Was weiß ein Anwalt schon von den Problemen der Justiz – dabei hat ein provokanter LTO-Gastbeitrag mit seiner Analyse Recht, meint Amtsrichter Christian Häntschel. Er sieht aber andere Hürden bei Spezialisierung und Geschäftsverteilung.
Der Rechtsanwalt Sebastian T. Vogel beschrieb Anfang Juni in einem Gastkommentar für LTO die Sicht eines Lobbyisten für seine zahlenden Mandanten, ohne vor seiner eigenen Türe gekehrt zu haben. Wie er bei all den langen Schriftsätzen Zeit hat, solche Artikel zu schreiben, bleibt sein Geheimnis. Vermutlich "billt" er sogar noch den Artikel, bevor er in die nächste Konfliktverteidigung springt. Der ist doch nur frustriert. Einzelfälle. Nicht verallgemeinerbar. Der gibt der Politik ein Alibi für ihren Sparkurs.
So, nachdem die Plattitüden abgeräumt sind, kommen wir zum ernsten Teil: Meiner Auffassung nach hat er mit der Analyse im Groben recht, allein die gleichen Schlussfolgerungen mag ich nicht zu ziehen. Die beschriebenen Probleme sind zudem in der Justiz weithin bekannt. Er rennt mit seinem Beitrag offene Türen ein, bleibt uns aber konkrete Handlungsempfehlungen schuldig.
Ohne Fälle keine Spezialisierung bei der Richterschaft
Der Hinweis auf die notwendige Spezialisierung der Richter und Staatsanwälte ist so alt wie die Debatte um die Reform des Jurastudiums. Ihn zu wiederholen, hilft nur leider nicht weiter. Man sollte sich vielmehr die Frage stellen, warum dieser Kritikpunkt seit Jahrzehnten immer wieder auftaucht, von allen geteilt wird, sich aber doch (zumindest von außen betrachtet) nichts ändert. Zunächst einmal ist es keineswegs so, dass die Justiz die Spezialisierung nicht auf die Kette kriegt. Der Autor räumt selbst ein, dass in Arzthaftungskammern "tendenziell" das notwendige Wissen vorhanden ist. Das gleiche dürfte für Versicherungskammern und Baurechtskammern gelten. Ich bin mir außerdem sicher, dass die Kollegen in Frankfurt a.M. gut im Bank- und Kapitalmarktrecht oder Reiserecht spezialisiert sind, genauso wie andere Kollegen an anderen Schwerpunktgerichten.
Entscheidend für die Spezialisierung ist das Fallaufkommen: An den beispielhaft genannten Gerichten gibt es in aller Regel ausreichend Fälle. Ohne ausreichendes Fallaufkommen, keine Spezialisierung der Richterschaft. Ein "Fachrichter" für Anwaltshaftung ergibt vielleicht in Düsseldorf Sinn, in Leipzig dagegen eher nicht. Es bedürfte daher einer konkreten Empfehlung, wie diese Spezialisierung ohne Fallaufkommen geschaffen werden soll.
Der Verweis auf Fortbildungen hilft nicht, da es wie gesagt, wenig Sinn ergibt, bei einer Eingangsbelastung von vielleicht 0,05 Arbeitskraftanteilen mehrwöchige Fortbildungen pro Jahr zu absolvieren. Abhilfe mag da nur der Gesetzgeber schaffen, der Rechtsgebiete im Bezirk mehrerer Landgerichte an einem Landgericht konzentriert, so dass dort tatsächlich über den Lauf der Zeit die Leute sitzen, die das Rechtsgebiet "tendenziell" besser beherrschen. Diesen Umstand hat der Gesetzgeber auch schon erkannt, und den Ländern eingeräumt Urheberrechtstreitigkeiten zu konzentrieren (§ 105 Urheberrechtsgesetz).
