Auf die Autoindustrie kommt eine neue, gigantische Klagewelle zu. Nach einem EuGH-Urteil können Diesel-PkW-Käufer schon bei Fahrlässigkeit der Hersteller bei illegaler Abschalteinrichtung, wie Thermofenstern, auf Schadensersatz hoffen.
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat in einem Vorlageverfahren des Landgerichts (LG) Ravensburg entschieden, dass Käufer eines Kraftfahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegen den Fahrzeughersteller einen Anspruch auf Schadensersatz haben, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist (Az. C-100/21).
Zudem entschied der EuGH, dass das Unionsrecht neben allgemeinen Rechtsgütern auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützt, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist.
Letzteres bedeutet ein mögliches wirtschaftliches Fiasko für die Autoindustrie in Form einer neuen Klagewelle. Daraus folgt nämlich, dass Autohersteller schon bei bloßer Fahrlässigkeit haften (§ 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. dem drittschützenden Unionsrecht), wenn sie eine illegale Abschalteinrichtung in Diesel-PkW verbauen.
Eine Haftung wegen bloßer Fahrlässigkeit hat der Bundesgerichtshof (BGH) bislang strikt abgelehnt. Eine Vorlage an den EuGH verweigerte der BGH mit der Begründung, die Rechtslage sei eindeutig (acte clair), so dass es keiner Vorlage bedürfe. Allerdings legten andere Gerichte, hier das LG Ravensburg, die Rechtsfrage vor.
So argumentierte der BGH
Zwar hatte der BGH einen deliktischen Schadensersatzanspruch der Käufer bei der berühmt-berüchtigten VW-Abschalteinrichtung bei den EA-189-Modellen anerkannt. Diese Abschalteinrichtung funktionierte mit einer Prüfstandserkennung. Einfach gesprochen schaltet der Wagen beim gesetzlichen Zulassungstest auf "sauber", auf der Straße aber auf "schmutzig". Der BGH sah in dieser Abschalteinrichtung eine vorsätzlich sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) der Käufer.
Bei Fahrzeugen mit Thermofenstern, in denen die Abgasreinigung bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen ganz oder teilweise ausgeschaltet wird, sah der BGH diese Anspruchsgrundlage hingegen nicht als gegeben an. Die Annahme von Sittenwidrigkeit in diesen Fällen setze voraus, dass die verantwortlichen Personen bei der Entwicklung in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Dies habe nicht festgestellt werden können. Der BGH verwies zur Begründung unter anderem auf die unsichere Rechtslage zur Legalität von Thermofenstern. Insoweit sei nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf gerechtfertigt (BGH Urt. v. 16.09.2021 - VII ZR 190/20, Rn. 36).
Ein Schadensersatzanspruch wegen fahrlässig verbauter illegaler Abschalteinrichtung käme hingegen nicht in Betracht. Nach dem deutschen Zivilrecht ist nach § 823 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz ein Schadensersatzanspruch bei Vorsatz und Fahrlässigkeit möglich, wenn dieses Schutzgesetz drittschützend in dem Sinne ist, dass es auch zum Schutz des Anspruchstellers, hier also der Diesel-PkW-Käufer, gedacht ist. Für den BGH sind aber die unionsrechtlichen Regeln für Automobilhersteller, die Abschalteinrichtungen verbieten (Art. 5 Abs. 2 EG-Verordnung 715/2007) und verlangen, dass Autos mit dem zugelassenen Typ übereinstimmen (Art. 18 EG-Richtlinie 2007/46), nicht drittschützend. Sie bezweckten keinen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer (BGH Urt. v. 16.09.2021 - VII ZR 190/20, Rn. 43, Urt. v. 30.07.2020 - VI ZR 5/20, Rn. 20).
So argumentiert der EuGH
Anders sieht dies nun der EuGH. Das Unionsrecht stelle eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Automobilhersteller und dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs her. Mit der Übereinstimmungsbescheinigung, die dem Käufer nach der Rahmenrichtlinie auszuhändigen sei, werde diesem bestätigt, dass das Fahrzeug rechtskonform produziert wurde. Diese Übereinstimmungserklärung schütze daher den individuellen Käufer vor Pflichtverletzungen des Herstellers, also auch vor einer illegalen Abschalteinrichtung. Damit schütze also das Unionsrecht neben allgemeinen Rechtsgütern auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers. Die Mitgliedstaaten müssten daher vorsehen, dass der Käufer eines solchen Fahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz hat, so der EuGH.
Der BGH hatte hingegen der Übereinstimmungserklärung keine besondere Bedeutung zugemessen. Doch nachdem bereits der Generalanwalt im Juni 2022 ähnlich wie der EuGH jetzt argumentierte, legten sowohl der BGH als auch Land- und Oberlandesgerichte unter dem Gedanken der Unionstreue massenhaft Diesel-Verfahren auf Eis. Allein beim BGH sind mehr als 1.900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden anhängig.
Neue BGH-Entscheidung schon Anfang Mai
Der vor dem EuGH unterlegene Hersteller Mercedes gab sich derweil gelassen: Mercedes Benz-Fahrzeuge könnten uneingeschränkt genutzt werden. "Wie nationale Gerichte die Entscheidung des EuGH in Bezug auf das nationale Recht anwenden werden, bleibt abzuwarten", teilte der Autohersteller am Dienstag nach dem Urteil mit.
Lange ist hierauf nicht mehr zu warten. Der zuständige 6a-Zivilsenat des BGH, der sich als Hilfssenat allein mit Diesel-Schadensersatzansprüchen beschäftigt, hat für den 8. Mai bereits eine Verhandlung angesetzt, in der er die sich "möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht" erörtern will.
Die Konsequenzen des EuGH-Urteils dürften insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Verwaltungsgericht Schleswig in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil entschieden hat, dass Autos mit illegalem Thermofenster von der Straße genommen oder nachgerüstet werden müssen, erheblich sein. Denn dies dürfte Diesel-Fahrer zusätzlich motivieren, gegen Hersteller zu klagen.
Auf deutschen und europäischen Straßen sind nach Schätzungen der Deutschen Umwelthilfe (DUH) knapp 10 Millionen Diesel-PkW mit illegalem Thermofenster unterwegs.
Die weitere Frage des LG Ravensburg zur Anrechnung des Nutzungsvorteils bei der Rückabwicklung des Kaufvertrags, da der Wagen ja schließlich verwendet werden konnte, beantwortete der EuGH offener. In Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften sei die Schadensberechnung Sache des Rechts des Mitgliedstaates. Allerdings müsse der Schadensersatz im angemessenen Verhältnis zum entstandenen Schaden stehen. Die Frage, ob dies eine Schadensreduktion auf Null rechtfertigt, wenn ein Wagen z.B. 250.000 Kilometer gefahren wurde, dürfte den BGH dann künftig ebenfalls noch einmal beschäftigen.
Waterloo für europäische Automobilindustrie?: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51361 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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