Auf die Frage, wie denn der Richter so ist, können Anwälte den Mandaten nur selten eine belastbare Antwort geben. Softwarebasierte Urteilsanalysen aber werden viel mehr verändern als nur die Berechenbarkeit von Justiz, meint Volker Römermann.
Als erste Urteilstexte automatisch erfasst und ausgewertet wurden, stellte das gegenüber früherer Zeit eine wahre Revolution dar. Ausgedient hatten "Fundstellenverzeichnisse", in denen man mühsam unterschiedliche Fundstellen veröffentlichter und irgendwo zitierter Entscheidungen abgleichen und schließlich auffinden konnte.
Auch Inhaltsverzeichnisse von Zeitschriften und Urteilssammlungen sind seither nur noch (von Verlagen liebevoll gehegte) Reminiszenzen an eine längst verblasste Epoche. Über die nun möglichen Textanalysen wurde ein wesentlicher Aspekt vernachlässigt: die Autoren eben dieser Texte, die Richter also, und deren allentscheidender Einfluss. Sie geraten aber zunehmend in den Blick automatisierter Analysetools. Und das mit beachtlichen Folgen für das Gesamtsystem.
"Wie ist denn der Richter so?"
Welcher Jurist, welcher Anwalt zuvörderst, kennt diese Frage nicht: "Wie ist denn die/der Vorsitzende so?" In grauer Vorzeit, als Anwälte noch singular, bei einem Amts- und Landgericht also (oder noch weiter zurück: bei einem Amts- oder einem Landgericht) zugelassen waren, begegneten sich Anwälte und örtliche Richter oft, zuweilen täglich. In bestimmten Rechtsbereichen ist das weiterhin verbreitet so, auch wenn Lokalisationszwänge vor zwei Jahrzehnten weggefallen und die Anwälte mobiler geworden sind. In der Regel aber kreuzen sich die Wege von Richtern, die ihre Stelle wechseln, und Anwälten, deren Fälle und Tätigkeitsorte fortlaufend Veränderungen unterworfen sind, nur noch gelegentlich.
Dementsprechend vage fallen zumeist die Antworten auf die eingangs gestellte Frage aus, und einsilbig: "Streng", "formal", "wirtschaftlich orientiert", "faul", "detailversessen", häufig versehen mit Einschränkungen, etwa: "Eher", "tendenziell", "in unserem letzten Prozess". Gern wird auch auf längere Beobachtung gemünzt: "früher eher …, heute …".
Mandanten hängen ihren Anwälten bei solchen Gelegenheiten an den Lippen. Etwas Mystisches, Seherisches haftet derartigen Momenten an. Jedes Wort, jede Bewegung des Anwalts werden gedeutet, die Chancen und Risiken des eigenen Prozesses daraufhin neu gewogen und bewertet. Wichtige Momente sind das. Hier zeigt sich das ganze Vertrauen der persönlichkeitsbezogenen Verbindung des gläubigen Mandanten zu seinem anwaltlichen Beistand und Führer. Sind derartige Einschätzungen, nüchtern betrachtet, etwas wert? In den seltensten Fällen. Viel zu dünn ist die empirische Grundlage des Beurteilers, zu verschieden sind die Konstellationen und zu wankelmütig die zu beurteilenden Personen.
Legal Tech ermöglicht Analysen
Die Zeiten menschlicher Urteile sind (noch) nicht vorbei. Kaum sichtbar, aber mit zunehmender Wucht werden ihnen jedoch schon heute Rechner an die Seite gestellt. Nicht so sehr den Richtern, in der Justiz hält man gern, zuweilen etwas verträumt, am Postulat individueller Rechtsgestaltung und übernormativer Gerechtigkeit fest. Aber den Anwälten. Das erleichtert ihnen die Arbeit enorm. Das Zeitalter von Legal Tech ist vor Jahren angebrochen und langsam zeichnet sich ab, wohin die Wege führen.
Einige Legal-Tech-Unternehmen widmen der Vorhersagbarkeit richterlicher Entscheidungen ein besonderes Augenmerk. Sie erfassen zum Teil nicht nur die Urteilstexte, sondern, wo immer sie ihrer habhaft werden können, auch die Namen der beteiligten Richter. Gelänge eines Tages die Vollerfassung der – immerhin doch öffentlich verkündeten – Sentenzen inklusive Richternamen, so könnte die Karriere von Richtern über jede Station vom Amtsgericht bis womöglich zum Bundesgerichtshof mit jeder einzelnen Entscheidung nachvollzogen werden, an welcher derjenige mitgewirkt hätte.
