Polnisches Verfassungsgericht vertagt Entscheidung über Geltungsvorrang von Unionsrecht. Erleichterte Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Freigesprochener könnte am Bundesrat scheitern. In Guantanamo beginnt ein Strafprozess.
Thema des Tages
Polen – Justizreform: Das polnische Verfassungsgericht hat seine Entscheidung über die Vorrangigkeit nationalen Rechts gegenüber Unionsrecht erneut vertagt. Grund war der Antrag des verfahrensbeteiligten polnischen Menschenrechtsbeauftragten, einen Verfassungsrichter von der Verhandlung auszuschließen. Eine mögliche Verfahrensfortsetzung werde am 22. September stattfinden, so LTO (Markus Sehl). Es könne davon ausgegangen werden, dass die Verschiebung in der Hoffnung erfolgt sei, den Konflikt zwischen der EU und der polnischen Regierungspartei PiS zwischenzeitlich entschärfen zu können. Letztere verweise in Statements zur Verteidigung der von ihr betriebenen Justizreform regelmäßig auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum PSPP-Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank. Laut FAZ (Thomas Gutschker/Konrad Schuller) werde die erneute Verschiebung in Brüssel "als taktisches Manöver" interpretiert und als Anzeichen dafür, dass der von der EU-Kommission aufgebaute Druck "durchaus Wirkung" zeige. Zahlungen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds seien in Polen bislang nicht eingetroffen.
Rechtspolitik
Wiederaufnahme: Der unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause vom Bundestag verabschiedete Entwurf des "Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" steht nach Informationen von LTO (Hasso Suliak) vor einer ungewissen Zukunft. Auf Antrag verschiedener Länder wird am heutigen Mittwoch der Rechtsausschuss des Bundesrates darüber beraten, ob wegen der vorgesehenen erleichterten Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Freigesprochener der Vermittlungsausschuss angerufen werden muss. In diesem Fall wäre ein Inkrafttreten noch vor der Wahl unrealistisch. Die Länder begründeten den Antrag mit verfassungsrechtlichen Bedenken, wie sie etwa auch schon vom Deutschen Anwaltverein vorgebracht wurden. Auf JuWissBlog skizzieren Arne Meyn und Lasse Ramsom, Rechtsreferendar und Wissenschaftlicher Mitarbeiter, die prozessualen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer gegen den § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung n.F. gerichteten Verfassungsbeschwerde.
Mietendeckel: Die Linke hat den Entwurf eines bundesweiten Mietendeckels vorgestellt. Das u.a. von der Welt (Luisa Hofmeier/Michael Fabricius) berichtete Modell unterscheide Wohnungsmärkte als ausgeglichen, angespannt und notleidend und differenziere entsprechende Regulierungsmöglichkeiten. Daneben sollten für die Berechnung von Mietspiegeln sämtliche Mietverhältnisse und nicht allein die Neuabschlüsse der jeweils sechs vergangenen Jahre herangezogen werden.
Corona – Arbeitsschutz: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den Änderungsentwurf zur SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung bekanntgegeben. Im Gespräch mit LTO (Tanja Podolski) erläutert Rechtsprofessor Michael Fuhlrott vertieft die wesentlichen Neuerungen. So sollten Arbeitgebende Freistellungen der Beschäftigten für Impfungen ermöglichen, wobei noch unklar sei, ob etwaige Fehlzeiten bezahlt würden. Zum anderen sollten Arbeitgebende im Betrieb aktiv über Virus und Impfung informieren und somit zur Steigerung der Impfquote beitragen.
Corona – Auskunft über Impfstatus: In einem Kommentar zum weiterhin umstrittenen Fragerecht von Arbeitgebern über den Impfstatus ihrer Beschäftigten bezeichnet es Johannes Pennekamp (FAZ) als "inkonsequent, teuer und falsch", dass sich Impfverweigerer weiterhin nicht outen müssten. "In normalen Zeiten" sei es selbstverständlich, dass ein Impfstatus Privatsache sei. Tatsächlich herrsche aber "noch immer Pandemie". Für Henrike Roßbach (SZ) ist es "nichts Neues, dass der Datenschutz in Deutschland die Dinge hin und wieder verkompliziert". In einem "Ausnahmezustand" wie dem jetzigen sei "schlicht nicht möglich, alles wie immer zu machen, wenn nichts wie immer ist".
Psychiatrie: Ronen Steinke (SZ) fordert eine Verschärfung der Heilberufe-Kammergesetze der Länder. Besuchskommissionen der Ärztekammern sollten jede psychiatrische Einrichtung mindestens vier Mal pro Jahr kontrollieren. Dabei sollten die Kommissionen auch ein Akteneinsichtsrecht haben. Anlass sind Fälle von pädophilem Missbrauch und Quälerei in der Kinder-Psychiatrie.
Lieferketten und Menschenrechte: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ macht Rechtsanwalt Dieter Neumann auf Auswirkungen des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes für das Vergabe- und Zuwendungsrecht aufmerksam. Unternehmen mit rechtskräftigen Bußgeldbescheiden könnten auf Grundlage des neuen Gesetzes auch "noch kurz vor der Ziellinie" von Vergaben der öffentlichen Hand ausgeschlossen werden. Zuwendungsbescheide oder Förderverträge könnten die Beachtung von Sorgfaltspflichten zur Voraussetzung machen, ohne dass dies explizit im Gesetz geregelt sei.
Justiz
OLG Karlsruhe zu Alkohol am Schiffssteuer: Menschen am Steuer eines Schiffes gelten ab einem Promillewert von 1,1 als nicht mehr fahrtüchtig. Dies entschied bereits im vergangenen November das Schifffahrtssobergericht beim Oberlandesgericht Karlsruhe. Verkehrsmedizinische Untersuchungen hätten ergeben, dass die Beurteilung alkoholbedingter Einschränkungen der Fahrtüchtigkeit nicht anders zu bewerten sei als beim Kraftfahrzeugverkehr. Über die Berufungsentscheidung berichtet LTO und stellt außerdem die Grundlagen der gerichtlichen Zuständigkeiten in Binnenschifffahrtssachen dar.
LAG München zu Homeoffice: Arbeitgeber können die Rückkehr aus dem coronabedingt angeordneten Homeoffice in die Betriebsstätte wegen zwingender betrieblicher Gründe anordnen. Dies entschied laut spiegel.de das Landesarbeitsgericht München in der vergangenen Woche. Der klagende Grafiker habe nicht darlegen können, dass seine arbeitsrelevanten Daten im Homeoffice vor dem Zugriff Dritter, insbesondere seiner für ein Konkurrenzunternehmen tätigen Ehefrau geschützt seien.
LG Berlin – Kannibalismus: Im Verfahren gegen einen Lehrer, der einen männlichen Sexkontakt getötet haben soll, um Leichenteile zu essen, konnte die vom Landgericht Berlin vernommene Rechtsmedizinerin aus den aufgefundenen Leichenteilen des Geschädigten keine Gewalteinwirkung ableiten. Dies nähre den Kannibalismusverdacht, schreibt spiegel.de (Wiebke Ramm). Ein weiterer Zeuge habe explizit die bei einem früheren Sexdate mit dem Angeklagten ausgetauschten Tötungsfantasien beschrieben. Nach dem Bericht von bild.de (Karin Hendrich) werde ein Urteil am 22. Oktober erwartet.
LG Tübingen zu Waffenlager: Wegen illegalen Besitzes eines umfangreichen Waffenlagers hat das Landgericht Tübingen einen 37-Jährigen zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine Einlassung, er habe sich wegen der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 unsicher gefühlt und daher mit dem Horten von Waffen begonnen, habe ihm das Gericht nur "bedingt" geglaubt, zitiert die Welt aus der mündlichen Urteilsbegründung.
Corona – Verkehrsrecht: Auf Einladung des Deutschen Anwaltvereins trafen sich am vergangenen Freitag Verkehrsjuristen und -juristinnen in Köln, um über Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihr Fachgebiet zu sprechen. Besondere Kritik habe dabei den massenhaften gerichtlichen Terminverschiebungen während des ersten Lockdowns gegolten, schreibt LTO (Hasso Suliak). Zu coronabedingten Zusatzkosten bei der Schadensregulierung stünden so höchstrichterliche Entscheidungen immer noch aus. Dies gelte auch für eine wohl noch in diesem Jahr anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Pflicht, die Rohmessdaten von Geschwindigkeitsmessgeräten immer aufzeichnen, speichern und dann auch an Betroffene herausgeben zu müssen.
Rechtspflegestatistik 2020: Über die jüngst veröffentlichte Rechtspflegestatistik schreibt nun auch die FAZ (Marcus Jung) in ihrem Recht und Steuern-Teil. So zeige sich für das Jahr 2020 keine "Corona-Delle". Die Erledigungsrate der Amtsgerichte habe sich im Untersuchungszeitraum auf 93 Prozent des Vorjahres belaufen, Landgerichte und Oberlandesgerichte hätten jeweils vergleichbare Zahlen gegenüber dem Vorjahr angegeben.
Recht in der Welt
USA/Guantanamo – Encep Nurjaman: Im US-amerikanischen Militärcamp Guantanamo auf Kuba ist ein Kriegsgerichtsverfahren gegen den vermeintlichen Drahtzieher von Terroranschlägen in Indonesien in den Jahren 2002 und 2003 eröffnet worden. Der Hauptangeklagte Encep Nurjaman habe nach seiner Festnahme im August 2003 mehrere Jahre in sogenannten "schwarzen Gefängnissen" der CIA verbracht, schreibt die taz (Sven Hansen). Seit 2006 befinde er sich in Guantanamo, die Hälfte dieser Zeit in Einzelhaft. Nach Ansicht von Bernd Pickert (taz) ist das dortige Gefängnis ein "dauernder Schandfleck" und "Mahnung daran, dass die angeblich vertretenen westlichen Werte von Rechtsstaat und Menschenrechten gerade dann nicht viel wert sind, wenn es darauf ankommt". Angesichts von Militärrichtern und "unter Folter erpressten Aussagen" sei die "juristisch saubere Lösung" die sofortige Einstellung des Verfahrens und Freilassung sowie Entschädigung sämtlicher Insassen des Lagers.
USA/Afghanistan – Drohnentötungen: Rechtsprofessor Kai Ambos beklagt im FAZ-Einspruch die Völkerrechtswidrigkeit der jüngsten US-Drohnentötungen in Afghanistan. Die Rache für Terroranschläge könne nicht mit einem Selbstverteidigungsrecht legitimiert werden, da der sogenannte "ISIS-K" nach allgemeiner internationaler Einschätzung in Konkurrenz zu den Taliban als den neuen Machthabern in Afghanistan stehe. Dass die Tötungen "exekutivisch-militärische Liquidationsentscheidungen" auf der Grundlage fragwürdiger Zuschreibungen außerhalb "jeglicher demokratischer oder justizieller Kontrolle" darstellten, werde auch in der Berichterstattung geflissentlich übergangen.
USA – Elisabeth Holmes: Über den Fall der in den USA wegen Betruges angeklagten Gründerin Elisabeth Holmes schreibt nun auch zeit.de (Lisa Hegemann/Meike Laaff). "Viele Beobachter" erhofften sich vom Prozess eine Klärung der Frage, wie die von ihr mitgegründete Firma Theranos "vor allem auf der Basis einer guten Geschichte" und weniger aufgrund einer tatsächlich funktionierenden Technologie "zu einem milliardenschweren Unternehmen" aufgepumpt werden konnte.
EGMR/Russland – Natalja Estemirowa : Wegen nicht ausreichender Gründlichkeit bei den Ermittlungen zur Ermordung der tschetschenischen Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt. Zwar gebe es keine Belege für die von der klagenden Schwester behauptete staatliche Verwicklung in die 2009 erfolgte Tötung, schreibt die taz (Christian Rath). Gleichwohl seien innerhalb der umfangreichen Ermittlungen Widersprüchlichkeiten nicht hinreichend aufgeklärt worden. Barbara Oertel (taz) bedauert in einem Kommentar, dass der EGMR der Wahrheitsfindung im Fall der Aktivistin nicht näher gekommen sei. Seit ihrer Ermordung seien handgreifliche Einschüchterungen kritischer Stimmen in Russland vielmehr "Methode" geworden.
Österreich – Corona/Ischgl: Am 17. September wird am Wiener Landesgericht der erste Zivilprozess zu Schadensersatzansprüchen gegen die Republik wegen Versäumnissen bei der Verhinderung der ersten Corona-Welle im März 2020 beginnen. In einem ersten Fall forderten Angehörige eines in Ischgl infizierten und später verstorbenen Mannes 100.000 Euro Schadensersatz, schreibt LTO. Die vom Verbraucherschutzverein unterstützten Kläger machen geltend, dass die Infektion des Mannes der kurzfristigen Ankündigung einer sofortigen Isolierung des Skiorts geschuldet sei. Weitere Verfahren folgten.
Sonstiges
Sportrecht: Das Sportrecht boomt nicht nur in der Berichterstattung über sportliche Ereignisse, seit 2019 können Interessierte auch einen Fachanwaltstitel in diesem Bereich erwerben. Im Interview mit community.beck.de (Tobias Fülbeck) spricht der ausgewiesene Experte und CAS-Richter Martin Schimke über den eigenen sportlichen und beruflichen Werdegang und gibt Nachwuchsjuristen und -juristinnen Tips für den Einstieg.
Das Letzte zum Schluss
An die frische Luft: Wer der Meinung ist, dass die Jugend besser in der grünen Natur aufgehoben ist als vor flimmernden Bildschirmen, mag zustimmend nach China blicken. netzpolitik.org (Tomas Rudl) berichtet, dass die für die Internetregulierung zuständige Behörde der Volksrepublik den Zugang Minderjähriger zu Online-Spielen ab sofort auf jeweils eine Stunde an Wochenendtagen beschränkt.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche lto-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 1. September 2021: . In: Legal Tribune Online, 01.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45886 (abgerufen am: 25.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag