswissenschaften-Teil ein ausführliches Porträt des Rechtshistorikers Michael Kunze. Neben seiner wissenschaftlichen Karriere, die mit der Verleihung der Brüder-Grimm-Medaille der Göttinger Akademie der Wissenschaften ihren Höhepunkt fand, hat sich der Jurist auch als Texter erfolgreicher Schlager ("Griechischer Wein") und auch international renommierter Musicals einen Namen gemacht.
Das Letzte zum Schluss
Sprachpolizei: Vor der Beschäftigung mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens steht die Duma, das russische Parlament. Wie die SZ (Frank Nienhuysen) schreibt, hat die Regierungspartei Einiges Russland dort jüngst einen Gesetzentwurf eingebracht, der zum "Schutz der russischen Sprache" den Gebrauch ausländischer Wörter auf "Ladenschildern, Inschriften, Infos über Aktionen, Preisnachlässe und Ausverkäufe" untersagen will.
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LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 8. November 2023: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53104 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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