Es braucht geschützte Freiräume, in denen Legal-Tech-Unternehmen und Anwaltskanzleien Geschäftsmodelle ausprobieren können, meint Cord Brügmann. Solche Regulatory Sandboxes gibt es bereits – warum also nicht auch fürs deutsche Recht?
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) hat es gerade vorgemacht: Im Sommer 2019 veröffentlichte es ein Programm namens "Freiräume für Innovationen". Damit hat das Ministerium die Grundlage für sogenannte Regulatory Sandboxes geschaffen. Das sind geschützte Räume, in denen neue Geschäftsideen entwickelt werden können.
Die gesetzlichen Vorschriften für den jeweiligen Markt (sei es Finanzen, Verkehr, Energie oder Gesundheit), die vorwiegend dem Verbraucherschutz dienen, sind dort gelockert. An ihre Stelle treten Experimentierklauseln und eine genaue Beobachtung durch die Aufsichtsbehörden. Das erlaubt unternehmerische Freiheit und schafft gleichzeitig Erkenntnisse für Gesetz- und Verordnungsgeber.
Hauptgrund für die Einrichtung der Regulatory Sandboxes war die Beobachtung, dass neue Technologien und digitale Geschäftsmodelle zu häufig mit der Unsicherheit konfrontiert sind, ob sie die Grenzen der gesetzlichen Regulierung verletzen, die noch für die analoge Welt geschaffen waren. Außerdem hat das BMWi erkannt, dass es die gesetzlichen Rahmenbedingungen angesichts des rasanten Fortschritts der Digitalisierung dauernd überprüfen und anpassen muss - und dass dafür neue Erkenntnismethoden nötig sind.
Reallabore: Technologien testen, dabei Verbraucherschutz wahren
Das BMWi nutzt für den englischen Begriff der Sandbox die Übersetzung "Reallabor". Das ist zutreffend, macht aber eine Begriffsklärung nötig. Reallabore unterscheiden sich von Inkubatoren, Akzeleratoren und sonstigen privaten Innovationslaboren dadurch, dass darin nicht nur Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden. Der besondere Charme der Reallabore liegt darin, dass in ihnen Regulierung flexibilisiert ist. Außerdem kommunizieren darin Unternehmen, Stakeholder und Aufsichts- / Regulierungsbehörde miteinander "am Fall". Das erlaubt unternehmerische Innovation und die gemeinsame Suche nach angemessenen rechtlichen Rahmen.
International entstanden die ersten Modelle solcher Reallabore seit 2015, als sogenannte Fintechs aufkamen, die sich nicht einfach ins Gefüge des regulatorischen Finanzmarkt-Rahmens einpassen ließen. Der Hauptgrund: Innovationen in der Fintech-Branche sollten gefördert werden, ohne den Verbraucherschutz gleichzeitig zu schmälern. Ganz früh führte die britische Finanzaufsichtsbehörde deshalb Reallabore im Jahr 2016 ein, mit dem ausdrücklichen Ziel, den Wettbewerb um innovative Finanzmarktprodukte im Interesse der Verbraucher zu stärken. Neben anderen folgten Singapur, die Niederlande, Kanada, die Schweiz, Spanien, die USA und 2019 einige weitere EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen.
Eine Experimentierumgebung für Legal Tech
Was hat das nun mit dem Rechtsmarkt zu tun? Der ist – wie der Finanzmarkt – stark reguliert, um die Empfänger der jeweiligen Dienstleistungen zu schützen. Die Digitalisierung hat in beiden Bereichen zu beeindruckenden Innovationen geführt. Diese erweitern das traditionelle Handwerkszeug erweitern und stellen gleichzeitig regulatorische Rahmenbedingungen infrage.
Sowohl das Rechtsdienstleistungsrecht als auch das Berufsrecht der Rechtsanwälte brauchen eine Modernisierung. Die Anwaltschaft und Legal-Tech-Unternehmen sehen Reformbedarf, sie haben sich aber über Einzelfragen wie dem Provisionsverbot oder dem Umfang, in dem Erfolgshonorare zugelassen werden sollten, verhakt. Die Frage nach dem Umfang von Vorbehaltsaufgaben nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz wird zur Zeit gar nicht politisch diskutiert, sondern liegt bei den Gerichten.
Außerdem haben sich die Parameter für Reformen fundamental geändert: Anders als noch vor 15 Jahren, als das Rechtsdienstleistungsgesetz das in die Jahre gekommene Rechtsberatungsgesetz ablösen sollte, drängen heute nicht nur neue Anbieter auf den Markt, sondern die Angebote selbst haben sich dramatisch verändert. Daher braucht das BMJV neue Erkenntnisquellen, wenn es seiner Aufgabe, den Rechtsmarkt insgesamt in den Blick zu nehmen, gerecht werden will.
Von der Fintech-Branche etwas abgucken?
Können Fintech-Reallabore als Vorbild dienen? Ja, aber das BMJV müsste gar nicht in andere Branchen schauen. Denn Reallabore für den Rechtsmarkt sind kein Gedankenexperiment mehr, sondern werden schon in verschiedenen Ländern erprobt. Vorreiter ist hier wieder Großbritannien. Dort hat die Solicitors Regulation Authority (SRA), die als unabhängige öffentlich-rechtliche Körperschaft Kanzleien und Anwälte verwaltet und auch gewisse Befugnisse zur untergesetzliche Normsetzung hat, schon im Jahr 2016 einen "Innovation Space" geschaffen, der sich von einem Reallabor nicht wesentlich unterscheidet. In diesem Innovationsraum können Anbieter unter strenger Aufsicht für einen begrenzten Zeitraum neue Rechtsdienstleistungen testen. Dafür kann die SRA auf Antrag untergesetzliche Berufsregeln außer Kraft setzen.
Im August 2019 beschloss im US-Bundesstaat Utah der Supreme Court, bei dem die Aufsicht über die Rechtsanwälte liegt, ein Regulatory-Sandbox-Modell als Pilotprojekt zu erlauben. Das hatte zuvor eine Arbeitsgruppe zur Reform der Regulierung des Rechtsdienstleistungsmarkts vorgeschlagen. In Utah soll es möglich sein, dass Anwaltskanzleien mit nicht-anwaltlichen Partnern und Kanzleien, deren innovative Angebote nur mit Fremdkapital finanziert werden können, zunächst auf Zeit und unter Beobachtung arbeiten. Ähnliche Modelle wurden geschaffen oder werden gerade diskutiert, unter anderem in Singapur, Korea und im US-Bundesstaat Kalifornien.
Die Anwaltsorganisationen in den genannten Ländern sind in die Entwicklungen eingebunden. In England & Wales hatte die Law Society die Einführung einer Regulatory Sandbox schon 2016 ausdrücklich als rechtssicheres und überprüfbares System der Innovationsförderung angeregt. In Utah und Kalifornien haben Anwaltsorganisationen, Verbraucherschützer, Justiz und Wissenschaft die Vorschläge für Reallabore gemeinsam erarbeitet. Viele Legal-Tech-Unternehmen begrüßen die Entwicklungen.
Zwischenzeitlich in Deutschland...
Zurück nach Deutschland: Die ausländischen Beispiele für Regulatory Sandboxes im Rechtsmarkt sowie die Reallabore des BMWi eignen sich als Vorlage für unseren Rechtsmarkt. Die Bundesregierung, die den politischen Willen hat, Digitalisierung voranzutreiben, sollte auch in diesem Bereich Innovationen fördern wollen. Das ist nötig schon angesichts der oben beschriebenen Veränderungen, aber auch angesichts eines Rückgangs der Eingangszahlen in der Ziviljustiz und erheblich sinkender Zahlen zugelassener Rechtsanwälte.
Innovative Rechtsdienstleistungen brauchen wir aber auch, weil der deutsche und der EU-Gesetzgeber in den vergangenen Jahren im Verbraucherrecht Ansprüche geschaffen haben, die massenhaft entstehen und jeweils einen niedrigen Streitwert haben. Anwälte haben dafür keine Angebote mit ihrem herkömmlichen Handwerkszeug. Das BMJV könnte als Rechtsstaats- und als Rechtsmarktministerium Innovationstreiber sein und deutlich machen, dass Reallabore nicht nur einseitig den Legal-Tech-Startups außerhalb der Anwaltschaft dienen, sondern auch innovativen Anwaltskanzleien.
Die schon erwähnte Reform, die 2007 mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz eine Liberalisierung des Rechtsmarkts gebracht hat, war in Teilbereichen begründet mit einer Rechtsschutzlücke: Die Anwaltschaft habe eine ausreichende Versorgung bedürftiger Bevölkerungsteile nicht sichergestellt, hieß es damals. Daher war das "Anwaltsmonopol" in diesem Bereich nach Ansicht des Gesetzgebers nicht zu rechtfertigen. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, sollte daher die Anwaltschaft dort, wo sich entsprechende Angebote nur mit Hilfe von Legal Tech wirtschaftlich rechnen, diese selbst anbieten.
Dafür muss man heute nicht gleich die Grenzen von Rechtsdienstleistungs- und Berufsrecht einreißen. Es genügt, sie in Reallaboren zu lockern. In diesen könnte getestet werden, ob Provisionsverbot, das ausnahmslos geltende Verbot reiner Kapitalbeteiligungen, das weitgehende Verbot von multidisziplinären Partnerschaften und von generellen anwaltlichen Erfolgshonoraren sowie das teilweise PR-Bono-Verbot nicht flexibilisiert werden können.
Auch die rechtspolitische Debatte über Vorbehaltsaufgaben könnte besser gelingen, wenn Geschäftsmodelle nicht nur auf Podiumsdiskussionen gedacht, sondern ohne Sorge vor RDG-Verstößen in Reallaboren ausprobiert werden.
Dr. Cord Brügmann ist Rechtsanwalt in Berlin und berät öffentliche und private Auftraggeber u.a. zu Fragen der Regulierung von Vertrauensberufen. Bis 2018 war er Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins.
Risiko und Legal Tech: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38827 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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