Rechtsprofessoren machen sich Gedanken zu den Konsequenzen des Urteils des polnischen Verfassungsgerichts. Was sagt das Grundgesetz zu Regierungsbildung und Ministerkompetenzen? Vor zehn Jahren enttarnte sich der NSU selbst.
Thema des Tages
EU/Polen: Mit dem am 7. Oktober verkündeten Urteil des polnischen Verfassungsgerichts habe "der Austritt Polens aus der Europäischen Union begonnen", konstatiert Rechtsprofessor Franz C. Mayer auf zeit.de. Trotz der gleichzeitigen Verlautbarungen der polnischen Regierung, tatsächlich Mitglied der EU bleiben zu wollen, befinde sich das Land "im europaverfassungsrechtlichen Niemandsland zwischen Austritt und Mitgliedschaft". Die Entscheidung verletze "die Kernidee des Vorrangs des Europarechts", die nach dem Grundsatz eines gleichen Rechts für alle keine "Unterjochungsklausel, sondern schlicht ein Fairness-, Gleichheits- und Gegenseitigkeitsversprechen" darstelle. Hiergegen begehre die Republik Polen auf, indem die Anwendung von Unionsrecht dem Vorbehalt entsprechender Interessen der Regierungspartei unterstellt werde. Obgleich eine für sie "gesichtswahrende politische Lösung" des Konflikts nicht ausgeschlossen werden könne, dürfe die Antwort "zunächst nur eine rechtliche sein". Gerade hier zeigten sich aber die Grenzen der europäischen Rechtsgemeinschaft", einer "Freiwilligkeitsgemeinschaft, die letztlich auf das Mitmachen angewiesen ist".
Rechtsprofessor Matthias Ruffert meint im NJW-Editiorial, dass "die vorhandenen finanziellen Sanktionsinstrumente" wohl der einzige Weg zur Umkehrung einer Entwicklung seien, die an "das Brexit-Jahr 2016" erinnere. Damals habe der britische Premierminister David Cameron die "immer engere Union der Völker Europas wegverhandelt".
Rechtspolitik
Regierungsbildung: Im Interview mit der SZ (Johan Schloemann) erläutert Rechtsprofessor Frank Schorkopf die weitgehend ungeregelten verfassungsrechtlichen Grundlagen der Regierungsbildung und blickt hierzu auch auf die bisherigen Koalitionsverhandlungen in der Bundesrepublik zurück. Es gebe im Grundgesetz zu Recht keine Frist für die Regierungsbildung.
Reinhard Müller (FAZ) räsoniert im Leitartikel über die Reichweite der grundgesetzlichen Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. So räume die Verfassung etwa dem Finanzminister mit einem Vetorecht zu Fragen finanzieller Bedeutung eine Sonderstellung ein, deren tatsächliche Ausübung freilich eher theoretischer Natur sei. Die Führungsstärke der scheidenden Kanzlerin habe sich auch dadurch bewiesen, "keine ihrer berühmt-berüchtigten Entscheidungen oder Kehrtwendungen … gänzlich einsam" und ohne Einbindung des Parlaments getroffen zu haben.
Corona – Impfpflicht: In einem Gastbeitrag für den Staat und Recht-Teil der FAZ spricht sich Rechtsprofessor Hans-Peter Bull für eine allgemeine Pflicht zur Corona-Schutzimpfung aus. Während geltende Einschränkungen de facto eine mittelbare Impfpflicht bewirkten, schrecke die Politik offenbar "vor der besten und einfachsten Lösung" zurück. Dies lasse befürchten, dass künftig "notwendige Maßnahmen zum Schutz von Klima und natürlichen Ressourcen" mit der gleichen Inkonsequenz angegangen werden.
