"Nehmt den Gerichten die Verfassung weg". Unter diesem Motto bekämpfen US-Juristen die Verfassungs-Rechtsprechung des Supreme Court. Dieter Grimm warnt vor dieser Denkschule. Über einen Karlsruher Vortrag Grimms berichtet Christian Rath.
Dieter Grimm kennt die Verfassungs-Rechtsprechung. Von 1987 bis 1999 war er Verfassungsrichter in Karlsruhe, am Ersten Senat. Er kennt auch die verfassungsrechtliche Diskussion in den USA. Schon als junger Mann studierte er in Harvard. Heute ist er Visiting Professor an der Yale Law School. Am Bundesverfassungsgericht sprach er am gestrigen Montagabend auf Einladung der Justizpressekonferenz über "Neuere Radikalkritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit", die in den vergangenen zwanzig Jahren in den USA aufkam.
Grimm nennt vor allem drei Autoren: Mark Tushnet veröffentlichte 1999 "Taking the Constitution away from the Courts". Larry Kramer folgte 2004 mit dem Buch "The People Themselves". Und Jeremy Waldron veröffentlichte 2006 im Yale Law Journal den Aufsatz "The Core of the Case against Judicial Review." Alle drei beschreibt Grimm als Linksliberale, die nicht mit Details der Supreme Court-Rechtsprechung unzufrieden sind, sondern ganz prinzipielle Ziele verfolgen: Der US-Supreme Court soll nicht mehr prüfen können, ob Gesetze mit der Verfassung vereinbar sind, so laut Grimm das Ziel der Radikalkritiker. Der "judicial review" soll vielmehr abgeschafft werden. Stattdessen solle der Supreme Court nur noch ein oberstes Appellationsgericht sein.
Kritiker: Keine Einmischung der Gerichte in die Politik
Die Begründungen der Kritiker mögen sich in Details unterscheiden, sie streben aber immer danach, "dem Volk" die politische Entscheidungsmacht zurückzugeben. Gerichte sollen sich in diese politischen Prozesse nicht mehr einmischen können. Die Verfassung wäre kein Werkzeug mehr für juristische Experten, sondern Sache des Volkes ("popular constitutionalism"). Grundrechte und andere Vorgaben der Verfassung wären nicht mehr einklagbar, sondern Maßstab für den allgemeinen politischen Diskurs.
"Diese Position ist in den USA zwar keine herrschende Meinung, aber die Autoren sind auch keine Randfiguren, sondern anerkannte Rechtsgelehrte von wichtigen Law Schools", erläuterte Grimm dem Publikum, zu dem viele deutsche Verfassungsrichter gehörten. Andere Rechtsprofessoren aus dem angelsächsischen Raum wollen laut Grimm den Judicial Review zwar nicht völlig abschaffen, aber doch gezielt einschränken. Die Verfassungsrechtsprechung solle etwa auf bestimmte Materien reduziert werden. Das Parlament solle sich über Urteile hinwegsetzen können. Zu den Verfechtern einer solchen schwachen Verfassungsrechtsprechung gehören (laut Grimm) die Juraprofessoren Ran Hirschl, Richard H. Fallon und Stephen Gardbaum.
Ziel: Entzug der richterlichen Kontrolle
Grimm zeigte sich verblüfft, dass bei den Kritikern immer von der Selbstregierung des Volkes die Rede ist. "Das Volk kommt letztlich aber gar nicht zum Zug", kritisiert der inzwischen 81-jährige deutsche Verfassungsrechtler. Es gehe überhaupt nicht um Volksabstimmungen oder andere plebiszitäre Formen, sondern nur um die Verteidigung der repräsentativen Demokratie gegen richterliche Kontrolle. Angesichts der bekannten amerikanischen Probleme mit einem gerechten Wahlrecht und fairer Parteienfinanzierung sei diese Fixierung auf die repräsentative Demokratie besonders erstaunlich.
Zudem wunderte sich Grimm, wie gering hier die Errungenschaften der amerikanischen Revolution des 18. Jahrhunderts und der bis heute geltenden US-Verfassung geachtet werden. "Anders als in England ist in den unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten ja gerade nicht das Parlament der Souverän, sondern das Volk", so Grimm. Das Volk organisierte seine Macht aber in der Verfassung, die ihre Funktion nur erfüllen könne, wenn sie verbindlich sei. "Wenn das Volk bei der Verfassungsgebung frei ist, warum soll es dann nicht Richtern die Kontrolle über die Einhaltung der Verfassung übertragen?", fragte Grimm. Der Inhalt der Verfassung und ihre Normativität spielten bei den Kritikern des Judicial Review aber nur eine sehr geringe Rolle.
Supreme Court gab sich Überwachungskompetenz selbst
Der Ex-Verfassungsrichter räumte jedoch ein, dass die fundamentale Diskussion in den USA durch einige Besonderheiten begünstigt werde. So gebe es dort keine spezielle Verfassungsgerichtsbarkeit und auch dem Supreme Court sei diese Aufgabe in der US-Verfassung nicht ausdrücklich zugewiesen. Vielmehr habe sich das oberste US-Gericht die Befugnis zum Judicial Review von Gesetzen 1803 im berühmten Urteil "Marbury v. Madison" selbst zuerkannt.
Zu diesem Zeitpunkt seien die USA aber schon eine Demokratie gewesen. Die Verfassungs-Rechtsprechung des Supreme Court sei daher von Beginn an auch als Gefährdung der Demokratie wahrgenommen worden. "In Europa dagegen wurden Verfassungsgerichte meist nach der Überwindung von Diktaturen eingeführt - als Sicherung der Demokratie", so Grimm.
Problematisch sei auch die "deliberative Schwäche" des US-Supreme Court. Dort gibt es nach der mündlichen Verhandlung keine gemeinsame richterliche Beratung des Urteils, vielmehr erklärt nur jeder Richter, wie er abstimmt. Die politisierten Richter-Ernennungen und die regelmäßig entlang politischer Linien gespaltenen Urteile führten in den vergangenen Jahren auch zu einem starken Ansehensverlust des Obersten Gerichtshofs.
Regierungskonforme Gerichte in Europa
Trotz dieser spezifisch amerikanischen Bedingungen forderte Grimm das Publikum auf, sich rechtzeitig auf eine vergleichbar radikale Diskussion vorzubereiten, falls sie nach Deutschland schwappe. Den 2011 von Christoph Möllers und Kollegen veröffentlichten Sammelband "Das entgrenzte Gericht" wollte er nicht in diesen Kontext einordnen. Die dort am Bundesverfassungsgericht geäußerte Kritik sei ja noch "harmlos", so Grimm.
Weniger harmlos war das Vorgehen der ungarischen und polnischen Regierung gegen die dortigen Verfassungsgerichte. Diese wurden inzwischen personell gewendet und entscheiden fast nur noch regierungskonform. Dort ging es weniger um die Ablehnung von Verfassungsgerichtsbarkeit an sich, sondern nur um die Einschränkung von deren Unabhängigkeit. Die US-Autoren, vor denen Grimm jetzt warnte, waren insofern wohl keine Stichwortgeber.
Ex-Verfassungsrichter Dieter Grimm: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33811 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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