Die Neuregelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren soll "Unerträgliches" verhindern und "Gerechtigkeit wiederherstellen". Für Thomas Fischer sind das bloße Behauptungen. Er warnt vor der Durchbrechung grundrechtlicher Garantien.
Im Jahre 1983 wurde Ismet H. vom Vorwurf des Mordes an einer jungen Frau freigesprochen. 39 Jahre später wird er wegen derselben Tat verhaftet. Hintergrund ist ein Wiederaufnahmeverfahren und ein am 25. Februar 2022 von einer Schwurgerichtskammer des LG Verden verhängter und vom zuständigen Senat des Oberlandesgerichts Celle bestätigter Haftbefehl (Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22, 2 Ws 86/22).
Am 14. Juli 2022 hat das Bundesverfassungsgericht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt (Beschl. v. 14.07.2022., 2 BvR 900/22). Das BVerfG hat sich, da es sich bei dem Vollzug von Untersuchungshaft um einen denkbar gravierenden Grundrechtseingriff handelt, andererseits die Rechtsgrundlage des Eingriffs erheblich umstritten ist (dazu sogleich) und eine Vereitelung des Normzwecks der Untersuchungshaft (§ 112 Strafprozessordnung (StPO)) durch mildere Maßnahmen (§ 116 StPO) verhindert werden kann, zutreffend für die Außervollzugssetzung des Haftbefehls entschieden.
Hierüber ist breit berichtet worden, in der allgemeinen Presse vielfach so, dass zwischen Eil- und Hauptsacheentscheidung kaum zu unterscheiden war. Daher ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Entscheidung des vorläufigen Rechtsschutzes handelt, welche hier wie in allen anderen Verfahren die Hauptsacheentscheidung weder vorwegnimmt noch auch nur – in der Regel – eine Prognose für sie erlaubt.
Neuregelung betrifft Kerngehalt von "ne bis in idem"
Ismael H. belastet eine (DNA)Spur, die 2012 ausgewertet wurde. Zum Zeitpunkt des Freispruchs war dies technisch noch nicht möglich. Nach – nicht zuletzt vom Vater der getöteten Frau initiierter – breiter rechtspolitischer Diskussion trat am 30.12.2021 das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" vom 21.12.2021 (BGBl. 2021 I 5552) in Kraft. Es lässt in § 362 Nr. 5 StPO eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten auch dann zu,
"wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (…) verurteilt wird."
Eine solche Wiederaufnahme war zuvor unzulässig, da sie dem Grundsatz "ne bis in idem" („nicht zweimal in derselben Sache) entgegensteht, der in Art. 103 Abs. Grundgesetz (GG) als grundrechtsgleiches Recht verankert ist (vgl. auch Art. 50 Europäische Grundrechtecharta, Art. 4 des Siebten Zusatzprotokolls zur EMRK, Art. 54 Schengener Durchführungsabkommen).
Unbefristete Drohung der Staatsmacht
Das als allgemeiner Rechtsgrundsatz geltende Verbot, Personen wegen desselben Tatvorwurfs zweimal zu verurteilen und im Fall eines Freispruchs erneut vor Gericht zu stellen, beruht auf der Erwägung, dass sich im Strafverfahren nicht (zivile) Parteien gegenüberstehen, sondern es sich um einen schwerwiegenden Eingriff des Staates in die Sphäre des ihm untergeordneten Bürgers handelt. Hat die Staatsmacht wegen eines bestimmten Tatvorwurfs gegen einen Bürger ermittelt und verhandelt, soll dieser davor geschützt sein, auf möglicherweise unabsehbare Zeit unter der Drohung zu leben, aus unvorhersehbaren Gründen, möglicherweise aus Opportunitätserwägungen, erneut mit einem Verfahren überzogen zu werden.
Nur für wenige Fälle spezieller Verfahrensfehler war bislang eine Durchbrechung dieses Grundsatzes zu Ungunsten von Angeklagten zulässig (§ 362 Nr. 1 bis 4 StPO). Dies waren Fälle, in denen wesentliche Grundlagen eines ersten Urteils offenkundig fehlerhaft waren (falsche Urkunden, erwiesene Meineide und Falschaussagen von Zeugen, Straftaten von Richtern, Geständnis des Beschuldigten).
Selbst neue Zeugenaussagen können zu Wiederaufnahme führen
§ 362 Nr. 5 hat dem nun eine im Grundsatz gänzlich offene weitere Wiederaufnahmemöglichkeit hinzugefügt, die sich allgemein auf "neue Tatsachen oder Beweismittel" bezieht. Damit stehen die in einem rechtskräftigen Urteil getroffenen Feststellungen insgesamt wieder offen und zur Disposition eines neuen Gerichts.
Es ist evident, dass mit einem derart weit gefassten Wiederaufnahmegrund in den Kerngehalt des "Ne bis in idem"-Grundsatzes eingegriffen wird. Denn "neue Beweismittel" oder "neue Tatsachen" sind in keinem einzigen Fall sicher auszuschließen, und die Bewertung dieser Beweismittel und Tatsachen unterliegt, wie alles andere, Entwicklungen und Veränderungen.
Im vorliegenden konkreten Fall geht es um eine DNA-Spur als neues Beweismittel. Auch im Gesetzgebungsverfahren ist weit überwiegend nur die Konstellation diskutiert worden, dass sich die Beweislage für lange zurückliegende Taten unter dem Gesichtspunkt neuer kriminaltechnischer Möglichkeiten verändert hat. Die Regelung gilt aber gleichermaßen auch für alle anderen Beweismittel, namentlich auch den Zeugenbeweis.
Gesetzestitel mit Schlagzeilencharakter
Nach Ansicht des Gesetzgebers ist bei schwersten Verbrechen "ein zu Unrecht erfolgter Freispruch schlechthin unerträglich" (BT-Drs. 19/30399, 9). Daher hat man in § 362 Nr. 5 eine Wiederaufnahme allein bei vollendeten Verbrechen für zulässig erklärt, die nicht verjähren und mit der Höchststrafe (lebenslang) bedroht sind.
Die Feststellung, ein "zu Unrecht erfolgter Freispruch" sei hier "unerträglich", ist eine bloße Behauptung, die sich nicht auf Rechtsgründe, sondern allein auf eine moralische Bewertung stützt. Sie enthält überdies eine Reihe von durchaus widersprüchlichen Voraussetzungen. Bereits der Gesetzestitel "Gesetz zur Herstellung von Gerechtigkeit" erscheint geradezu unernsthaft und wirkt eher wie die Schlagzeile eines Massenmediums denn als Zitat aus der Bundesgesetzgebung.
"Herstellung von Gerechtigkeit" ist ein allgemeiner, unspezifischer Begriff; diesem Zweck dienen alle materiellen und formellen Strafgesetze. Die Durchführung einer Wiederaufnahme und ggf. eines erneuerten Strafprozesses mit der Drohung lebenslanger Freiheitsstrafe ist als solche keineswegs eine Maßnahme der "Gerechtigkeit", sondern allenfalls ein Versuch, diese zu finden – mit ungewissem Ausgang.
Das falsche Gerechtigkeitsversprechen
Dies wird durch eine Terminologie und Diskussionsformen verschleiert, die stets schon voraussetzen, was sich möglicherweise erst ergeben soll: dass der Beschuldigte schuldig und der frühere Freispruch materiell falsch war. Diese Möglichkeit an das – Jahrzehnte nach der Tat und einem ersten Prozess stattfindende – Auftauchen einer neuen Zeugenaussage oder an die Hoffnung auf eine – niemals gänzlich fehler- und zweifelsfreie – Untersuchungsmethode zu knüpfen, mag kriminalpolitisch erwägenswert und so oder so zu bewerten sein; es erscheint aber verfehlt, dies mit dem Begriff "Herstellung von Gerechtigkeit" zu euphemisieren. Nur am Rande ist darauf hinzuweisen, dass, wenn man diesen Weg einmal eingeschlagen hat, selbstverständlich auch ein zweites Urteil in derselben Sache keineswegs "Gerechtigkeit" garantiert, sondern gleichfalls wieder "falsch" sein kann.
Die Beschränkung der Wiederaufnahme allein auf Straftaten, die nicht nach § 78 StGB verjähren, enthält keine eigenständige materielle Legitimation. Sofern hierdurch der erneute Zugriff auch auf extrem lange zurückliegende Taten ermöglicht wird, drängt sich vielmehr die Schwierigkeit auf, dass gerade so lange zurückliegende Taten besonders schwer in einem „zweiten Durchgang" aufzuklären sind, da erfahrungsgemäß die meisten Beweisergebnisse im Laufe der Zeit immer unsicherer werden.
Unrecht der Vergewaltigung ist nicht erträglicher
Gänzlich unklar bleibt auch die Beschränkung der "Herstellung von Gerechtigkeit" auf Taten, wegen derer lebenslange Freiheitsstrafe angedroht ist. Es liegt auf der Hand, dass "zu Unrecht ergangene Freisprüche" nicht "erträglicher" sind, wenn sie Taten der Körperverletzung mit Todesfolge, des Totschlags, der besonders schweren Vergewaltigung oder des Raubs mit Todesfolge betreffen, die nach 25 Jahren verjähren und deren Verjährung ggf. ruht oder (mehrfach) unterbrochen ist.
Das Kriterium der "Erträglichkeit" ist überhaupt nicht geeignet, diese Differenzierung zu tragen; es handelt sich um eine zeitabhängige, rechtspolitische, hochgradig unsichere moralische Bewertung.
Wiederaufnahmeregelung durchbricht grundrechtliche Garantien
Die Nicht-Einbeziehung "leichterer" Straftaten ist an sich kein Grund, die Beschränkung auf Höchststrafen-Taten für verfassungswidrig zu halten: Die Beschuldigten solcher Katalogtaten können im Grundsatz nicht vorbringen, sie würden anders behandelt, wenn sie leichterer Taten beschuldigt würden. Vielmehr richtet sich die Beschwerde dagegen, dass mit unzureichenden, sachwidrigen – und gegebenenfalls gleichheitssatzwidrigen – und populistisch konstruierten Kriterien grundrechtliche Garantien durchbrochen wurden, die ihrerseits einen direkten, schwerwiegenden Bezug zum Ziel der Gerechtigkeit haben.
Materielle Gerechtigkeit kann im Rechtsstaat nur in einem gerechten, fairen, menschen- und grundrechtsgetragenen Verfahren erreicht werden. Grundlegende Verfahrensgarantien mit der Begründung einzuschränken oder aufzuheben, sie stünden der "Herstellung von Gerechtigkeit" entgegen, ist daher eine zumindest einseitige Position, welche mindestens die Hälfte der Rechtswahrheit hinter einem populistischen Euphemismus verbirgt.
Antwort, im Ergebnis:
Die Einführung des Wiederaufnahmegrundes "neue Tatsachen oder Beweismittel" zu Ungunsten des Beschuldigten in § 362 Nr. 5 StPO ist nicht eine "bloße" Ergänzung der dort in Ziffer 1 bis 4 aufgeführten möglichen Wiederaufnahmegründe. Der Zugriff auf beliebige "neue Beweismittel" in einer unbeschränkten Vergangenheit stellt vielmehr eine Durchbrechung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 3 GG in seinen Grundlagen dar.
Dies stellt gerade bei besonders gravierenden Strafdrohungen einmal Beschuldigte unter eine lebenslange Drohung mit (immer) neuen tatsächlichen oder angeblichen Beweismitteln und jeden Freispruch unter den Vorbehalt einer Verdachtsprüfung unter gegebenenfalls geänderten rechtpolitischen Umständen und Vorstellungen.
Eine solche Durchbrechung des hohen Gutes der Rechtssicherheit ist durch die wenigen Einzelfälle, die bisher überhaupt diskutiert wurden und sich durchweg auf spezifische Konstellationen bezogen, nicht gerechtfertigt.
Von der Anklage schwerster Straftaten rechtskräftig Freigesprochene trifft keine Pflicht des Sonderopfers, lebenslang unter der Drohung der Verfahrenswiederholung zu stehen.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 06.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49232 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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