Dem "Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" zufolge müssen Gerichtsverfahren altersgerechter werden. Von Videovernehmungen werde nicht genug Gebrauch gemacht, die Justiz sei nicht hinreichend geschult.
Fachleute aus Wissenschaft, Politik und Praxis fordern eine kindgerechte Justiz. Das geht aus einem Papier des "Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" hervor, welches der Rat am Mittwoch nach eineinhalb Jahren Arbeit vorgestellt hat. Neben der Gewährleistung kindgerechter Gerichtsverfahren sei Ziel der darin genannten Maßnahmen, Schutz und Hilfen im Falle sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu verbessern. Außerdem soll die Forschung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt weiter vorangetrieben werden.
Das Gremium war 2019 vom Bundesfamilienministerium eingesetzt worden. Rund 300 Experten aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft, Fachpraxis und auch Betroffene kamen seitdem in mehreren Sitzungen und Arbeitsgruppen zusammen, darunter auch eine für "kindgerechte Justiz". Darunter versteht die Arbeitsgruppe eine zugängliche, altersgerechte, zügige, sorgfältige und auf die Bedürfnisse und Rechte von Kindern zugeschnittene Justiz.
Zunächst lobt die Arbeitsgruppe in dem Papier die in den vergangenen Jahren bereits ergriffenen Maßnahmen, um betroffenen Kindern und Jugendlichen die aus deren Sicht häufig langwidrigen und komplizierten Straf- und Kindschaftsverfahren zu erleichtern. Positiv seien hier die Regelungen im Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder einzustufen. Darin ist unter anderem ein Beschleunigungsgebot für Strafverfahren mit minderjährigen Opferzeuginnen und -zeugen verankert. In Kindschaftssachen sei zudem richtigerweise vorgesehen, dass die persönliche Anhörung des Kindes altersunabhänig persönlich stattfinden muss.
Mehr Videovernehumungen, mehr Spezialkompetenzen
Als weitere positive Maßnahme nennt die Arbeitsgruppe die Verpflichtung, bei Betroffenen einer Sexualstraftat Videovernehmungen durchzuführen oder auch die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung. An der Umsetzung hakt es nach Ansicht der Arbeitsgruppe jedoch. So scheitern die Videoverhandlungen häufig an der schlechten technischen Ausstattung an den Strafgerichten und auch die psychosoziale Prozessbegleitung werde nicht immer eingebunden.
Daher stellt die Arbeitsgruppe von ihr entwickelte Praxisleitfäden vor, die mithilfe von Handlungsempfehlungen auch Unsicherheiten bei den anderen am Verfahren beteiligten Personen beseitigen soll. Der "Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das familiengerichtliche Verfahren" beispielsweise soll den Akteuren möglichst über die Justizverwaltungen im Herbst 2021 zugestellt werden.
Dasselbe gelte für den entsprechenden Leitfaden für Strafverfahren. Ziel der Arbeitsgruppe ist es laut Bericht, das Problembewusstsein von Justiz und Polizei im Interesse des Kindes zu stärken. Außerdem spricht sich die Arbeitsgruppe dafür aus, bei Jugendschutzverfahren vermehrt Personen mit Spezialkompetenz einzusetzen. Das sei zwar im Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder so vorgesehen. So müssen die Richterinnen und Richter über bestimmte pädagogische und psychologische Qualifikationen verfügen. Aber vor allem kleinere Gerichte stelle das vor eine Herausforderung. Als eine mögliche Lösung nennt die Arbeitsgruppe eine Einrichtung von Schwerpunktgerichten und –staatsanwaltschaften. Schließlich sei dann auch nur dort eine teure Videotechnik für die Videovernehmungen notwendig.
Mehr altersgerechte Informationen, mehr E-Learning für die Justiz
Diesbezüglich empfiehlt die Arbeitsgruppe auch einen Musterleitfaden zur richterlichen Videovernehmung zu erstellen. Als Vorbild könne der "Flensburger Leitfaden" dienen, der in Schleswig-Holstein bereits zum Einsatz komme. Außerdem müssten vermehrt Fortbildungen zu diesen Themen stattfinden und auch das müsse mit mehr E-Learning geschehen.
Über das Angebot der psychosozialen Prozessbegleitung müsse mehr mit altersgerechten Informationsmaterialien indormiert werden.
Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach sich dafür aus, dass das Gremium auch nach der Bundestagswahl weiter zusammenkommen soll. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte bei einem Gespräch mit Mitgliedern des Rates, es reiche nicht aus, nur zu reagieren, wenn besonders drastische Straftaten öffentlich würden. Es brauche im Land eine Haltung des Hinschauens.
Die Polizei hatte laut aktueller Kriminalstatistik im vergangenen Jahr erneut mehr Fälle von Kindesmissbrauch und von Misshandlungen Schutzbefohlener registriert. So stieg die Zahl der Misshandlung Schutzbefohlener um zehn Prozent auf 4.918 Fälle, bei Kindesmissbrauch stieg sie um 6,8 Prozent auf über 14.500 Fälle.
pdi/LTO-Redaktion
Mit Material der dpa
Welche Maßnahmen im Kampf gegen Kindesmissbrauch?: . In: Legal Tribune Online, 30.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45351 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag