Die Nachricht verbreitete sich schnell: Mit einer Online-Klage wolle Hamburg seine Gerichte entlasten. Klingt gut. Stimmt aber nicht. Und wäre ohne eine Änderung der ZPO auch gar nicht möglich.
In der Pressestelle des Hamburger Justizsenators Till Steffen (Grüne) dürfte Anfang dieser Woche die Stimmung sehr gut gewesen sein. Von der Online-Plattform heise.de über handelsblatt.com bis zur Esslinger Zeitung, nahmen zahlreiche Medien offenbar eine Agenturmeldung zu einem neuen Pilotprojekt der Justiz in der Hansestadt auf: Mit einem Online-Gerichtsverfahren sollen Gerichte entlastet und Verfahren beschleunigt werden. Das klingt erst mal gut.
Dabei hat der Vorstoß aus Hamburg erklärtermaßen ein ganz anderes Ziel. Das lässt sich bereits aus dem Beschluss der Justizministerkonferenz ablesen, auf den das nun angekündigte Pilotprojekt zurückgeht. Die Justizminister haben im Juni 2018 in Eisenach beschlossen, "dass in einem funktionierenden Rechtsstaat auch für Streitigkeiten mit geringem Streitwert ein effektiver Rechtsschutz gewährt werden muss." Der erste entscheidende Punkt: Es geht allein um Streitigkeiten mit geringem Streitwert.
Auch ein Pressesprecher der Hamburger Justizbehörde bestätigt gegenüber LTO, dass es bei dem neuen Verfahren darum geht, Menschen zu einer Klage zu motivieren, die vielleicht aufgrund des geringen Streitwerts davon sonst abgesehen hätten. "Das Recht muss für alle gelten und für jeden nutzbar sein", betonte der Justizsenator Steffen gegenüber LTO. "Untersuchungen ergeben, dass viele Geschädigte einen Gang zum Gericht erst in Erwägung ziehen, wenn der Streitwert über 2.000 Euro liegt. Das offenbart eine Lücke im System, die wir mit dem Beschleunigten-Online-Verfahren schließen wollen."
Es sollen mehr Zivilklagen an die Gerichte – nicht weniger
Diese Stoßrichtung bestätigt auch ein zweiter Blick auf den Justizminister-Beschluss. Die Justizminister fordern, "im Hinblick auf die stark rückläufigen Eingangszahlen in den Zivilverfahren" zu untersuchen, "ob insbesondere für den Bereich von geringfügigen Forderungen ein neues und kostengünstigeres Online-Verfahren entwickelt werden sollte."
Zur Begründung für das Projekt verwies Justizsenator Steffen in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt darauf, dass die Zahl der erledigten Zivilklagen mit einem Streitwert unter 2.000 Euro bei den Amtsgerichten seit 2004 um 30,6 Prozent gesunken sei.
Das sagt allerdings nichts darüber aus, wie die Zahlen der eingereichten Klagen mit einem solchen geringen Streitwert aussehen. Und schon gar nicht darüber, warum die Zahl der Zivilklagen offenbar insgesamt zurückgehen. Denn es wäre ja auch denkbar, dass die Eingangszahlen in der Ziviljustiz zurückgehen, weil es einfach weniger Konflikte in einem Bereich gibt oder sie auf andere Weise gelöst werden. Hier dürfte indes ein rechtspolitisches Ziel des Vorhabens der Landesjustizminister zutage treten: Die Bürger sollen sich weiterhin auf staatliche Gerichte verlassen und nicht beispielsweise auf alternative Streitlösungsplattformen im Internet.
Es geht in erster Linie also darum, mehr – und nicht weniger – Klagen an die Gerichte zu ziehen. Und das bedeutet sicherlich keine Entlastung der Justiz, sondern eine Zusatzbeschäftigung. Aber die zusätzlichen Verfahren könnten dann, so die Idee, von den Gerichten schneller oder zumindest genauso schnell abgewickelt werden.
Kein Pilotprojekt ohne Änderung der ZPO
Es geht bei dem Projekt auch mitnichten um ein Online-Klageverfahren. Lediglich der erste Schritt, nämlich die Einreichung der Klage, soll digitalisiert werden. Über eine Online-Maske sollen Kläger und Beklagter ihre Standpunkte zum Gericht schicken. Am weiteren Verfahren ändert sich aber gegenüber einer herkömmlich eingereichten Klage nichts, ein Richter entscheidet – in der Regel – nach einer mündlichen Verhandlung. Möglich wäre mit dem neuen Projekt dann eine bequeme Klage von zuhause aus. "Dass eine solche Möglichkeit vor allem Querulanten anziehen dürfte, scheint hingegen eine wenig gewagte Vermutung", schreibt der Richter Benedikt Windau auf seinem zpoblog. Und weiter: "(Das würde zwar dem Rückgang der Eingangszahlen entgegenwirken – aber will das jemand ernsthaft?)"
Ob allein diese digitale Einreichung der Klageschrift das Zivilverfahren beschleunigen kann, soll das Pilotprojekt zeigen. Allerdings, ohne eine Änderung der Zivilprozessordnung (ZPO) wird es kein Pilotprojekt geben. Das räumte auch die Pressestelle der Justizbehörde auf Nachfrage von LTO ein. Da die ZPO-Änderung in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes falle, könne Hamburg die beschriebenen Ideen nicht alleine umsetzen. Bis das Pilotprojekt also wirklich an den Start gehen, kann, wird es noch eine ganze Weile dauern.
Auf einen entsprechenden Gesetzentwurf soll nun in einer Länderarbeitsgruppe "Legal Tech" hingearbeitet werden, auch das Bundesjustizministerium soll sich beteiligen. Auf einer der kommenden Justizministerkonferenzen sollen die Ergebnisse vorgestellt werden. Einen konkreteren Fahrplan für das Vorhaben gebe es noch nicht, erklärt die Hamburger Pressestelle und verweist auf die laufenden Arbeiten. Auch in Niedersachsen kann man sich offenbar ein Pilotprojekt gut vorstellen. Landesjustizministerin Barbara Havliza (CDU) sagte dem Göttinger Tageblatt, dass sie die Initiative aus Hamburg begrüße und die Arbeit in der Ländergruppe aktiv unterstütze.
DAV steht Pilotprojekt skeptisch gegenüber
Aber braucht es eigentlich überhaupt so ein neues Verfahren für geringwertige Forderungen? Zumal es für die vereinfachte Durchsetzung von Geldforderungen bereits jetzt die Möglichkeit gibt, ein gerichtliches Mahnverfahren durchzuführen – den Antrag kann man auch online stellen.
In Hamburg verweist man zur Begründung auf den Roland-Rechtsreport 2014. Laut der Umfrage soll in Deutschland der Streitwert, ab dem Bürger für einen finanziellen Schaden vor Gericht ziehen würden, bei 1.950 Euro liegen. Eine weitere Umfrage der Europäischen Kommission ergab, dass EU-weit mehr als 40 Prozent der befragten Verbraucher bei einem Streitwert bis zu 500 Euro Klagen bei Gericht vermeiden, weil ihnen der Zeit- und Kostenaufwand zu groß sei.
Der Gedanke hinter dem Hamburger Online-Klage(einreichungs-)verfahren ist also eher ein sozialer, es geht um den Zugang zum Recht für jeden. Diesen rechtspolitischen Ansatz begrüßt auch der Deutsche Anwaltverein (DAV). Dr. Markus Wollweber, Mitglied im Ausschuss Zivilverfahrensrecht beim DAV. Die Erwartungen an das Projekt bremst er dennoch. Ein Paradigmenwechsel im Zivilverfahrensrecht, wie vereinzelt verkündet, sei zunächst nicht zu erwarten. Und er gibt zu bedenken: "Man muss beachten, dass die zivilrechtlichen Verfahrensvorschriften nicht für Laien gemacht wurden und daher schwer verständlich sind. Wir sind skeptisch, ob die Onlineeinreichung ein gutes Instrument für alle Beteiligten wäre."
Damit werden vor allem die Anwälte gemeint sein, um deren Interessen sich der DAV kümmert und die bei einer Klageeinreichung per Online-Eingabemaske von zuhause aus nicht unbedingt gebraucht werden. Ob die aber wirklich für eine solche Klageeinreichung überflüssig werden, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, wie gut die Maske konkret ausgestaltet wird. Wenn man sich an die letzte Steuererklärung per Elster erinnert, bleiben meist genug Fragen für den Steuerberater offen – oder für die private Steuerberatersoftware. Und auch die Erfahrung mit den Online-Formularen sog. Legal-Tech-Anbeiter zeigt, dass meist nur recht einfache Sachverhalte ohne rechtliche Implikationen abbildbar sind.
Die Pläne für ein Online-Klageverfahren nach Hamburger Art haben offenbar einen medial günstigen Zeitpunkt im Sommerloch getroffen. Anders ist kaum zu erklären, warum daraus ein Sommermärchen wurde.
Hamburger Pilotprojekt Online-Klage: . In: Legal Tribune Online, 23.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30515 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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