Berufliche Profile
Computer könnten ein komplettes Urteilsszenario auswerten, jeden Satz, jedes Wort, jeden Paragraphen, jedes Zitat auf Häufigkeit, auf Wiederholung, auf Kontexte hin prüfen. Operiert dieser Richter häufig mit § 242 BGB, tendiert er zu "erweiternden" Auslegungen, zitiert er aus Büchern zur Methodenlehre? Oder ist er Positivist, unterstellt jeden Sachverhalt bestimmten Normen, verzichtet auf Zitate (außer aus dem Palandt vielleicht), will den Anschein erwecken, es ergäbe sich alles aus dem Wortlaut der Vorschriften? Gibt jemand sich Mühe, kaum ein Urteil unter zwanzig Seiten, oder formuliert er apodiktisch, drei Seiten Begründung sind schon viel? Wo ist derjenige Experte, hat vielleicht schon darüber promoviert, viele Urteile verfasst, und wo betritt er unsicheres Terrain?
Eine Komplettauswertung ergäbe, in Tiefe ausgeführt, eine Art berufliches Profil des zuständigen Richters. Geht so etwas? Ist es ein Eingriff in dessen Persönlichkeitsrechte, in den Datenschutz vielleicht? So wird zum Teil argumentiert und ein französisches Gesetz hat darauf bereits ein Verbot des Sammelns und der Analyse richterbezogener Daten gestützt.
In Wahrheit gibt es nur einen einzigen Grund dafür, richterbezogene Auswertungen zu verbieten und womöglich gar – wie in Frankreich – mit Haftstrafen zu bedrohen: Man will Versäumnisse und Probleme innerhalb der Justiz nicht ans Tageslicht gelangen lassen. Es wäre müßig, sich länger mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, inwieweit Transparenz und Analyse von Urteilen private Persönlichkeitsschutzinteressen von Richtern berühren könnten. Denn das ist offenkundig abwegig. Es geht schließlich um Arbeitsergebnisse.
Was darf ausgewertet und verknüpft werden?
Querbezüge zu anderen Texten sind allerdings technisch möglich, zu Dissertationen, Zeitschriftenbeiträgen, Festschriften, Blogs. Facebook könnte einfach verraten, ob der Dieselgate-Richter Volkswagen fährt, passionierter Radfahrer ist, jeden Beitrag von Greta Thunberg bei Instagram mit vehementem Zuspruch versieht. Man könnte erwägen, hier zu differenzieren: Fachliche Äußerungen ohne Weiteres in den Bereich auswertbarer Datenbestände einzubeziehen, private Social-Media-Aktivitäten dagegen auszuklammern.
Tendenziell spricht mehr gegen als für derartige Tabuzonen: Zum einen, weil es derartige Auswertungen derzeit schon – und völlig legal – gibt, etwa bei Dieselgate. Zum anderen, weil derjenige, der sich in die Social-Media-Öffentlichkeit begibt, auf eine Abschirmung seiner Privatsphäre insoweit verzichtet.
In einem sozial orientierten Arbeitsrecht mag man das zwecks politisch erwünschter Privilegierung von Arbeitnehmern zuweilen anders sehen. Richter und Rechtsanwälte wissen aber, was sie tun, zumindest wird das regelmäßig angenommen. Und es gibt auch ein anzuerkennendes Interesse der Parteien daran, Indizien überhaupt einmal festzustellen, welche etwa eine Befangenheit indizieren könnten – und das idealerweise, ohne dabei auf die Freude der betroffenen Person an der Selbstbezichtigung angewiesen zu sein.
Echte Gerichtsöffentlichkeit
Endlich, so muss man sagen, wird die Gerichtsöffentlichkeit im Legal-Tech-Zeitalter zu etwas werden, das – seit 1878 zum ersten Mal, aber immerhin – diesen Namen auch verdient. Außer wenn es juristisch ausnahmsweise richtungsweisend ist wie die BGH-Entscheidung zum Legal-Tech-Unternehmen Lexfox, politisch relevant wie die RAF-Prozesse oder auch der sog. NSU-Prozess oder boulevardesk bunt wird, gibt es schließlich keine Beobachter dessen, was sich vor Gericht abspielt. Künftig können mit vergleichsweise einfachen Mitteln automatisierte Berichte von Prozessverläufen und Chronologien richterlichen Wirkens erstellt werden.
