Die britische Regierung hat das Handelsabkommen mit der EU mit großem Getöse gefeiert. Was das Wettbewerbsrecht betrifft, kommt der Vertrag aber einem harten Brexit mit massiven wirtschaftlichen Nachteilen gleich, meint Ulrich Soltész.
Bescheidenheit ist offenbar keine britische Tugend mehr - zumindest keine, die in Westminster gepflegt wird. Nach dem Durchbruch am Heiligabend hat Premierminister Boris Johnson mit völlig hemmungslosem Eigenlob den Abschluss des EU-UK Trade and Cooperation Agreement (TCA) als seine historische Errungenschaft gepriesen.
Soweit das Wettbewerbsrecht betroffen ist, passt das von ihm üblicherweise genutzte Vokabular - "world-beating", "unprecented", "start of a golden age" etc. - jedoch überhaupt nicht. Denn der Brexit führt zum Auseinanderbrechen eines einheitlichen Kartellrechtsraumes. Für Unternehmen, Verbraucher und Berater auf beiden Seiten des Ärmelkanals hat dies höhere Rechtsunsicherheit und mehr Aufwand zur Folge. Irgendwelche Vorteile, die dies aufwiegen, sind gegenwärtig nicht zu erkennen.
Für das Kartellrecht enthält das TCA sehr wenig. Es enthält nur die Verpflichtung, die bisherigen Säulen der Wettbewerbspolitik - Kartellverbot, Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle – irgendwie beizubehalten. Dies ist, wohl bewusst, wenig ehrgeizig und schafft kaum Mehrwert. Denn es ist unwahrscheinlich, dass die Europäische Union und das Vereinigte Königreich diese international etablierten Instrumente künftig aufgeben würden. Das TCA stellt umgekehrt aber auch klar, dass künftig zwei eigenständige Rechtsordnungen unabhängig voneinander mit der Kartellrechtsdurchsetzung betraut sind. Das ist nicht gut für die Praxis.
Parallele Kartellverfahren werden zum Normalfall
Im Bereich der Kartellvorschriften und der Missbrauchskontrolle existiert seit bald 20 Jahren auf EU-Ebene das European Competition Network (ECN). Dies ist ein arbeitsteiliges, eingespieltes und bewährtes System, das eine weitgehende Konzentration bei der EU-Kommission oder den nationalen Kartellbehörden (NCAs) gewährleistet. All diese Behörden wenden die gleichen materiellen Vorschriften an. Doppelzuständigkeiten, parallele Verfahren und negative Zuständigkeitskonflikte werden durch das ECN weitgehend eliminiert. Kurz gesagt: eine erhebliche Vereinfachung für Unternehmen sowie Behörden. Damit eine Win-Win-Situation.
Ab 2021 gilt dies im Verhältnis EU/Großbritannien nicht mehr. Parallele Verfahren sind dann der Normalfall. Künftig müssen Unternehmen also ihre komplexen horizontalen und vertikalen Kooperationsvereinbarungen auch von der britischen Competition and Markets Authority (CMA) absegnen lassen. Die Verfahren folgen anderen Regeln und die Behörden beiderseits des Kanals können zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Dieses Nebeneinander verschiedener Kartellrechtssysteme führt zu zahlreichen Reibungsverlusten. Es wird insbesondere dann sehr unübersichtlich, wenn parallel mit mehreren Behörden über untersagungsabwendende Zusagen verhandelt werden muss, und diese unterschiedliche Vorstellungen haben.
Komplexer wird es auch bei Kartellbußgeldverfahren. Wenn ein Unternehmen einen Hard-core-Verstoß aufdeckt, z.B. aufgrund einer internen Compliance-Untersuchung, dann muss es nicht nur einen Kronzeugenantrag in der EU stellen, um Bußgeldfreiheit zu erlangen. Es muss zudem bei der CMA einen solchen "Leniency"-Antrag einreichen und ein aufwändiges Verfahren durchlaufen.
Fusionskontrolle: Wegfall des One stop shop
Mit dem Brexit haben die Briten auch Abschied vom umfassenden One stop shop nach der EU-Fusionskontrollverordnung genommen. Bisher mussten Zusammenschlüsse oberhalb einer gewissen Grenze nur in Brüssel genehmigt werden. Eine Anmeldung bei den Kartellbehörden der EWR-Staaten war nicht erforderlich.
Diesen wichtigen Effizienzvorteil hat der Brexit leider im Hinblick auf Großbritannien vollständig eliminiert. Unternehmen müssen jetzt in vielen Fällen ein zusätzliches aufwändiges Verfahren bei der CMA durchlaufen. Diese scheint ihre neue aufgewertete Rolle sehr ernst zu nehmen und ist jüngst in überaus umfangreiche Prüfungen eingetreten.
Eines ist daher jedenfalls sicher: Wegen dieser Zuständigkeitsverdopplung müssen die anmeldenden Unternehmen künftig bei M&A-Transaktionen deutlich höhere Rechtsberatungskosten tragen.
Kompromiss im Streit um Beihilfekontrolle
Eine der der politisch umstrittensten Fragen bei den TCA-Verhandlungen war die Beihilfekontrolle. Hier hat man sich letztlich auf einen Kompromiss geeinigt. Das TCA sieht einige inhaltliche, aber verwässerte Vorgaben für die Zulässigkeit von Beihilfen in der EU und Großbritannien vor. Sie lehnen sich an die EU-Regeln an, wobei mit einigen kosmetischen Formulierungen Rücksicht auf die britischen Souveränitätsbefindlichkeiten genommen wurde. Hinzu sollen Durchsetzungsmechanismen treten, die aber für die britische Seite noch entwickelt werden müssen.
Auch in dieser Hinsicht bietet die neue post-Brexit-Welt keine offensichtlichen Vorteile für Unternehmen gegenüber früher. Viel wird noch von der Ausgestaltung des neuen UK-Beihilfekontrollsystem und dessen praktischer Handhabung abhängen. Hier enthält das TCA noch viel Streitpotential. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das neue System den gleichen Schutz gegen wettbewerbsverzerrende Subventionen bietet wie bisher.
Die neuen Regeln mögen der britischen Regierung künftig mehr Freiheit bei der Wirtschaftsförderung geben. An einer großzügigen Subventionsvergabe hatten die Briten jedoch nie Interesse. Und die Kommission hat ihnen während ihrer Mitgliedschaft praktisch nie verboten, Beihilfen zu gewähren.
Umgekehrt hatten britische Unternehmen früher von der rigiden EU-Beihilfepolitik profitiert. Immer wieder hat Brüssel anderen Mitgliedstaaten untersagt, ihre nationalen Champions zu unterstützen und damit britische Player vor Wettbewerbsverzerrungen geschützt. Dieser Vorteil geht mit der Verwässerung der Beihilfekontrolle teilweise verloren.
Private Kartellrechtsdurchsetzung wird schwieriger
Für kartellrechtliche Prozesse vor den nationalen Gerichten gilt die EuGVVO jetzt im bilateralen Verhältnis EU/Großbritannien nicht mehr. Die EuGVVO regelt die Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung in Zivilsachen. Ein Ersatz dieses Regelwerks, das den praktischen Bedürfnissen des Rechtsverkehrs entspricht, ist nicht vorgesehen. Damit schafft der Brexit Rechtsunsicherheit und entwertet erstrittene Urteile.
Vor allem aber sind die britischen Gerichte künftig nicht mehr an die kartellrechtlichen Beschlüsse der Kommission (oder der NCAs) gebunden. Schadensersatzkläger können sich also in Großbritannien nicht mehr auf einen Kommissionsbeschluss stützen, sondern sie müssen sie den Kartellverstoß grundsätzlich selbst nachweisen. Dies ist sehr schwierig und völlig ineffizient. Potenzielle Kläger müssen sich gut überlegen, ob sie das auf sich nehmen wollen.
Viele Beobachter rechnen daher damit, dass die Bedeutung des - bisher überaus erfolgreichen - Gerichtsstandes London abnimmt. Für die britische Anwaltschaft wäre dies bedauerlich. Zudem würde mit dem Wegfall ihrer EU-Zugehörigkeit auch ihr Anwaltsprivileg und ihre Postulationsfähigkeit in der EU entfallen. Der Brexit widerspricht also auch ihren Interessen.
Was bleibt unter dem Strich? Soweit das Wettbewerbsrecht betroffen ist, ergeben sich nur Nachteile für Unternehmen, Behörden, Verbraucher und Berater. Alles wird komplizierter. Und die in den letzten Jahren hart erarbeiteten Fortschritte, wie der One stop shop der Fusionskontrolle, werden auf dem Altar der "Souveränität" geopfert. Der politische Erfolg von Boris Johnson ist jedenfalls teuer erkauft. Aber zu seinem Glück muss er die Rechnung ja nicht selbst bezahlen.
Der Autor Dr. Ulrich Soltész ist Rechtsanwalt und Partner bei Gleiss Lutz in Brüssel. Er arbeitet seit 1996 im EU-Recht, insbesondere im Europäischen Kartell- und Beihilferecht.
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Der Brexit und das Wettbewerbsrecht: . In: Legal Tribune Online, 12.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43948 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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