EU-Kommission stellt Vertragsverletzungsverfahren wegen EZB-Urteils des BVerfG ein. Generalanwalt hat keine Bedenken gegen EU-Finanz-Sanktionen bei Rechtsstaatsverstößen. BGH verhandelte über Revision im Fall des NSU-Helfers André Eminger.
Thema des Tages
EU-Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: Die EU-Kommission hat das gegen Deutschland eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren wegen des umstrittenen EZB-Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mai 2020 eingestellt. Die Bundesregierung habe für die Bundesrepublik förmlich erklärt, den Vorrang und die Autonomie des Unionsrechts sowie die Autorität des Europäischen Gerichtshofs anzuerkennen, dessen Urteile endgültig und verbindlich seien. Zudem habe die deutsche Regierung angekündigt, sie werde sich "dafür einsetzen", weitere Ultra-vires-Entscheidungen des BVerfG zu vermeiden. Es berichten die SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert/Werner Mussler) und LTO.
Werner Mussler (FAZ) wertet die Einstellung als klugen Rückzug, weil die EU es sich angesichts der Verfassungskonflikte mit Polen und Ungarn nicht leisten könne, "einen Grundsatzstreit mit dem größten Mitgliedstaat auf die Spitze zu treiben."
Rechtspolitik
Corona – Beschränkungen: Bund und Länder haben sich auf eine weitere, einheitliche Verschärfung der Corona-Maßnahmen geeinigt. Ungeimpfte Menschen werden nur noch in geringem Ausmaß am öffentlichen Leben teilnehmen können, weil Einzelhandel, Kultur und Gastronomie flächendeckend der 2G-Regel unterworfen werden. Zudem werden die Kontakte für Ungeimpfte auf den eigenen Haushalt sowie auf höchstens zwei Personen eines weiteren Haushaltes beschränkt. Ab einer Inzidenz von 350 müssen Clubs und Bars schließen und bei Privatveranstaltungen im Innenraum dürfen nur noch maximal 50 Personen zusammenkommen. Die Besucheranzahl bei Großveranstaltungen wird ebenfalls begrenzt und an Silvester wird es kein privates Feuerwerk geben. Es berichten u.a. die SZ (Angelika Slavik), taz (Felix Lee), deutschlandfunk.de (Gudula Geuther/Frank Capellan) und LTO.
Werner Bartens (SZ) begrüßt die "Politik mit Wumms". Endlich würden Bund und Länder zeigen, dass sie konsequent sein können. Thomas Holl (FAZ) sieht in den Maßnahmen einen tatsächlichen "Akt der nationalen Solidarität", der über Parteigrenzen hinweg geschlossen wurde. Andreas Rosenfelder (Welt) sieht das Maßnahmenpaket aufgrund des ausgebliebenen Lockdowns höchstens "als Anfang vom Ende der Endlosschleife". Um nicht immer wieder den gleichen Film zu erleben, müssten "wir manches verlernen, was wir in der Pandemie gelernt haben."
Corona – Impfpflicht: Wie spiegel.de berichtet, hat sich nun auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Rahmen der Bund-Länder-Konferenz für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Auch der designierte Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte im Interview mit der FAZ (Johannes Leithäuser/Manfred Schäfers), dass er unter dem Vorbehalt der Verfassungskonformität dazu tendiere.
Elterngeld: Die Anwält:innen Olga Morasch und Jonathan Oteng erläutern und bewerten auf LTO die seit dem 1. September geltenden Neuregelungen zum Elterngeld. Das "Reförmchen" sei zwar begrüßenswert, jedoch sehen die Autor:innen insbesondere die Umsetzbarkeit des beabsichtigten Bürokratieabbaus skeptisch.
Justiz
EuGH – EU-Rechtsstaatlichkeit und Finanzen: Der Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona hat beim Europäischen Gerichtshof beantragt, die Klagen Ungarns und Polens gegen den neuen finanziellen Rechtsstaatsmechanismus abzuweisen. Nach Sánchez-Bordona habe der neue Mechanismus eine geeignete Rechtsgrundlage und sei mit anderen Grundsätzen des EU-Rechts vereinbar. Ein Urteil wird im Januar erwartet. Es berichten die FAZ (Marlene Grunert), SZ (Björn Finke) und spiegel.de (Markus Becker).
BGH – NSU-Helfer Eminger: Der Bundesgerichtshof verhandelte über die Revision der Bundesanwaltschaft gegen den Teilfreispruch des Oberlandesgerichts München für den NSU-Helfer André Eminger. Im Kern geht es um die Frage, ob das OLG rechtsfehlerfrei annehmen durfte, dass Eminger nicht schon 2000 von den Mordtaten des im Untergrund lebenden NSU-Trios wusste, sondern erst im Jahr 2007. Die Bundesanwaltschaft bezeichnete das Münchner Urteil als "widersprüchlich und lückenhaft". Da in der Revision die Beweiswürdigung des OLG München grundsätzlich zu akzeptieren ist, sind die Erfolgsaussichten der Bundesanwaltschaft begrenzt. Die Revision Emingers, dessen Anwälte einen völligen Freispruch beantragten, spielte in der Verhandlung keine große Rolle. Es berichten SZ (Annette Ramelsberger), taz (Christian Rath), spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO. Das Urteil wird am 15. Dezember verkündet.