Eine Empfehlung, die möglicherweise zu Effizienzsteigerungen führen würde, wäre, den Vorsitzenden der Spezialkammern/Spezialdezernenten bei der Staatsanwaltschaft eine höhere Besoldung angedeihen zu lassen. Das würde die Voraussetzungen schaffen Personal langfristig zu binden und auch der Justizverwaltung einen Anreiz zu geben, Richter/Staatsanwälte gezielt fortzubilden und auf diese Stellen zu befördern.
Nicht alle können Arzthaftungsrecht machen
Noch zutreffend dürfte die Beobachtung sein, dass Präferenzen der einzelnen Richter zu wenig Berücksichtigung bei der Ausstattung von Spezialkammern finden. Obwohl in Sachsen-Anhalt meiner Nahbereichsempirie nach seit einiger Zeit ein deutlicher Umschwung erkennbar ist. Das Ministerium und die Gerichtsverwaltungen sind hier bemüht, persönliche Wünsche in die Planungen aufzunehmen. Zur Wahrheit gehört im Justizalltag aber auch, dass nicht alle Arzthaftungsrecht machen können (was aufgrund des hier an der Universität angebotenen Masterstudienganges Medizin-Ethik-Recht durchaus beliebt ist). Auch sei erwähnt, dass sich die Präferenzen der Leute im Lauf ihres Berufslebens ändern können. Wer sieben Jahre lang Baurecht gemacht hat, hat vielleicht irgendwann genug Mängelbeweisbeschlüsse zusammengefriemelt und will mal in ein anderes Rechtsgebiet schauen.
Bei Rechtsanwälten regelt im Übrigen der Markt die Auswahl. Dort bedeutet weniger Fallaufkommen auch fehlende Spezialisierung. Gleichwohl ärgere ich mich nicht darüber, dass Bad Düben keinen Fachanwalt für Speditionsrecht vorhält. Auch hier scheint mir die "Zuständigkeitskonzentration" das Lösungsmittel der Wahl zu sein. Dann fahre ich mit meinem Rechtsstreit aus dem Transportwesen eben nach Leipzig.
Für die Rotation gilt im Grunde dasselbe. Hier wird zwar versucht, die Rotation nicht nur der Probe-, sondern auch der Lebenszeitrichter dem schon bestehenden Wissen anzupassen, insbesondere bei der Erprobung am Oberlandesgericht. So werden beispielsweise Kollegen, die an den Amtsgerichten Familienrecht machen während der Erprobung beim Oberlandesgericht auch in Familiensachen eingesetzt. Proberichtern mit Interesse am Strafrecht und seinen Teilen wird der Weg in die Staatsanwaltschaften mit Verplanungsperspektive geöffnet Die Proberichter sind hingegen Problemen ausgesetzt, die die Verwaltung beinahe nur mit ihnen lösen kann: Die Gerichte sind bedarfsgerecht auszustatten, Überlastungen sind meist temporär und es ändern sich, wie dargestellt, auch Präferenzen. Die Verwaltungen müssen daher auf mehr oder minder plötzliche Änderungen – krankheitsbedingt ausfallende Kolleginnen und Kollegen, ungewöhnlich hoher Arbeitsanfall oder Aktenstau – mit dem Einsatz von Proberichtern reagieren. Wenn dazu noch die Berücksichtigung persönlicher Wünsche kommt, hat man bei den nur ca. 140 Proberichtern hier in Sachsen-Anhalt viel zu organisieren.
Pebb§y bestraft auch die Fleißigen
Uneingeschränkt zustimmen kann ich der Analyse zu PEBB§Y, dem System, das den Personalbedarf bei Gerichten und Staatsanwaltschaften berechnet. Denn die schnelle Abarbeitung von Akten führt nicht selten zu Mehrarbeit. Fälle, in denen das Bundeszentralregister mit über 20 Suchvermerken vollgestopft ist, lassen sich nicht anders erklären. Zur Veranschaulichung: Der B ist ohne festen Wohnsitz und begeht im Bundesgebiet kleinere Straftaten. Daher ermitteln 20 Staatsanwaltschaften gegen ihn. Alle stellen ihre jeweiligen Verfahren gegen den B vorläufig nach § 154f StPO ein, weil der B nicht greifbar ist und schreiben ihn zur Aufenthaltsermittlung aus. Das bedeutet, dass die Polizei den B, wenn sie ihn im Bundesgebiet antrifft, zu seiner ladungsfähigen Anschrift befragt und diese dann den 20 Staatsanwaltschaften mitteilt. Alle 20 ermitteln nun, ob der B sich tatsächlich dort aufhält, was meist nicht der Fall ist. Würde ein einziger Staatsanwalt, statt das Formular für § 154f StPO zu ziehen (Zeitaufwand 1 Minute), alle 20 Akten anfordern und ggf. einen Haftbefehl beantragen (weil es in der Summe der Verfahren dann dafür reicht; Zeitaufwand zwei Stunden, ggf. mehr), müssten nicht 20 Geschäftsstellen im Zwei-Jahrestakt oder öfter Wiedervorlageübungen abhalten. Ich mache mir die Arbeit, soweit es am Gericht möglich ist. Das sorgt hier in der Regel dafür, dass die hiesige Staatsanwaltschaft hinsichtlich dieses Beschuldigten für meinen Bezirk "durch" ist. Ich kriege in den Fällen meist auch nichts mehr. Insgesamt habe ich dadurch weniger Arbeit.
Die übrigen Beobachtungen Vogels zu Ermittlungen und den Einstellungen nach §§ 153, 170 Abs. 2 StPO habe ich auch schon gemacht, sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch bei Gericht. Das lässt sich nicht vermeiden. Es spielt in einer Liga mit der schlecht vorbereiteten Klage, die Hinweise über Hinweise erfordert, die schlecht vorbereiteten Vergleichsverhandlungen, die schlechte Sachaufklärung und so weiter. All das verursacht nicht unerheblichen Mehraufwand, kommt aber bei uns allen in der Rechtspflege vor.
Die Geschäftsverteilung ist zu unbeweglich
Was bleibt? Die Kritikpunkte rund um Spezialisierung, Einstellungspraxis, Rotation sind in der Justiz bekannt und es gibt Anstrengungen dafür Lösungen voranzutreiben. Dabei stößt die Praxis auf Hindernisse, bei denen "mehr Spezialisierung, bessere Einstellungspraxis und bessere Rotationen" viel einfacher gesagt als getan ist.
Meines Erachtens gibt es noch einen Teil des Problems daneben: Das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf den/die einen gesetzlichen Richter ist zu streng und macht die Geschäftsverteilung zu unbeweglich. Erreicht werden soll doch nur, dass der Staat keinen Einfluss auf den zur Entscheidung berufenen Richter nehmen kann Ich kann als Richter am Amtsgericht nicht alle Fälle der Republik an mich ziehen, wenn ich beispielsweise den zuvor genannten B in Haft genommen und tatsächlich vor Ort habe. Auch wenn das in der Gesamtbilanz der Staatsanwaltschaft und den Gerichten viel Extraarbeit abnehmen würde.
Theoretisch könnte ich übrigens schon versuchen, die Fälle an mich zu ziehen, aber wer sich einmal mit den Voraussetzungen von § 13 Abs. 2 Strafprozessordnung befasst hat – Vereinbarung der Gerichte unter Beteiligung der Staatsanwaltschaften, wobei der Zeitbedarf hierfür meist größer als bis zur Hauptverhandlung zur Verfügung steht – sieht, warum das faktisch nicht passiert. Das hat zwar nichts mit der Spezialisierung zu tun, würde uns allen in der Summe aber Arbeit ersparen.
Mangels konkreter neuer Verbesserungsvorschläge bleibt der Justiz also nur, mehr Personal einzustellen. In Anbetracht des anstehenden Generationenwechsels gerade im Osten tut sie auch gut daran, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen.
Der Autor Christian Häntschel ist Richter am Amtsgericht Aschersleben.
Die Justiz braucht nicht allein mehr Personal: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52049 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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