Corona – Impfpass-Fälschung: Nachdem das Landgericht Osnabrück in der vergangenen Woche eine "Strafbarkeitslücke" bei der Vorlage eines gefälschten Impfausweis zur Erlangung eines von einer Apotheke auszustellenden digitalen Impfzertifikats ausgemacht hat, bemüht sich die Unionsfraktion im Bundestag um eine Schließung derselben. Die FAZ (Helene Bubrowski) berichtet, dass in der nächsten Woche ein Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht werden soll.
Chatkontrolle: Ursprünglich am 1. Dezember habe die EU-Kommission den Vorschlag für eine dauerhafte EU-Verordnung vorstellen wollen, die Anbieter von Messengern und Chatprogrammen zur Installierung einer Software verpflichtet hätte, Chats noch vor einer etwaigen Verschlüsselung automatisiert auf kinderpornographische Inhalte zu durchsuchen, schreibt die Welt (Christina Brause u.a.). Das Vorhaben sei nach massiver Kritik vorläufig auf Eis gelegt worden. Experten fürchteten, dass hier vor allem jugendliches Sexting erfasst werde, während echte Täter auf andere Übertragungswege ausweichen. Derzeit gilt eine befristete Ausnahmeregelung, die die Inhaltskontrolle erlaubt.
Justiz und Polizei in Bremen: Die Freie Hansestadt Bremen wird das Personal bei Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Landgericht deutlich ausbauen. Die temporäre Maßnahme diene der juristischen Bewältigung von Ermittlungen und Verfahren auf Grundlage von Erkenntnissen aus sichergestellten Daten von EncroChat-Nutzern und -Nutzerinnen, berichtet LTO.
Justiz
ICSID – Vattenfall: Nach Meldung der FAZ (Marcus Jung) ist das beim internationalen Schiedsgericht ICSID anhängige Verfahren zu Schadensersatzforderungen des Energieanbieters Vattenfall wegen des 2011 beschlossenen Atomausstiegs nun offiziell beendet. Das Unternehmen erhalte nach dem erzielten Vergleich wegen der früheren Abschaltung zweier Atomkraftwerke gut 1,4 Milliarden Euro vom Bund.
BVerfG – Oury Jalloh: Am Bundesverfassungsgericht ist ein Verfahren anhängig, mit dem die ablehnende Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg in einem Klageerzwingungsverfahren zum Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh angegriffen wird, schreibt die taz (Christian Jakob). Eine Initiative habe zudem nun das Gutachten eines britischen Sachverständigen vorgelegt, das nahelegt, dass der 2005 in einer Dessauer Polizeiwache verbrannte Jalloh angezündet wurde. Die Initiative will auch Strafanzeige wegen Strafvereitelung im Amt stellen.
BAG – Teilzeitbeschäftigte: In der vergangenen Woche legte das Bundesarbeitsgericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob eine tarifvertragliche Regelung, nach der Teilzeitkräften in öffentlichen Krankenhäusern erst dann ein Überstundenzuschlag zusteht, wenn sie die regelmäßige Arbeitszeit von Vollzeitkräften erreichen, gegen das Diskriminierungsverbot von Teilzeitbeschäftigten aus einer EU-Richtlinie verstößt. Rechtsanwältin Yvonne Dietzel erklärt auf LTO den zugrundeliegenden Fall und die Rechtslage. Bemerkenswert sei insbesondere, dass ein anderer Senat des BAG erst kürzlich eine vergleichbare Regelung für Beschäftigte im öffentlichen Dienst für zulässig erklärt hatte. Der EuGH müsse darüber hinaus auch klären, ob die beanstandete Regelung wegen des Geschlechterverhältnisses am Arbeitsplatz der Klägerin auch eine geschlechtsspezifische Diskriminierung darstelle.
OLG Frankfurt/M. – Warburg/Deutsche Bank: In der Berufung am Oberlandesgericht Frankfurt/M. versucht die Privatbank M.M. Warburg von der Deutschen Bank Schadensersatz wegen Cum-Ex-bedingter Steuerrückforderungen zu erlangen. In der mündlichen Verhandlung habe das OLG aber Zweifel über die Zulässigkeit einzelner Klageanträge erkennen lassen, in denen ein "Sammelsurium rechtlicher Ansprüche" gefordert werde. Die Fortsetzung der Verhandlung sei für Ende Januar geplant. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet.
OLG Stuttgart – MFK/Diesel-Daimler: Nachdem der Verbrauerzentrale Bundesverband im Juli beim Oberlandesgericht Stuttgart eine Musterfeststellungsklage wegen Diesel-Manipulationen in Daimler-Autos anhängig gemacht hat, können sich Betroffene der Klage nun durch Eintrag in das Klageregister anschließen. Über eine entsprechende Mitteilung des Bundesamts für Justiz berichtet der FAZ-Einspruch.
LAG Köln zu Schwerbehindertenvertretung: Sinkt die Zahl der in einem Betrieb tätigen schwerbehinderten Beschäftigten unter den Schwellenwert von fünf, endet damit auch die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung. Dies entschied in einem nun veröffentlichten Beschluss von Ende August das Landesarbeitsgericht Köln. Der im Betriebsverfassungsrecht verankerte Grundsatz für Betriebsräte sei auch auf die Schwerbehindertenvertretung übertragbar, so LTO zur Entscheidung.
KG Berlin – Mord an Georgier im Tiergarten: Noch mindestens bis zum Ende des Jahres verhandelt das Kammergericht Berlin über die mutmaßlich vom russischen Geheimdienst beauftragte Ermordung eines georgischen Staatsbürgers im Berliner Tiergarten. Zeugenaussagen hätten mittlerweile die Identität des Angeklagten belegt, schreibt die SZ (Ronen Steinke). Eine diplomatische Reaktion der Bundesregierung sei aber vor der Urteilsverkündung nicht zu erwarten.
LG Essen zu Sterbehilfe im Krankenhaus: Wegen Totschlags hat das Landgericht Essen einen ehemaligen Arzt des örtlichen Universitätsklinikums zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. spiegel.de berichtet, dass der Mediziner im vergangenen Herbst einem Covid-Patienten eine tödliche Dosis Kaliumchlorid verabreicht habe. Gegenüber den Angehörigen habe er angegeben, dass der Sterbeprozess bereits weit fortgeschritten sei und daraufhin ein Behandlungsende erwirkt.
VG Chemnitz zu Corona-Tests an Hochschule: Das Verwaltungsgericht Chemnitz hat den Eilantrag eines ungeimpften Studenten zur Bereitstellung kostenloser Corona-Tests durch die von ihm besuchte Hochschule verworfen. Dass die Westsächsische Hochschule Zwickau anders als andere Hochschulen im Freistaat keine kostenlosen Tests mehr anbiete, sei angesichts der herrschenden Pandemie nicht zu beanstanden und lediglich eine Modalität des Hochschulbesuches, so LTO zum Beschluss.
AG Düsseldorf zu aggressivem Maskenverweigerer: Wegen Bedrohung und Beleidigung hat das Amtsgericht Düsseldorf einen Arbeitslosen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Mann hatte dem Verkäufer eines Erotik-Shops mit Totschlag gedroht, solle dieser wegen der Maskenverweigerung des Verurteilten die Polizei rufen. LTO berichtet.
Recht in der Welt
Österreich – WKStA: Nicht zuletzt durch den Rücktritt des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz ist die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in das internationale Blickfeld geraten. Ein Hintergrundbericht von spiegel.de (Oliver Das Gupta) stellt die Arbeit der 2009 geschaffenen Behörde vor, die seitens der regierenden ÖVP der politischen Voreingenommenheit beschuldigt wird.
USA – Waffenbesitz: Das Oberste Gericht der USA steht vor einer Grundsatzentscheidung zur Reichweite des zweiten Verfassungszusatzes. Das von diesem garantierte Recht auf Waffenbesitz ist nach Auffassung der Beschwerdeführer durch ein Gesetz des Bundesstaates New York verletzt, nach dem das verdeckte Tragen einer Schusswaffe zur Selbstverteidigung untersagt ist. spiegel.de berichtet.
Sonstiges
NSU: Vor zehn Jahren enttarnte sich die rechte Terrorgruppe NSU selbst. Die Zeit (Christian Fuchs/Christina Schmidt) begibt sich auf Spurensuche bei der verurteilten Mittäterin Beate Zschäpe und Unterstützern der Gruppe. Die FAZ (Helene Bubrowski) rekapituliert die Taten und deren juristische Aufarbeitung. Die taz (Konrad Litschko) beleuchtet am Beispiel eines ihr vorliegenden geheimen Berichts des hessischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2014 zu möglicherweise übersehenen Hinweisen die mangelnde Transparenz der Sicherheitsbehörden. In einem weiteren Beitrag nennt die taz (Konrad Litschko/Andreas Speit) weitere Namen aus dem NSU-Umfeld. Ermittlungen der Bundesanwaltschaft laufen noch, gegen keinen von ihnen sei bisher Anklage erhoben worden.
Im Leitartikel fragt Annette Ramelsberger (SZ) nach gesellschaftlichen Lerneffekten und konstatiert, dass bei Politik und Sicherheitsbehörden sich "erst allmählich" die Erkenntnis durchsetze, "dass der gefährlichste Feind nicht mehr links stehe, sondern rechts". Dies dürfte allerdings eher der Ermordung Walter Lübckes zuzuschreiben sein.
Pimmelgate: In einem Interview mit der Zeit (Heinrich Wefing/Marc Widmann) spricht der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) über Auswirkungen des durch einen Tweet ausgelösten, sogenannten "Pimmelgates" auf sein Privatleben und seinen Grund, die mittlerweile berühmt-berüchtigte Beleidigung als "Pimmel" mit einem persönlichen Strafantrag zu verfolgen. Er widerspricht schließlich dem Eindruck, er hätte auf die Durchsuchung der Wohnung des mutmaßlichen Urhebers des "Pimmel"-Tweets Einfluss genommen.
Facebook/Gesichtserkennung: Der u.a. von LTO berichteten Ankündigung des jetzt als "Meta" firmierenden Facebook-Konzerns, auf seine Gesichtserkennungstechnologie verzichten zu wollen, begegnet Sebastian Meineck (netzpolitik.org) in einem Kommentar mit Skepsis. Auch weiterhin werde Meta/Facebook Bilder automatisch scannen, zudem seien Verlautbarungen des Unternehmens zur angeblichen Löschung vorhandener Daten angesichts zahlreicher Skandale nicht eben glaubwürdig. Anzunehmen sei vielmehr, dass der bislang erhobene "Datenschatz" ausreiche, um die Technologie weiter zu verfeinern und eine massenhafte Gesichtserkennung schlicht nicht mehr notwendig sei.
"Glauben": Als Plagiator seiner selbst bezeichnet die FAZ (Oliver Jungen) in ihrem Medien-Teil den Erfolgsautor Ferdinand von Schirach, dessen neuestes Werk "Glauben" demnächst auf Vox gezeigt wird. Die Serie behandelt die sogenannten Wormser Prozesse aus den 1990er Jahren, in denen sich ein vermeintlicher Kindesmissbrauchs-Ring als Ergebnis fehlerhafter und suggestiver Befragungen entpuppte. Als Drehbuchautor habe sich Schirach leider nicht der weiteren Entwicklung – mehrere der vermeintlichen Geschädigten wurden später in Heimen tatsächlich zu Missbrauchsopfern – gewidmet, diese Thematik eigne sich schließlich nicht "als Schaulauf eines Zampano-Verteidigers oder Recht-versus-Moral-Parabel".
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lto/mpi
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Die juristische Presseschau vom 4. November 2021: . In: Legal Tribune Online, 04.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46549 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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