Die Öffentlichkeit wird dadurch ungeahnte Einblicke in die Funktionsweise der Justiz erhalten. Sie wird bemerken, wie oft und aus welchen Gründen Urteile aufgehoben werden. Sie wird feststellen, welche Richter sich mit neueren Rechtsentwicklungen auseinandersetzen und welche nicht. Sie wird staunen. Sie wird verzweifeln. Sie wird sich gelegentlich der Schönheit und des Tiefgangs richterlicher Sentenzen erfreuen. Sie wird im Glauben an den Rechtsstaat bestärkt oder erschüttert werden, soweit sie ihn bis dahin noch hatte.
Leistungsanreize
Wenn die Justiz es wollte und die neue Welt als Chance wahrnähme, könnten Richterlaufbahnen sachorientierter gesteuert werden. Persönliche Sympathien und Antipathien, Fähigkeit zu eigenem Netzwerken, Zufälligkeiten persönlicher Beobachtung, einzelne, typischerweise doch in kanonisierten Formeln erstarrte Formulierungen in Zeugnissen verlören an Einfluss. Die Qualität der Arbeitsergebnisse gewönne. Wenn sich Karrieren eher an der Güte von Urteilen bemessen als an der Nähe zu Beurteilern, steigert das die "richtige" Motivation. Ja, es steht zu erwarten, dass die öffentliche Beobachtung das juristische Engagement erhöht, da künftig noch mehr Anreize gesetzt werden.
Auch die Anwälte, soweit forensisch tätig, geraten stärker in den Blickwinkel der automatisierten Leistungserfassung. Wenn – wie etwa beim Bundesverfassungsgericht mit deren jeweiligem Einverständnis üblich – die Prozessbevollmächtigten in den Urteilen erwähnt werden, können ihre Personen in die Analyse einbezogen werden.
Ebenso wie bei Richtern gibt es keinen Grund, nicht schon jetzt alle Namen zu veröffentlichen, wie es beispielsweise bei Prozessberichten in der lto häufig geschieht. Es ist kein legitimes Schutzinteresse von Anwälten erkennbar, in ihrer beruflichen Tätigkeit nicht von derjenigen Öffentlichkeit beobachtet zu werden, der sie sich durch die gerichtliche Aktivität aussetzen. Engagierte, erfolgreiche Rechtsanwälte werden damit kein Problem haben. Die Probleme der Übrigen sind rechtlich nicht anerkennenswert.
Eine bessere Justiz
Automatisierte Auswertungen können aus Urteilen die Teile herausfiltern, in denen auf den jeweiligen Parteivortrag Bezug genommen wird, und dessen Erfolg bei Gericht kann verifiziert werden. Dabei werden tiefergehende Programme in Fällen, in denen die Anwälte keine Zustimmung des Gerichts fanden, weiter analysieren, ob das Gericht oder der Anwalt Recht hatte – und über die Instanzen Recht behielt.
Die personalisierten Beobachtungen von Richtern und Rechtsanwälten werden einfließen in Portale, die - anders als derzeit richterscore.de nur für Anwälte - öffentlich zugänglich sein werden. Dort werden Mandanten zukünftig erkennen können, welche Anwälte bei den für ihren Prozess zuständigen Richtern typischerweise erfolgreich agieren und welche Herangehensweise, welche Art der Argumentation in der Vergangenheit gefruchtet hat.
Die allgemeine Transparenz beflügelt die Marktkräfte: Die Schlechten verlieren an Marktanteilen, die Guten gewinnen. Gute Anwälte werden öfter mandatiert, gute Richter leichter befördert. Der Ausgang von Gerichtsverfahren lässt sich einfacher und deutlich präziser prognostizieren als je zuvor. Mandanten bekommen für ihr Geld eine bessere Leistung. Prozessparteien erhalten, was ihnen in der Theorie doch schon lange zusteht: eine bessere Justiz. Eigentlich müsste die öffentliche Hand Legal Techs fördern, wenn sie so schöne Beiträge zur Verwirklichung des Rechtsstaats leisten.
Der Autor Prof. Dr. Volker Römermann ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG, Direktor des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und President der German Speakers Association (GSA).
Wenn Legal Tech die Justiz erfasst: . In: Legal Tribune Online, 02.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39461 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag