Es ist ein seltenes Schauspiel. Seit Wochen diskutiert die SPD ergebnislos, wen sie als Nachfolger von Verfassungsrichter Johannes Masing vorschlagen soll. Christian Rath analysiert den ungewöhnlichen Prozess
Eigentlich ist es ein stilles Geschäft. Die Auswahl neuer Verfassungsrichter wird in sehr kleinen Kreisen vorbereitet, aus denen meist wenig nach draußen dringt - bis eines Tages der Kandidat präsentiert und kurz darauf mit großer Mehrheit gewählt wird. Angesichts der Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist der diskrete und geradezu öffentlichkeitsscheue Ablauf durchaus erstaunlich.
In der Gesetzgebung gibt es aber Hinweise, dass die stille Wahl beabsichtigt ist. So heißt es zumindest für die Wahl der acht Verfassungsrichter, die im Bundestag bestimmt werden, dass die Wahl "ohne Aussprache" erfolgt (§ 6 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, BVerfGG). Es gibt auch keine Fristen, die sicherstellen, dass die Namen der Kandidaten rechtzeitig vor der Wahl öffentlich bekannt werden.
Insofern sind die Vorgänge bei der Suche nach einem Nachfolger für Verfassungsrichter Johannes Masing sehr ungewöhnlich und zeigen Vor- und Nachteile einer öffentlichen Debatte auf.
Masings Zeit ist abgelaufen
Johannes Masing ist Richter am Ersten Senat. Dort ist er für einige zentrale Materien zuständig, insbesondere für Meinungs- und Pressefreiheit, Persönlichkeitsrechte und Datenschutz. Seine Amtszeit endete bereits am 1. April 2020, seitdem ist er nur noch geschäftsführend im Amt. Der Senat wartet auf Masings Nachfolger und beginnt derzeit keine großen Verfahren mehr. Zuständig für die Wahl ist der Bundesrat, das Vorschlagsrecht hat die SPD. Nächster möglicher Wahltermin ist der 3. Juli. Wahrscheinlich wird auch am morgigen Mittwoch am Rande der Ministerpräsidentenkonferenz über die Personalie gesprochen.
Die Sozialdemokraten haben durchaus rechtzeitig mit der Suche nach einem Nachfolger für Masing begonnen. Schon im Februar nannte die FAZ die drei Namen, die heute immer noch im Spiel sind: den Berliner Rechtsprofessor Martin Eifert, den Potsdamer Landessozialrichter Jes Möller und Lars Brocker, Präsident des rheinland-pfälzischen Landesverfassungsgerichts.
Als sich die SPD drei Monate später immer noch nicht geeinigt hatte, begann Anfang Mai eine lebhafte Debatte in den Medien. Wer beteiligt sich daran und welche Art von Argumenten spielen dabei eine Rolle spielen?
Da die Wahl im Bundesrat stattfindet, fällt die Entscheidung über den SPD-Vorschlag unter den sieben SPD-Ministerpräsidenten und Regierenden Bürgermeistern: Andreas Bovenschulte (Bremen), Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz), Michael Müller (Berlin), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern), Peter Tschentscher (Hamburg), Stephan Weil (Niedersachsen) und Dietmar Woidke (Brandenburg). Nur beratend beteiligt sind SPD-Bundespolitiker wie Justizministerin Christine Lambrecht. Für die Koordination des Verfahrens ist der Bremer Bovenschulte zuständig. Drei der sieben SPD-Regierungs-Chefs sind ausgebildete Juristen: Bovenschulte, Dreyer und Weil.
Forderung nach Ost-Repräsentation
In der öffentlich Debatte ist von den sieben Regierungschefs nur der Brandenburger Dietmar Woidke präsent. Er fordert die Wahl seines Kandidaten Jes Möller, weil damit erstmals nach 30 Jahren Wiedervereinigung ein Ostdeutscher ans BVerfG gewählt würde. Es sei auch die letzte Chance, einen ostdeutschen Juristen mit DDR-Erfahrung zu wählen. Die Brandenburger Staatskanzlei oder interessierte Journalisten haben eine beeindruckende Unterstützerliste organisiert: von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), über Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) bis zu Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD). Auch die CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (Sachsen) und Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) sprachen sich für Jes Möller aus. Viele Medien, insbesondere in Ostdeutschland, griffen das auf.
Die öffentliche Anteilnahme an der Richter-Diskussion war nicht ganz so vehement, wie 2011 beim Pro und Contra vor der Wahl des ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU) zum Verfassungsrichter. Müller war ein weithin bekannter Politiker, während Jes Möller bisher nur in Brandenburg eine gewisse Bekanntheit hatte (bis 2019 war er Präsident des Landesverfassungsgerichts.)
Die von Woidke angestoßene Diskussion blieb aber auch keine Fachdiskussion. Im Gegenteil kam die Unterstützung für Woidke vor allem von Politikern und Journalisten jenseits der Rechtspolitik. Repräsentationsfragen sind auch bei Richterwahlen offensichtlich ein Thema, bei dem jeder niedrigschwellig mitdiskutieren kann.
Die Forderung nach einem ostdeutschen Verfassungsrichter konnte hier zum Beispiel an die lange erhobene Forderung nach Geschlechter-Quotierung anknüpfen. Diese Forderung war letztlich auch ohne gesetzliche Regelung erfolgreich. Seit der letzten Richterwahl im Mai 2020 sind acht von sechzehn Verfassungsrichtern weiblich.
Diversitätsdiskurse sind auch durchaus legitim, da die Senate des BVerfG als pluralistisch besetzte Kollektive entscheiden. Die Karlsruher Urteile überzeugen dann am meisten, wenn möglichst viele Interessen und Sichtweisen berücksichtigt werden. Die Diskussion um die Forderung nach einem Verfassungsrichter mit ostdeutscher Biographie zeigt, dass solche Ansinnen auch in der politischen Öffentlichkeit als legitim erachtet werden. Für die anstehende Diskussion um Verfassungsrichter mit Migrationshintergrund dürfte dann nichts anderes gelten.
Dass die Diskussion um einen Ost-Richter nun bei einer Bundesrats-Stelle geführt wird, ist wohl eher Zufall. Es ist eigentlich eher ein Element von Checks and Balances, dass die Hälfte der Verfassungsrichter im Bundesrat gewählt wird. Dies dient schon deshalb nicht der Sicherung eines regionalen Proporzes, weil kein Land im Bundesrat ein Vetorecht hat. Nicht einmal alle fünf neuen Länder plus Berlin könnten gemeinsam die Richterwahlen blockieren und so Mitsprache erzwingen.
Wissenschaft zählt wenig
Qualitätsfragen spielten in der medialen Diskussion nur am Rande eine Rolle. Nachdem die schlechten Bewertungen von Jes Möller durch den Präsidialrat des Bundesverwaltungsgerichts bekannt wurden, konterte die Brandenburger Staatskanzlei, in dem sie die hervorragenden Bewertungen Möllers am Potsdamer Landessozialgericht streute.
Dass wissenschaftlich jedoch Rechtsprofessor Martin Eifert eindeutig am besten qualifiziert war, räumten auch die Anhänger Möllers ein. Eiferts Profil im Medien- und Internetrecht passte ideal zur freiwerdenden Richterposition. Dennoch konnte sich diese Sichtweise gegenüber dem medialen Identitätsdiskurs nur mühsam behaupten.
Grund dafür dürfte vor allem die Zurückhaltung von Wissenschaftlern und Richtern sein, die das Qualitätsargument in der öffentlichen Debatte hätten authentisch vertreten und stark machen können. So hat sich von Seiten der Staatsrechtsprofessoren nur Klaus Ferdinand Gärditz zu Wort gemeldet, dessen Hinweis auf die "Überdominanz der Staatsrechtslehre auf der Richterbank" nicht gerade als Unterstützung Eiferts zu lesen war.
Es waren vor allem Fachjournalisten, insbesondere Karlsruher Korrespondenten (inklusive dem Autor), die das Wissenschaftsargument stark machten. Sie wiesen darauf hin, dass angesichts der Entstehung einer neuen europäischen Medien- und Internet-Ordnung beim Masing-Dezernat wissenschaftliche Kompetenz Vorrang vor Proporzüberlegungen haben sollte.
Das BVerfG schaut nur zu
Auch das BVerfG selbst wollte und konnte sich nicht in die Diskussion einschalten. Einerseits wäre es nicht angemessen, wenn die Richter ihre Nachfolger selbst auswählen könnten und dadurch demokratisch nicht legitimierte Erbhöfe entstünden. Andererseits sieht § 7a BVerfGG durchaus vor, dass die Richter (unverbindlich) Kandidaten vorschlagen, wenn der politische Prozess nicht vorankommt.
Im konkreten Fall war die Voraussetzung von § 7a sogar erfüllt. Anfang Juni waren "zwei Monate nach dem Ablauf der Amtszeit" von Richter Masing verstrichen. Doch der Bundesratspräsident (zufällig Dietmar Woidke) verzichtete nach Beratung mit Bundesrats-Juristen darauf, das BVerfG zur Abgabe von Vorschlägen aufzufordern. Sein Argument: Man habe jetzt ernsthaft vor, bei der nächsten Gelegenheit, am 3. Juli, zu wählen.
Öffentliche Kontrolle
Ein wichtiger Aspekt für die öffentliche Debatte vor Verfassungsrichter-Wahlen ist die verbesserte Kontrolle. Wenn der Name eines Kandidaten rechtzeitig bekannt ist, können Medien und Fachwelt noch wichtige Einwände suchen, vorbringen und diskutieren. Gegenüber Eifert und Brocker wurden solche Einwände nicht genannt.
Dagegen machte die Brandenburger Anwältin Vilma Niclas darauf aufmerksam, dass Jes Möller in seiner Zeit am Brandenburger Landesverfassungsgericht (LVerfG) durchaus auch umstritten gewesen sei. So wurde ein Urteil des LVerfG im Zusammenhang mit Beiträgen zur Finanzierung von Kläranlagen (so genannte "Altanschließer"-Problematik) später vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Jes Möller habe sich anschließend aber völlig uneinsichtig gezeigt, so Anwältin Niclas.
Die Intervention wurde im Diskurs durchaus zur Kenntnis genommen, aber nicht als skandalöse Enthüllung, sondern eher als Hinweis auf große Interessensunterschiede in Ostdeutschland. Niclas konnte so immerhin ihr Thema wieder auf die politische Tagesordnung setzen. Unterstützung erhielt sie von den Freien Wählern im Brandenburger Landtag.
Politik entscheidet
Letztlich wird die Nachfolge Masings unter den SPD-Ministerpräsidenten wohl politisch entschieden. Da sich die sieben Regierungschefs durch die Festlegung auf den 3. Juli selbst unter Druck gesetzt haben, könnte dies die Position Woidkes stärken. Da er der einzige ist, der sich öffentlich aus dem Fenster gelehnt hat, wäre er brüskiert, wenn ihn die Kollegen aus dem Westen, die sich überwiegend für Eifert aussprechen, überstimmen würden. Im Bewusstsein seiner Stärke hatte er bereits eine Kampfabstimmung unter den SPD-Regierungschefs angedroht. Er werde jedenfalls nicht nachgeben.
Sollte es so kommen, wäre das nach vier-monatiger Diskussion natürlich ein Armutszeugnis für die SPD. Statt inhaltlicher Kriterien hätte am Ende derjenige obsiegt, der am forschesten auftritt. Dass dies hier ein Ostdeutscher wäre, hätte natürlich gewissen Charme. Deutlich würde aber auch das momentane Führungs-Vakuum in der SPD. Die lange Hängepartie wird weniger dem unerfahrenen Koordinator Bovenschulte, sondern vor allem der schwachen SPD-Parteiführung angekreidet, insbesondere der Co-Vorsitzenden Saskia Esken, die als Internet-Expertin doch ein Interesse an dieser Personalie haben sollte.
Das BVerfG oder einzelne Kandidaten werden aus dem Gezerre aber wohl unbeschädigt hervorgehen. Die Diskussion war nicht sehr vehement und wird in der breiten Öffentlichkeit wohl bald vergessen sein. Und wer einmal als Verfassungsrichter im Spiel war, wird später dann doch gewählt - oder hat zumindest etwas, was er stolz seinen Enkeln erzählen kann.
Christian Rath, Die Verfassungsrichter-Diskussion der SPD: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41915 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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