Rufe nach nachhaltig produzierten Produkten werden immer lauter, weshalb viele Hersteller sich Nachhaltigkeitsinitiativen anschließen. Doch geht das wettbewerbsrechtlich in Ordnung? Johannes Hertfelder und Daniela Drixler klären auf.
Mit ihrem European Green Deal hat sich die Europäische Union ambitionierte Ziele gesteckt: Die EU soll zu einer fairen und wohlhabenden Gesellschaft werden. Die Wirtschaft soll nicht nur wettbewerbsfähig, sondern auch ressourceneffizient arbeiten und das Naturkapital der EU schützen. Zentral ist dabei das Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden. Diese und ähnliche nationale politische Vorgaben sowie ein gesellschaftliches Umdenken führen dazu, dass Unternehmen ihre Produktions- und Beschaffungspolitik zunehmend nicht nur an ihrer Wirtschaftlichkeit, sondern auch an Maßstäben der Nachhaltigkeit ausrichten.
Werden jedoch ausschließlich recycelbare Rohstoffe verwendet, Stallgrößen ausgeweitet und angemessene Gehälter bezahlt, fordert das seinen Preis. Höhere Kosten bei der Beschaffung und Herstellung führen zu steigenden Preisen für die Verbraucher. Vor einseitigen Lösungen schrecken viele Unternehmen daher zurück. Sie fürchten Kunden zu verlieren, wenn ihre Produkte teurer werden als die der Wettbewerber, weil sie nachhaltig hergestellt wurden. Die Lösung können gemeinsame oder sogar branchenweite Initiativen sein, etwa das Fairtrade-Siegel oder die Initiative Tierwohl.
Solche Initiativen rufen jedoch das Kartellrecht auf den Plan, dessen Ziele der freie Wettbewerb verschiedener Angebote und möglichst niedrige Preise für Verbraucher sind. Das steht jedenfalls vordergründig im Konflikt zu den gesellschaftlichen, sozialen und umweltpolitischen Zielen der Nachhaltigkeitsinitiativen.
Hehres Ziel schützt nicht vor Wettbewerbsverstoß
Art. 101 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bzw. § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verbieten Vereinbarungen, die den Wettbewerb beschränken. Alle Anbieter sollen um die für die Kunden günstigste und beste Lösung konkurrieren.
Auf die Absicht, die hinter einer Vereinbarung steht, kommt es zunächst nicht an. Auch wenn Nachhaltigkeitsinitiativen politisch und gesellschaftlich erstrebenswerte Ziele verfolgen, können sie zu Wettbewerbsbeeinträchtigungen führen. Werden etwa höhere Standards bei der Produktion vereinbart, kann das höhere Verbraucherpreise zur Folge haben. Hersteller, deren Produktion die gesetzten Standards nicht erfüllt, können ihre Waren nicht mehr absetzen und werden vom Markt verdrängt; in der Folge geht das Angebot zurück. Auch der Wettbewerb um das beste Nachhaltigkeitskonzept ist gefährdet.
Dies führt zu dem Dilemma, dass das Kartellrecht die gesellschaftlich und politisch erwünschten Nachhaltigkeitsinitiativen engagierter Unternehmen zu blockieren droht.
Kartellrecht lässt Nachhaltigkeitserwägungen zu
Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden zu Nachhaltigkeitsinitiativen sind bislang selten. Das Bundeskartellamt hat beispielsweise das Fairtrade-System und die Initiative Tierwohl geprüft, im Rahmen seines Aufgreifermessens gemäß § 47 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) aber darauf verzichtet, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen. Für die Wirtschaft wären jedoch gerade eine Entscheidungspraxis oder Leitlinien der Wettbewerbsbehörden wichtig für die Entwicklung neuer Nachhaltigkeitsinitiativen.
Dabei bedarf es keiner Gesetzesänderung und auch keines außergewöhnlichen Kunstgriffes, um Nachhaltigkeitsaspekte in die kartellrechtliche Beurteilung einer Vereinbarung einfließen zu lassen. Denn zwischen den rechtlichen Zielen des Kartellrechts und den politischen Zielen der Nachhaltigkeit besteht kein unauflösbarer Widerspruch.
Dass Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt und gestärkt werden, ist als generelles Ziel in den Verträgen der EU verankert. Art. 11 AEUV und Art. 3 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) schreiben beispielsweise vor, dass die Erfordernisse des Umweltschutzes, eine nachhaltige Entwicklung sowie sozialer Fortschritt bei der Durchführung der Unionsmaßnahmen einbezogen werden sollen. Dies gilt auch für das Kartellrecht.