EuGH – Verbandsklage und Datenschutz: Verbraucherverbände sind bei Datenschutzverstößen von Unternehmen auch dann klagebefugt, wenn sie kein Mandat eines Betroffenen haben. Zu diesem Ergebnis kommt Generalanwalt Richard de la Tour in seinen Schlussanträgen. Entsprechende nationale Regelungen verstießen nicht gegen die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Es berichten FAZ, LTO, netzpolitik.de (Alexander Fanta) und spiegel.de.
EuGH zu Zahlungsgebühren: Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs dürfen Unternehmen von Kunden im elektronischen Zahlungsverkehr grundsätzlich keine Zusatzgebühr verlangen. Das Verbot gilt auch für Altverträge, die vor dem Inkrafttreten der entsprechenden Richtlinie im Januar 2018 geschlossen wurden. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.
EuGH zu Beihilfen Frankfurt-Hahn: Das Land Rheinland-Pfalz muss die dem Flughafen Hahn gewährten Beihilfen in Höhe von zehn Millionen Euro zurückfordern. Der Europäische Gerichtshof lehnte das Rechtsmittel des Landes gegen eine entsprechende Eil-Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union (EuG) ab. Das Land müsse das Hauptverfahren abwarten, so der EuGH, weil die Sache "nicht hinreichend eilbedürftig" sei. LTO berichtet.
EuGH – Artenvielfalt: Nach Ansicht der EU-Kommission unternimmt Deutschland in Sachen Arten- und Lebensraumschutz nicht genügend, weshalb die EU-Behörde wegen des Verstoßes gegen die Habitat-Richtlinie nun eine Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht hat. SZ, FAZ und spiegel.de berichten.
BVerfG zur Bundesnotbremse: Entgegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hält der Jurastudent Tristan Wißgott auf dem Verfassungsblog die Ausgangssperre der Bundesnotbremse für verfassungswidrig. Seiner Ansicht nach verbietet das Grundgesetz Eingriffe in die Freiheit der Person "durch Gesetz". Das BVerfG habe sich mit nicht überzeugenden Gründen über den Wortlaut hinweggesetzt.
BVerwG zu BND-Reichsbürger: Der Tsp (Jost Müller-Neuhof) berichtet über ein Disziplinarurteil des Bundesverwaltungsgerichts gegen einen Beamten des Bundesnachrichtendienstes (BND), der nun aus dem Dienstverhältnis entlassen wurde. Der Beamte habe bei einem persönlichen Antrag das Königreich Bayern als Geburtsort angegeben und sich somit wie ein Reichsbürger verhalten. Damit habe er die Existenz der Bundesrepublik geleugnet und seine Pflicht zur Verfassungstreue verletzt.
OLG Koblenz – Folter in Syrien: Im Prozess gegen Anwar R., einem ehemaligen Oberst des syrischen Geheimdienstes, hat die Bundesanwaltschaft vor dem Oberlandesgericht Koblenz in ihrem Plädoyer eine lebenslange Haftstrafe wegen 58-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000 Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung gefordert. Zudem soll die besondere Schwere der Schuld festgestellt werden. Das Urteil wird Anfang Januar erwartet. Es berichten die taz (Sabine am Orde) und spiegel.de.
OVG Bremen zu Flüchtlingen mit Schutzstatus: Nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bremen droht Geflüchteten in Griechenland "die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung". Daher dürften sie auch dann in Deutschland Asyl beantragen, wenn sie in Griechenland bereits den Flüchtlings-Status erhalten haben. spiegel.de berichtet.
LG Neuruppin – KZ-Wachmann Sachsenhausen: Die taz (Klaus Hillenbrand) und die Welt (Frederik Schindler) berichten von einem weiteren Prozesstag vor dem Landgericht Neuruppin gegen Josef S., dem als Mitglied einer SS-Einheit im Konzentrationslager Sachsenhausen Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen vorgeworfen wird. Der 101-jährige Angeklagte sagte aus, dass er weder Mitglied der SS noch Angehöriger der Wachmannschaften des KZ Sachsenhausen gewesen sei. In der fraglichen Zeit will er als Knecht bei Bauern gearbeitet haben.
LG Bochum – Coronatest-Betrug: Vor dem Landgericht Bochum hat der Prozess um den millionenschweren Betrug in Corona-Schnelltestzentren des Unternehmens Medican begonnen. Das Unternehmen soll zwischen März und April 980.000 Tests mehr abgerechnet haben, als es tatsächlich durchgeführt hat. Die FAZ (Reiner Burger) und bild.de (Andreas Wegener) berichten.
VG Berlin zu Informationsfreiheit und Geschäftsgeheimnissen: Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem September muss der Bund dem Transparenzportal "FragDenStaat" den weitgehend ungeschwärzten Vertrag mit dem Bundesanzeiger Verlag herausgeben, der das deutsche Bundesgesetzblatt vertreibt. 15 Jahre nach Vertragsschluss könne sich der Bund nicht pauschal auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen des Verlags berufen. LTO (Manuel Göken) berichtet.
AG Neubrandenburg – Mord an Kind Leonie: Vor dem Amtsgericht Neubrandenburg hat der Prozess gegen die Mutter der 2019 von ihrem Lebensgefährten ermordeten sechsjährigen Leonie begonnen. Der Mutter wird Tötung durch Unterlassen vorgeworfen, weil sie ihrer Tochter bei den Misshandlungen durch den inzwischen wegen Mordes verurteilten Stiefvater zu wenig beigestanden habe. Die FAZ berichtet.
GenStA München – Rechtsextremer Chat/AfD: Die Generalstaatsanwaltschaft München prüft, ob bei radikalen Äußerungen in einer Telegram-Chatgruppe von AfD-Politiker:innen Straftaten begangen wurden, wobei über gewalttätige Proteste und über einen Bürgerkrieg diskutiert worden sein soll. Ein Administrator der Gruppe ist der Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Stephan Protschka. FAZ und spiegel.de berichten.
StA Heidelberg – Sexuelle Nötigung/Polizei: Die Staatsanwaltschaft Heidelberg ermittelt gegen den Landespolizeiinspekteur von Baden-Württemberg, Andreas Renner, der ein enger Mitarbeiter von Innenminister Thomas Strobl (CDU) ist. Er soll einer deutlich rangniedrigeren Polizistin in einer Videobesprechung die Beförderung in den höheren Dienst gegen Sex angeboten haben. Die Frau hatte eine vorherige Annäherung zurückgewiesen und das Gespräch offenbar mitgeschnitten. Die taz (Benno Stieber) berichtet.
EUStA: Im Interview mit beck-aktuell (Joachim Jahn) berichtet Andrés Ritter, Vizechef der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), über die Tätigkeit der Behörde seit ihrem operativen Start im Juni. Seitdem habe es mehr als 2000 Prüffälle gegeben. Es laufe sehr gut. Die Zusammenarbeit mit den 22 beteiligten EU-Staaten sei aber unterschiedlich, am schwierigsten mit Slowenien. Ritter könnte sich eine Erweiterung der EUStA-Zuständigkeit über den Schutz der finanziellen Interessen der EU hinaus z.B. auf Umweltstrafrecht vorstellen. Die Verteilung der deutschen delegierten EUStA-Staatsanwälte auf fünf Städte sei eine Herausforderung. Mit Eurojust und OLAF gebe es keine Reibungsverluste.
Recht in der Welt
USA – Abtreibungen: Sollte der US-Supreme Court das im Urteil Roe vs. Wade geschaffene Recht auf Abtreibung aufgeben oder beschränken, würde dies politisch den US-Demokraten nutzen, spekuliert die SZ (Hubert Wetzel). Sie könnten ihre Wähler:innen dann mit dem Argument mobilisieren, dass nur eine demokratische Mehrheit für fortschrittliche Richter:innen sorgen könne. Am Mittwoch hatte der Supreme Court über das Abtreibungsgesetz von Mississippi beraten, das nach den Prinzipien von Roe vs. Wade verfassungswidrig wäre.
USA – Waffenrecht: Im FAZ-Einspruch stellt der emeritierte Rechtsprofessor Arthur Kreuzer historische und aktuelle Entwicklungen im amerikanischen Waffenrecht dar und kommt zu dem Ergebnis, dass es eine Sensation wäre, "wenn es der Biden-Regierung gelänge, Entscheidendes im Waffenrecht zu ändern."
Sonstiges
Kinderpornografie: Eine Recherche von spiegel.de (Jörg Diehl u.a.) dokumentiert ein Versagen der deutschen Behörden im Kampf gegen Missbrauchsdarstellungen im Netz. So sei z.B. nach dem medienwirksamen Abschalten der Plattform "Boystown" durch die Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. ein Großteil der Bilder und Videos wieder im Netz hochgeladen worden. Dabei gehe es nicht nur um Darknet-Plattformen, sondern auch um legale Filehoster, die auf Hinweise sofort reagieren. Es fühle sich nur niemand zuständig.
Das Letzte zum Schluss
Links ist da, wo der Daumen rechts ist: Das Landgericht im österreichischen Linz hat eine Chirurgin zu einer Geldstrafe von 2700 Euro und zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 5000 Euro verurteilt, weil sie bei einer Operation anstelle des linken Beins aus Versehen das rechte Bein amputierte. spiegel.de berichtet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/tr
(Hinweis für Journalist:innen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 3. Dezember 2021: . In: Legal Tribune Online, 03.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46824 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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