Das Berufsgericht für Heilberufe beim VG Gießen hat einem Allgemeinmediziner, der mit Kassenzulassung in einer aus mehreren Ortsteilen bestehenden Gemeinde niedergelassen ist, wegen Verstoßes gegen seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung eine Geldbuße in Höhe von 3000 Euro auferlegt und ihm wegen Verstoßes gegen seine Berufspflichten einen Verweis erteilt.
Der Arzt betreibt seine Praxis im Erdgeschoß seines Wohnhauses und war an einem Wochenende im Dezember 2006 zum Notdienst eingeteilt. Zwischen 21 und 22 Uhr erhielt er einen Anruf aus einem anderen Ortsteil der Gemeinde, wonach es einer älteren Dame sehr schlecht gehe. Der Arzt bestellte die Frau für 23 Uhr in seine Praxis. Die Nichte der alleinlebenden Frau, die an Diabetes mellitus litt und an jenem Abend hohe Blutzuckerwerte hatte, fuhr mit ihrem Mann und dessen Mutter, die den Weg zur Praxis weisen sollte, die Tante zur Arztpraxis, die sie zwischen 23 Uhr und 23.10 Uhr erreichten. Die Tante hatte sich unterwegs mehrfach übergeben, was die Fahrt verzögert hatte.
Trotz mehrfachen Läutens an allen Klingeln, die sich im Eingangsbereich des Hauses befanden, wurde ihnen die Tür nicht geöffnet. Da sich der Zustand der alten Dame zunehmend verschlechterte, fuhren die Verwandten sie ins nächstgelegene Krankenhaus. Dort mussten sie, wie andere, vor ihnen eingetroffene Hilfesuchende auch, längere Zeit an der Notaufnahme warten. Einem Arzt fiel der schlechte Gesundheitszustand der Frau auf, ihre Behandlung wurde vorgezogen und ein schwerer Herzinfarkt festgestellt, an dem sie in der Nacht noch verstarb.
Zwar bestritt der Arzt im gesamten Verfahren, ein Klingeln an seiner Praxistür oder im Wohnhaus wahrgenommen zu haben. Er habe zwischen 23 Uhr und 23.20 Uhr in der Praxis vergeblich auf die angekündigte Person gewartet. Das Gericht gelangte nach umfangreicher Beweisaufnahme dennoch zu der Überzeugung, dass die Kranke mit ihren Angehörigen tatsächlich vergeblich an der Eingangstür zur Praxis und zum Haus geläutet bzw. gewartet hatte.
Mit seinem Urteil vom 20. Oktober 2010 (Az.: 21 K 3235/09. GI.B, ) verurteilte das Gericht den Arzt wegen Verstoßes gegen seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 22 Hessisches Heilberufsgesetz.
Nach Auffassung des Gerichts hat ein Arzt, der gemäß seiner Verpflichtung aus § 23 Hessisches Heilberufsgesetz zum Notdienst eingeteilt ist, alle Personen in ärztliche Obhut zu nehmen, die um ärztliche Hilfe nachsuchen. Der Arzt muss auch tatsächlich und nicht nur telefonisch erreichbar sein. Eine Fallgestaltung, nach welcher das Ansinnen um ärztlichen Beistand erkennbar überflüssig, unsinnig oder aus sonstigen Gründen für den Arzt nicht zumutbar wäre, habe hier ersichtlich nicht vorgelegen.
Allerdings beinhalte diese Verpflichtung zur Leistung ärztlicher Fürsorge im Notdienst nicht, dass der Arzt auch tatsächlich eine Heilbehandlung durchführe. Er sei vielmehr lediglich verpflichtet, sein ärztliches Wissen/Können zur Prüfung des ihm vorgetragenen oder vor Augen geführten Leidens dergestalt einzusetzen, dass er entscheide, ob Behandlungsbedürftigkeit vorliege und gegebenenfalls wie und vom wem die Behandlung durchgeführt werde.
Gegen das Urteil kann Berufung zum Landesberufsgericht für Heilberufe bei dem hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel eingelegt werden.
VG Gießen: . In: Legal Tribune Online, 07.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1877 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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