Das Instrumentarium dafür gibt es
Nachhaltigkeitserwägungen können bereits bei der Prüfung der Wettbewerbsbeschränkung gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV berücksichtigt werden. Dabei sind die wettbewerbsfördernden und -beschränkenden Wirkungen einer Vereinbarung gegeneinander abzuwägen. Oft dürften bei Nachhaltigkeitsinitiativen die wettbewerbsfördernden Wirkungen überwiegen. Beispielsweise kann das Angebot nachhaltig hergestellter Produkte erheblich zunehmen oder sogar überhaupt erst entstehen, wenn gemeinsam Produktionsstandards festgelegt werden.
Das gilt insbesondere, wenn es andere, konkurrierende Nachhaltigkeitskonzepte und weiterhin konventionelle Produktion gibt. In Fällen, in denen Nachhaltigkeitsinitiativen keinen direkten Preisbezug haben, wird oft keine Wettbewerbsbeschränkung gegeben sein.
Wenn eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, kann sie nach Art. 101 Abs. 3 AEUV (bzw. § 2 GWB) freigestellt sein. Dafür muss die Nachhaltigkeitsinitiative - neben weiteren Voraussetzungen - unter angemessener Beteiligung der Verbraucher zu einer Effizienzsteigerung führen.
Wie lassen sich Nachhaltigkeitsaspekte monetarisieren?
Das Problem bei der Einordnung von Nachhaltigkeitsgesichtspunkten als Effizienzgewinne ist, dass es sich dabei um sogenannte Externalitäten handelt. Denn die Kartellbehörden können solche wettbewerbsfremden Kriterien nur dann als Effizienzgewinne berücksichtigen, wenn sie in das Vokabular des wirtschaftlichen Wohlergehens der Verbraucher übersetzt werden können. Das heißt: in Preis, Verfügbarkeit und Innovation.
Ein Ziel sollte es daher sein, wo immer möglich die bezweckten Nachhaltigkeitsaspekte zu monetarisieren, ihnen also einen adäquaten finanziellen Wert beizumessen. Das ist bei Nachhaltigkeitserwägungen eine Herausforderung. Der Wert einer besseren Bezahlung von Produzenten oder von größeren Ställen ist keine feststehende Größe. In anderen Fällen scheint das aber durchaus möglich. Beispielsweise gibt es Modelle dafür, den volkswirtschaftlichen Schaden von CO2-Ausstoß zu bemessen. Damit kann der Wert einer Nutzung regenerativer Energien durchaus quantifiziert werden.
Nachhaltigkeit lässt sich durchaus quantifizieren
Dass es sich bei der Quantifizierung von Nachhaltigkeitsaspekten nicht um ein unmögliches Unterfangen handelt, zeigt auch eine Entscheidung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2000 in der Rechtssache CECED (IV.F.1/36.718).
Die Kommission hat in diesem Verfahren eine Vereinbarung von Waschmaschinenherstellern freigegeben, wonach nur noch Waschmaschinen der Energieeffizienzklassen A bis C produziert werden sollten.
Die Wettbewerbsbehörde hatte dabei die Stromeinsparung genau berechnet und ist dann davon ausgegangen, dass der hieraus resultierende Nutzen die höheren Anschaffungskosten um das Siebenfache übersteigt. Dabei betonte die Kommission ausdrücklich das gesamtgesellschaftliche Ergebnis für die Umwelt und die überwiegenden Vorteile für die Verbraucher - auch wenn für die einzelnen Käufer selbst keine direkten Vorteile bestehen sollten.
Klare Leitlinien fehlen noch
Eine finanzielle Bewertung von Nachhaltigkeitsaspekten und eine Übersetzung in ökonomisches, kartellrechtliches Vokabular ist also nicht ausgeschlossen. In Anlehnung an den "More Economic Approach", der das Kartellrecht in Europa seit etwa 20 Jahren prägt, könnte man von einem "More Sustainable Economic Approach" sprechen. Darin liegt keine Neuausrichtung der Kartellrechtspraxis, sondern eine den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen angepasste Ausrichtung von Prioritäten und Zielsetzungen.
Hilfreich hierfür wäre der Erlass von Leitlinien für Unternehmen, Verbände und Behörden, die den Umgang mit Nachhaltigkeitsaspekten im Kartellrecht klarstellen. Nur so kann ein kartellrechtliches Nachhaltigkeitsdilemma mit Blick auf die Erreichung der im European Green Deal angestrebten Ziele verhindert werden. Es ist erfreulich, dass sich die Europäische Kommission im Rahmen der Überarbeitung der Horizontalleitlinien auch mit dieser Fragestellung befasst.
Die Autoren: Dr. Johannes Hertfelder ist Rechtsanwalt und Partner, Dr. Daniela Drixler Rechtsanwältin in der Kartellrechtspraxis von Gleiss Lutz. Beide sind täglich mit den aktuellen Entwicklungen im Kartellrecht befasst.
Das Nachhaltigkeitsdilemma im Kartellrecht: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41584 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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