Hat das Oberste Gericht Israels den Rechtsstaat wiederhergestellt oder lediglich einen Konflikt suspendiert? Überlebende des Hamas-Überfalls verklagten Israels Sicherheitsbehörden. In Bangladesh wurde Muhammad Yunus verurteilt.
Thema des Tages
Israel – Justizreform: Über die Entscheidung des Obersten Gerichts Israels, ein Gesetz zur Beschneidung seiner eigenen Entscheidungskompetenz für nichtig zu erklären, berichtet nun auch LTO vertieft. Das Urteil lege Konflikte in Gesellschaft und Politik des Landes zutage, die durch den Hamas-Überfall vorübergehend suspendiert schienen, schreibt spiegel.de (Richard C. Schneider) in einer Analyse. Nun könnte eine Situation eintreten, in der Sicherheitskräfte gezwungen sind, das Urteil gegen den Widerstand von Premierminister Benjamin Netanjahu durchzusetzen. Auch die FAZ (Christian Meier) thematisiert die "in Israel praktisch nie" vorkommende Vorabinformation über den Entscheidungsausgang, die das Gericht offenbar veranlasst habe, die Verkündung um mehrere Tage vorzuziehen. Sollte mit dem Leak die Absicht verfolgt worden sein, die Entscheidung zu torpedieren, sei dieses Kalkül nicht aufgegangen. In einem weiteren Bericht gibt die FAZ (Christian Meier) Justizminister Jariv Levin wieder, der "sowohl Inhalt als auch Zeitpunkt der Entscheidung" kritisierte, zugleich aber signalisierte, dass die Regierung während der Dauer des Krieges im Gaza-Streifen "weiterhin zurückhaltend und verantwortungsbewusst" handeln werde.
Nach Ansicht von Deniz Yücel (Welt) ist die Entscheidung "der einzigen Demokratie im Nahen Osten würdig." Auch wenn es um Grundrechte in Israel "nicht makellos bestellt" sei, habe das Gericht auch im Angesicht einer existenziellen Bedrohung der Versuchung widerstanden, rechtsstaatliche Prinzipien aufzugeben. Für Alexandra Föderl-Schmid (SZ) dient das Urteil als Warnung an Premierminister Benjamin Netanjahu. Wie andere Mitglieder seiner Regierung habe er nach wie vor "eine Rechnung mit der Justiz offen." Nunmehr agiere er aber aus einer Position der Schwäche. Alexander Haneke (FAZ) warnt dagegen im Leitartikel vor voreiligen Schlüssen: "Das denkbar knappe Votum der höchsten Richter ist ein Zeichen" für nach wie vor bestehenden Reformbedarf. Es sei aber verdeutlicht worden, "dass fundamentale Entscheidungen über das Funktionieren der Staatsgewalten nicht mit der Brechstange durchgesetzt werden können."
Rechtspolitik
Asyl: Im Interview mit der Welt (Ricarda Breyton) legt Rechtsprofessor Winfried Kluth seine Zustimmung zu der Ende des vergangenen Jahres erzielten Einigung für ein neues Europäisches Asylsystem dar. Nach einem dauerhaften "Stillstand in der Migrationspolitik" sei ein Kompromiss erreicht worden, der zwar "irreguläre Migration" nicht begrenze, im Grundsatz aber richtig sei.
Unterhalt für Trennungskinder: Mit dem Jahreswechsel wird auch die neueste Düsseldorfer Tabelle wirksam. Die neuesten Festlegungen sehen kräftige Anhebungen der Unterhaltssätze vor, auch der Selbstbehalt von Unterhaltspflichtigen steigt. Nicht zuletzt deshalb erfahren die Beträge Kritik aus verschiedenen Richtungen, schreibt die Welt (Sabine Menkens). Der Deutsche Anwaltverein dränge auf die baldige Umsetzung einer von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bereits angekündigten Reform des Unterhaltsrechts, bei der Betreuungsleistungen Unterhaltspflichtiger angemessen berücksichtigt werden.
Justiz
EuGH zu DSGVO-Bußgeld: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ schreibt nun auch Stefan Brink, früherer Datenschutzbeauftragter von Baden-Württemberg, über die Anfang Dezember verkündete Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Bußgeldhaftung von Unternehmen wegen Verstößen gegen die Datenschutzgrundverordnung. Der EuGH habe zurecht eine Verschuldenshaftung gefordert, anders als die deutschen Datenschutzbehörden. Allerdings sei für das Verschulden kein Verhalten und auch keine Kenntnis der Unternehmsspitze erforderlich. Beachtlich sei zudem, dass das vorlegende Berliner Kammergericht den EuGH pflichtwidrig nicht über alle einschlägigen Regeln des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in Kenntnis gesetzt habe.
BGH zu Zeugnisverweigerungsrecht: Der Gebrauch eines Zeugnisverweigerungsrechts schließt die auf einzelne Aussagen beschränkte Gestattung der Verwertung früherer Aussagen aus. Auch bei einem Teilverzicht sind deshalb sämtliche frühere Angaben unverwertbar. Dies entschied nach Bericht von LTO der Bundesgerichtshof in einem nun veröffentlichten Beschluss Mitte Oktober. Im zugrundeliegenden Fall hatte das zeugnisverweigerungsberechtigte Opfer einer Vergewaltigung die Verwertung von Angaben gegenüber einer aussagepsychologischen Sachverständigen gestattet, nicht jedoch jene aus einer polizeilichen Vernehmung.
BAG zu Handy am Arbeitsplatz: Rechtsanwalt Sebastian Maiss macht im Recht und Steuern-Teil der FAZ auf ein Mitte Oktober verkündetes Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufmerksam, das entschied, dass ein betriebliches Verbot der privaten Handynutzung am Arbeitsplatz auch ohne Zustimmung des Betriebsrates zulässig ist. Dem Urteil sei zuzustimmen, weil die private Handynutzung der gleichzeitigen Erbringung einer Arbeitsleistung im Weg stehen könne. Dies könne allerdings – so der Autor – anders sein bei "flexiblen, vertrauensbasierten Arbeitszeitmodellen", in denen das Arbeitsergebnis und nicht die jederzeitige Aufmerksamkeit entscheidend ist.
LAG Hessen – GDL und Fair Train: Am Hessischen Landesarbeitsgericht hat die Deutsche Bahn eine Feststellungsklage gegen die Gewerkschaft GDL mit dem Ziel erhoben, ihr die Tariffähigkeit absprechen zu lassen. Hintergrund ist die Gründung der Leiharbeits-Genossenschaft "Fair Train" durch die GDL. Hiermit trete die GDL sowohl als Gewerkschaft als auch als Arbeitgeberin auf. bild.de (Burkhard Uhlenroich) berichtet. Die Klage werde keine Auswirkungen auf den bevorstehenden GDL-Streik haben.
LG Berlin I – Tötung durch Kardiologen: Mitte Januar soll das Landgericht Berlin I sein Urteil gegen Oberarzt Gunther S. verkünden, dem Totschlag vorgeworfen wird. Der Kardiologe soll zwei PatientInnen mit Überdosen eines Narkosemittels getötet haben. Er will dagegen nur das ohnehin erfolgende Erlöschen des Lebens gesteuert haben. Die SZ (Verena Mayer) berichtet ausführlich. Das Urteil wird Mitte Januar erwartet.
LG Berlin I – Vergewaltigung im Görlitzer Park: Wegen der gemeinschaftlichen Vergewaltigung einer georgischen Frau im Görlitzer Park hat das Landgericht Berlin I nun die Anklage gegen drei abgelehnte polizeibekannte Asylantragsteller aus Guinea und Somalia zugelassen. Die Welt (Alexander Dinger) berichtet.
AG Starnberg zu Jens Lehmann: Nach der Anklagebehörde hat nun auch der erstinstanzlich zu einer Geldstrafe verurteilte frühere Fußballnationaltorwart Jens Lehmann Berufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Starnberg eingelegt. Dessen schriftliche Urteilsbegründung sei binnen fünf Wochen fällig, so LTO.
BSG 2023: LTO (Tanja Podolski) stellt zehn wichtige Entscheidungen des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2023 vor, unter anderem über Zugang zu Medikamenten ohne Zulassung, Unfallversicherungsschutz nach Verletzungen durch sogenanntes Bahnsurfen und Belastungsstörungen bei Rettungssanitätern.
Klimaschutzklagen: Das Oberlandesgericht Hamm wird sich wohl in diesem Jahr mit der Frage befassen, ob der RWE-Konzern für die Gletscherschmelze haftbar gemacht werden kann, die aus Sicht eines klagenden peruanischen Bergbauern sein Haus bedroht. Die auf § 1004 Bürgerliches Gesetzbuch gestützte Klage wurde von Rechtsanwältin Roda Verheyen verfasst. Wie andere Klimaklagen weltweit könne sie sich mittlerweile Erkenntnisse der Klima-Attributionsforschung zunutze machen, die immer besser in der Lage sei, Klimaschäden einzelnen Unternehmen oder Regierungen zuzurechnen. Auch der US-amerikanische Bundesstaat Kalifornien habe mittlerweile große Ölkonzerne verklagt, weil ihnen die schädlichen Folgen des Einsatzes fossiler Brennstoffe bekannt gewesen seien. Das Hbl (Katharina Kort u.a.) berichtet.
Rückgang der Zivilverfahren: Auch die Welt (Kaja Klapsa) berichtet nun über die im Auftrag des Bundesjustizministeriums erstellte Studie zu den Gründen des anhaltenden Rückgangs der Eingangszahlen an deutschen Zivilgerichten. Private scheuten oft Kosten und unabsehbare Dauer von Verfahren, Unternehmen zögen zumindest aus dem letzten Grund oft außergerichtliche Konfliktbeilegungen vor.
Recht in der Welt
Israel – Angriff der Hamas: 42 Überlebende des Hamas-Überfalls auf ein Musikfestival haben eine Schadensersatzklage gegen israelische Sicherheitsbehörden erhoben. Der Inlandsgeheimdienst, die Armee, die Polizei sowie das Verteidigungsministerium hätten es durch Fahrlässigkeit und grobe Versäumnisse unterlassen, den Veranstalter auf die aus dem Gaza-Streifen drohende Gefahr hinzuweisen, so spiegel.de über die Klage.
Bangladesch – Muhammad Yunus: Wegen Verstößen gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen hat ein Gericht in Bangladesch den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Der Ökonom gilt als Begründer des Mikrofinanzgedankens und steht in politischer Opposition zur Regierung seines Landes. Es berichten FAZ (Till Fähnders) und SZ (Arne Perras).
Dass die Verurteilung unmittelbar vor den Parlamentswahlen in Bangladesch erfolge, unterstreiche, "wie schlimm es um die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land steht", kommentiert Arne Perras (SZ).
USA – Trump/Wahlausschluss: Der US-Supreme Court wird sich in diesem Jahr mit der Frage befassen, ob Donald Trump wegen seines Verhaltens beim Angriff auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 rechtmäßig als Präsidentschaftskandidat ausgeschlossen werden kann. In einem ausführlichen historischen Abriss (in englischer Sprache) bestreitet Rechtsprofessor Russel Miller im FAZ-Einspruch, dass diese Entwicklung Ausdruck des Zusammenbruchs der US-amerikanischen Demokratie sei. Tatsächlich habe sich das Gericht bereits mehrfach zu Wahlfragen geäußert, in "Bush vs. Gore" von 2001 etwa unmittelbar in den Wahlausgang eingegriffen. Die damalige Festlegung, entgegen der sogenannten Political Question Doctrine tatsächlich zu entscheiden, müsse das jetzige Gericht ebenso berücksichtigen wie die "US vs. Nixon"-Entscheidung von 1974. Damals wurde festgelegt, dass auch die Exekutivgewalt eines Präsidenten diesen nicht über das Gesetz stelle.
Im Leitartikel widerspricht Hannes Stein (Welt) der Vorstellung, eine zweite Amtszeit Donald Trumps würde in der "Dikatur" enden. Tatsächlich drohte "schwärzestes Chaos, ein Mahlstrom, in dem jeder Versuch, Politik zu machen, untergehen würde." Zu diesem Zweck würde Trumps "alles beherrschende Priorität" darin bestehen, "das Justizministerium unter seine Kontrolle zu bringen."
Polen – öffentlich-rechtlicher Rundfunk: zeit.de (Michal Kokot) berichtet über praktische und rechtliche Schwierigkeiten der neuen polnischen Regierung, die inhaltliche Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Land wiederherzustellen. So habe Staatspräsident Andrzej Duda sein Veto gegen eine staatliche Subventionierung eingelegt, weil der hiermit verbundene Leitungswechsel Aufgabe des von der alten Regierung geschaffenen Nationalen Medienrats gewesen sei.
IStGH/Zentralafrikanische Republik - Milizenführer: Vor dem Internationalen Strafgerichtshof hat über drei Tage ein katholischer Bischof aus der Zentralafrikanischen Republik ausgesagt. Er war von einem angeklagten christlichen Milizenführer als Entlastungszeuge benannt worden. Der IStGH verhandelt gegen die Anführer muslimischer und christlicher Milizen, die ab 2012 Menschenrechtsverletzungen begangen haben sollen. Die SZ (Ronen Steinke) berichtet.
Sonstiges
Entführung der Block-Kinder: Welt (Denis Fengler) und spiegel.de (Jean-Pierre Ziegler) erklären rechtliche Hintergründe des Entführungsfalls Block. Zwei Kinder der Unternehmenserbin Christina Block wurden in der Silvesternacht in Dänemark entführt und befinden sich nun offenbar in der Hamburger Obhut der Mutter. Seit mehr als zwei Jahren hätten die Kinder bei dem von Block geschiedenen Vater gelebt, obgleich der Mutter durch deutsche Gerichte das Aufenthaltsbestimmungsrecht zugesprochen worden sei. Jedoch behalte sich Dänemark in derartig grenzüberschreitenden Fällen in Abweichung von einer EU-Verordnung zur gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Sorgerechtsentscheidungen eine eigene Prüfung vor.
Das Letzte zum Schluss
Mickey Maus: Ab dem 1. Januar ist der urheberrechtliche Copyrightschutz für die 1928 veröffentlichte "Urversion" von Mickey Maus abgelaufen, informiert die SZ (David Steinitz) im Feuilleton. Vor einer bedenkenlosen Verwendung der Bildmarke sollten sich Nutzende jedoch mit einem Statement der Disney Company vertraut machen, die angekündigt hat, "selbstverständlich weiterhin unsere Rechte an den modernen Micky-Maus-Versionen schützen" zu wollen. Der Verlauf der exakten Grenzlinie dürfte demnächst Gerichte beschäftigen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 3. Januar 2024: . In: Legal Tribune Online, 03.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53540 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag