Der Commercial Court Stuttgart empfahl sich auf einem Symposium als Standort für nationale Wirtschaftsstreitfälle. Er wird wohl eines von vier bis fünf deutschen Kompetenzzentren werden. Christian Rath hat die Tagung verfolgt.
Das Timing war glücklich. Ende April hatte das Bundesjustizministerium seinen Referentenentwurf für ein Justizstandort-Stärkungsgesetz veröffentlicht, das die Rechtslage für Commercial Courts klären soll. Anfang Mai lud das Stuttgarter Landesjustizministerium zum Stuttgarter Commercial Court Symposium. Über 100 Teilnehmer:innen aus Justiz, Anwaltschaft, Wissenchaft und Unternehmen, trafen sich in den Räumlichkeiten des 2020 eingerichteten Stuttgarter Courts.
Das baden-württembergische Modell sieht an den Landgerichten Stuttgart und Mannheim je einen Commercial Court vor, mit Berufungssenaten ("Commercial Courts of Appeal") an den Oberlandesgerichten Stuttgart und Karlsruhe. "Wir haben dabei alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die die ZPO heute schon bietet", sagte Landesjustizministerin Marion Gentges (CDU) bei der Überprüfung. Sie und die Stuttgarter Richter vertraten das Modell sehr selbstbewusst.
Interessantes Modell
Am Landgericht Stuttgart bilden zwei Kammern zusammen den Commercial Court, die 49. Zivilkammer und die 31. Kammer für Handelssachen. Die Infrastruktur wird auch vom Commercial Court of Appeal des OLG genutzt.
Insbesamt gab es seit dem Start rund 600 Verfahrenseingänge am Commercial Court Stuttgart. Davon betreffen 110 Verfahren B2B-Streitigkeiten, also Konflikte zwischen Unternehmen, insbesondere über Kauf- und Werkverträge. 40 Verfahren betreffen Unternehmenskäufe, bisher eher kleinere Transaktionen. Die übrigen rund 450 Fälle stammen aus dem Gesellschaftsrecht, wenn es zum Beispiel um die Auseinandersetzung einer BGB-Gesellschaft geht oder den Ausschluss eines Gesellschafters.
Der Commercial Court hat keine überregional konzentrierte Zuständigkeit. Fast alle Fälle stammen aus dem Bereich des Landgerichts Stuttgart, der mit seiner stark von der Automobil- und Zuliefererindustrie geprägten Wirtschaft aber auch genügend Streitfälle liefert. Höchstens bei einer Handvoll Fälle wurde explizit der Gerichtsstandort Stuttgart vereinbart.
Eine Streitwertschwelle gibt es nur bei den B2B-Fällen, sie liegt bei mindestens einer Million Euro. Bei Unternehmenskäufen und im Gesellschaftsrecht gibt es keine Schwelle. "Wir als Kammer müssen auch erst einmal Erfahrungen sammeln und uns Kompetenz und einen Ruf erarbeiten", sagte Patrick Melin der Vorsitzende der Wirtschaftszivilkammer, "das kann man nicht mit drei Fällen im Jahr." Die Idee ist offensichtlich, dass möglichst viele Anwälte in Kontakt mit dem Commercial Court kommmen, von seiner Leistungsfähigkeit überzeugt werden und künftig in Verträgen explizit die Zuständigkeit des Stuttgarter Commercial Courts vereinbart wird.
Damit vermeidet man in Stuttgart das Schicksal des Netherlands Commercial Court (NCC) in Amsterdam, der beim Symposium von Duco Oranje, dem Präsident der NCC-Berufungsinstanz vorgestellt wurde. Der NCC wurde im Januar 2019 eingerichtet und hat bisher nur 15 Fälle erledigt. Jährlich gehen im Schnitt fünf neue Verfahren ein. Hauptproblem des NCC ist, dass dort zwingend in englischer Sprache verhandelt werden muss.
Ein Absenkung der Streitwertgrenze bei B2B-Fällen hält Melin aber auch nicht für sinnvoll: "Wenn wir zuviele Fälle haben, brauchen wir fünf Kammern und dann ist es wieder schwierig, die Spezialisierung aufrechtzuerhalten."
Einvernehmliche Lösungen
Rund 400 Fälle hat der Stuttgart Commerial Court bereits entschieden. Die durchschnittliche Verfahrensdauer beträgt 6,5 Monate. Die Rechtsmittelquote liegt unter zehn Prozent.
Etwa 70 Prozent der Fälle werden schon im ersten Termin erledigt. Dabei schließen die Parteien in über 50 Prozent der Fälle einen Vergleich. In weiteren rund 20 Prozent der Verfahren kommt es nach einem gerichtlichen Hinweis zur Klagerücknahme oder zu einem Anerkenntnis. "Es macht Spaß, auf eine gütliche Einigung hinzuwirken", sagte Mélin beim Symposium. Die hohe Vergleichsquote sei vor allem der Lohn einer guten Vorbereitung. "Die Parteien wollen nicht lange streiten, sondern wieder Geld verdienen".
Alexander Schumann leitet am Stuttgartre Commercial Court die Kammer für Handelssachen und verhandelt in aller Regel gemeinsam mit zwei ehrenamtlichen Handelsrichtern, die er aus einem Pool von zehn Personen auswählt. Er legt großen Wert auf das "Matching" von Fall und Handelsrichtern. Wenn möglich sollten diese Kenntnisse der Branche oder der Art des Geschäfts haben. "Da überlasse ich nichts dem Zufall", sagte Schumann. Insbesondere bei der Bewertung von Unternehmen sei die Sachkunde aus der Praxis von großem Wert.
Es geht um mehr als Rechtsfortbildung
Die zunehmenden Initiativen für staatliche Commercial Courts berufen sich meist darauf, dass Wirtschaftsprozesse fast vollständig an private Schiedsgerichte abgewandert sind. "Es besteht die Gefahr, dass es in einigen Bereichen des Wirtschaftsrechts keine Rechtsfortbildung mehr gibt", sagte auch Ministerin Gentges. "Der BGH beschäftigt sich beim Unternehmenskauf nur noch mit Tankstellen und Getränkehandlungen, aber nicht mehr mit komplexen Großacquisitionen", sagte Anwalt Prof. Dr. Jörg Risse (Baker McKenzie). "Auch die Schiedsgerichte brauchen staatliche Leiturteile als Orientierung", betonte Prof. Dr. Thomas Riehm (Uni Passau).
Für Ministerialdirigent Elmar Steinbacher, den Amtsschef des Ministeriums und Initiatitor des Stuttgart Commercial Courts, hat dieser allerdings eine viel größere Bedeutung. "Hier kann die Ziviljustiz zeigen, was sie kann", sagte er beim Symposium, "hier sehen wir den Zivilprozess der Zukunft". Die zurückgehenden Zahlen der Zivilverfahren seien Warnung genug. "Der Staat muss den Anspruch haben, noch stattzufinden", betonte Steinbacher, "er darf die Justiz nicht Legal Tech-Anwendungen und privaten Schiedsgerichten überlassen." Die Kosten des Commercial Courts seien über die Gerichtsgebühren früher oder später gedeckt, es handele sich nur um eine "Anschubfinanzierung."
Showroom der Justiz
Tatsächlich strahlt der Stuttgart Commercial Court den Charakter eines Showrooms der baden-württembergischen Justiz aus. Untergebracht ist er im neugebauten Campus Fasanenhof, zehn Minuten vom Flughafen Echterdingen entfernt. Er verfügt über zwei hervorragend ausgestattete Sitzungssäle mit einer hochwertigen Videoanlage und mehreren Leinwänden. In separaten Besprechungsräumen können sich die Parteien zu Beratungen zurückziehen (während solche Gespräche in anderen Justizgebäuden meist auf dem Gerichtsflur oder in der Cafeteria stattfinden müssen).
Es besteht die Möglichkeit, mehrere Tage hintereinander zu verhandeln. Die Verhandlungsgestaltung soll maßgeschneidert sein. In einer Case Management Conference wird zu Beginn des Verfahrens per Video Call das weitere Verfahren strukturiert.
Die eingesetzten Richter haben vielfach Erfahrungen in der Anwaltschaft oder der Wirtschaft. Alexander Schumann war etwa mehrere Jahre in einer Großkanzlei mit M&A-Fällen befasst. Die Richter stellen sich auf der Homepage des Commercial Courts vor: mit Foto, Qualifikationen und Literaturverzeichnis. Die Richter:innen sollen langfristig auf ihren Posten bleiben, um Sachkompetenz und Verlässlichkeit zu gewährleisten. Sie könnten auch auf englisch verhandeln. Bisher hat allerdings entsprechenden Anregungen von einer Parteiseite stets die andere Seite widersprochen.
Das praktische Beispiel
Auf dem Stuttgarter Symposium wurde auch anhand eines konkreten Falles die Abläufe am Commmercial Court nachvollzogen. Ein Unternehmer aus Hongkong hatte 2019 ein Schweizer Unternehmen gekauft und war mit der Abwicklung des Geschäfts nicht zufrieden. Aufgrund eines Zufalls (auf Schweizer Seite war ein Stuttgarter Anwalt beteiligt) war Stuttgart als Gerichtsstand vereinbart worden.
Die Klage des chinesischen Käufers ging im Januar 2021 am Commercial Court ein, im Juni fand die Case Management Conference statt und im Dezember 2021 die Verhandlung. Der Kläger war wegen Corona aus China zugeschaltet. Als um fünf Uhr morgens Hongkonger Zeit die dortige Simultanübersetzerin schlafen gehen wollte, verhandelte der Stuttgarter Court auf der Zielgeraden doch noch auf englisch zu Ende. Nach über zehn Stunden ging man mit einem Vergleich auseinander.
Die beteiligten Anwältinnen Dr. Eva Nase (Pöllath & Partner) und Julia Kleesse, LL.M. (GLNS) lobten Vorbereitung und Verhandlungdsführung. "Die Case Management Conference war so effizient wie in einem Schiedsverfahren", sagte Nase. "Die frühen Hinweise des Gerichts auf seine Einschätzung waren sehr hilfreich", so Klesse. "Das war sehr wichtig, um auch den Mandanten eine realistische Einschätzung der Erfolgsaussichten zu vermitteln", ergänzt Nase. "Die angenehme Verhandlungsatmosphäre hat sehr geholfen, den Vergleich zu schließen", erinnert sich Klesse. Und Nase ergänzt: "Der Vergleich wird heute immer noch vollzogen."
Aus dem Court würde eine Chamber
Sollte der Gesetzentwurf des BMJ in Kraft treten, müsste sich für das baden-württembergische Modell nicht viel ändern. Die Commercial Courts in Mannheim und Stuttgart würden in Commercial Chambers umbenannt. Und der bisherige Commercial Court of Appeal bekäme dann den einfacheren Namen Commercial Court.
Zwar könnte künftig durchgängig in englischer Sprache verhandelt und geurteilt werden, doch dürfte das auch in Zukunft wohl keine große Rolle spielen. Auf die englische Sprache hatte im Vorfeld vor allem das Land Hamburg großen Wert gelegt.
Ministerialdirigent Steinbacher prognostizierte dem BMJ-Gesetzentwurf eine "16 zu Null"- Zustimmung der Länder. Interessant wird aber sein, was die Länder mit dem gesetzgeberischen Impuls anfangen. "In anderen Staaten gibt es nur einen Commercial Court", warnte Rechtsprofessor Riehm. Den Commercial Court beim BGH anzusiedeln hätte jedoch eine Grundgesetzänderung vorausgesetzt, die wohl an fehlender Zustimmung der Länder gescheitert wäre, so Dr. Larissa Thole vom Bundesjustizministerium.
Das BMJ wünscht sich deshalb, dass sich die Länder absprechen und am Ende "vier bis fünf Kompetenzzentren" in unterschiedlichen Bundesländern entstehen. Aus Teilnehmerkreisen wurden schon einmal naheliegende Claims abgesteckt. Hamburg könnte wegen des Hafens für das Transportrecht zuständig sein, in Frankfurt ballt sich die Finanzkompetenz und Stuttgart hätte Vorteile bei der Industrie.
Dr. Jörd Kondring, Chefjustiziar des Heidenheimer Maschinenbaukonzerns Voith, geht davon aus, dass es nicht gelingen wird, internationale Verfahren nach Deutschland zu holen. Für die staatlichen Commercial Courts könnten aber die 135 Verfahren interessant sein, die jährlich von der DIS (Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit) administriert werden. Der Schiedsort liege bei diesen Verfahren fast ausschließlich in Deutschland. In 60 Prozent der Fälle seien zwei deutsche Unternehmen beteiligt, in weiteren 30 Prozent zumindest eines. Fast immer kommt deutsches materielles Recht zur Anwendung.
"Für nationale Streitigkeiten sind die Commercial Courts ein interessantes Angebot", unterstützte Rechtsprofessor Thomas Riehm diese Perspektive, "für die Rechtsfortbildung genügen auch deutsche Fälle."
Stuttgarter Commercial Court Symposium: . In: Legal Tribune Online, 09.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51731 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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