Internet-Plattformen helfen Fluggästen, ihre Rechte durchzusetzen. Doch die Amtsgerichte sind mit der Masse der Verfahren inzwischen überfordert. Braucht es neue Regelungen oder wird sich das Problem von selbst erledigen?
Wenn an den großen Flughäfen in Frankfurt am Main, Berlin oder Düsseldorf mal wieder Flüge annulliert werden oder verspätet starten, dürften nicht nur die Fluggäste genervt sein, sondern auch die Zivilrichter am nächsten Amtsgericht. Sie können dann mit einer neuen Verfahrenswelle rechnen. Dabei ist der bei vielen Airlines ziemlich chaotische Sommer 2018 noch gar nicht abgearbeitet.
Dass die Streitigkeiten um Fluggastrechte in den vergangenen zwei Jahren massiv zugenommen haben, liegt aber nicht nur an den außergewöhnlich zahlreichen Verspätungen und Ausfällen in 2018, sondern vor allem an Internet-Plattformen, die Flugpassagieren anbieten, Entschädigungsansprüche schnell und unkompliziert geltend zu machen. Insbesondere Flightright steht hinter sehr vielen Verfahren. Für die Amtsgerichte wird der Erfolg der sog. Legal Techs allerdings langsam zu einem Problem.
Das AG Frankfurt am Main rechnet dieses Jahr mit 16.000 Verfahren wegen Reisesachen
Das Amtsgericht (AG) Frankfurt am Main rechnet bis zum Ende dieses Jahres mit rund 16.000 Reisesachen – nach Einschätzung von Vizepräsident Frank Richter geht es in 90 Prozent der Fälle um Fluggastrechte. Diese Verfahren machen dort mittlerweile fast sechzig Prozent der Zivilsachen aus. Vor zwei Jahren lag der Anteil noch bei dreißig Prozent. Im Jahr 2017 gingen insgesamt rund 5.400 Reisesachen ein, im Jahr 2018 rund 9.000.
Auch an anderen Amtsgerichten sind Streitigkeiten wegen Fluggastrechten in letzter Zeit stark angestiegen: Am AG Düsseldorf gingen schon im ersten Halbjahr dieses Jahres ungefähr 10.000 Verfahren wegen Reisesachen ein, ebenfalls hauptsächlich Streitigkeiten um Fluggastrechte. Das sind mehr als im gesamten Jahr 2018 (ca. 12.700 Reisesachen) und fast dreimal so viele wie 2017 (ca. 5.200 Reisesachen). Auch hier machen die Reisesachen mittlerweile rund zwei Drittel der Zivilsachen aus.
Das deutlich kleinere AG Königs-Wusterhausen, das etwa Klagen von Fluggästen am Berliner Flughafen Schönefeld bearbeitet, rechnet für dieses Jahr mit mehr als 7.000 Klagen. Direktor Matthias Deller beklagte kürzlich im rbb, am Gericht gebe es schon keine Aktendeckel mehr und man könne auch bald die Portokosten für den Schriftverkehr nicht mehr bezahlen. Sollte tatsächlich in einem Jahr der BER eröffnen, kämen noch mehr Fälle auf das Amtsgericht zu.
Läuft das Verfahren, lenkt die Fluggesellschaft oft ein
Für die Richter sind die Fluggastsachen eine ziemlich langweilige Angelegenheit, die Fälle ähneln sich, selten geht es um wirklich streitige Fragen. Viele Airlines äußern sich gar nicht zur Sache oder erkennen den Anspruch im Laufe des Verfahrens doch noch an. Am AG Frankfurt am Main enden etwa 80 Prozent der Verfahren durch Versäumnis- oder Anerkenntnisurteil.
Der stellvertretende AG-Präsident Frank Richter sagt gegenüber LTO: "Das zeigt, dass hier die Justiz eher zur Verfahrensverschleppung genutzt wird als für eine juristisch wesentliche Entscheidungsfindung. Offenbar sollen berechtigte Zahlungsansprüche herausgezögert werden, und erst im gerichtlichen Verfahren erfolgt dann ein Anerkenntnis oder eben eine Säumnis mit der Folge, dass der Gläubiger den Titel dann vollstrecken muss."
Für die Gerichte entsteht dennoch ein erheblicher Aufwand: "Für jedes einzelne Verfahren muss eine Akte angelegt werden, Kostenvorschüsse müssen berechnet und abgewickelt werden. Die Serviceeinheiten können die Menge der eingehenden Schriftsätze nur mit großer Mühe bewältigen", so Richter. Die Amtsgerichte sind auf das Geschäft von Legal-Tech-Plattformen schlicht nicht eingestellt: "Justiz ist auf Einzelfallgerechtigkeit ausgelegt und nicht auf gleichförmige Massenverfahren", so Richter.
Flightright-Sprecher: "Diese Fälle sind vermeidbar"
"Das ist das juristische Prozedere", sagt Flightright-Sprecher Alexander Weishaupt. "Wenn sich Airlines bei berechtigten Ansprüchen nicht bewegen, müssen wir die Fälle vor Gericht geltend machen." Allein für Flüge aus dem Jahr 2018 hat Flightright nach eigenen Angaben für eine sechsstellige Zahl von Passagieren Klage eingereicht.
Zu den Airlines, die Ansprüche häufig erst anerkennen, wenn das Verfahren läuft, gehörten Ryanair, Vueling und Iberia, so Weishaupt. "Diese Verfahren sind aus unserer Sicht absolut vermeidbar. Wir kontaktieren die Airlines vorab und sind an einer außergerichtlichen Lösung interessiert. Wir weisen aber auch darauf hin, dass wir vor Gericht gehen, wenn Ansprüche nicht bezahlt werden."
Dabei dürfte das Potenzial von Plattformen wie Flightright noch nicht ausgeschöpft sein: "Wir gehen davon aus, dass noch lange nicht alle potenziell anspruchsberechtigten Fluggäste die ihnen zustehenden Entschädigungszahlungen geltend machen beziehungsweise bei der Durchsetzung erfolgreich sind", so Weishaupt. "Zwar hat die Zahl der Passagiere, die ihre Fluggastrechte zumindest teilweise kennen, über die Jahre zugenommen. Nichtsdestotrotz ist die Durchsetzung von Ansprüchen – vor allem, wenn sie auf eigene Faust erfolgt – noch immer nicht so fair, wie manche Airlines es darstellen."
Richterbund Hessen fordert höhere Sanktionen für Airlines
Auch an den Amtsgerichten rechnet man nicht damit, dass sich die Lage schnell entspannen wird. Der Richterbund Hessen geht davon aus, dass es künftig sogar noch mehr Verfahren geben wird: "Es handelt sich um einen wachsenden Markt", meint der Sprecher des Berufsverbands, Johannes Schmidt: "Die Inkassounternehmen bewerben ihr Angebot aktiv und erfolgreich in allen Medien. Zudem schreitet die Entwicklung der computerisierten Fallbearbeitung stetig fort. Auch die Anzahl der weltweiten Flugbewegungen nimmt trotz Klimadebatte kontinuierlich zu."
Allein mit mehr Personal sei das Problem auf Dauer nicht zu lösen, erklärt der Richterbund. Stattdessen müsse der Gesetzgeber handeln. Etwa mit höheren Sanktionen für Verstöße gegen die EU-Fluggastrechteverordnung. "Art. 16 Abs. 3 der EU-Fluggastrechte-Verordnung sieht vor, dass die von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen die Fluggastrechteverordnung festgelegten Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen", so Schmidt. Angesichts der vielen in der Sache unstreitig bestehenden Ansprüche, die dennoch vor Gericht getragen werden, sei das offenbar "noch nicht erreicht", kritisiert der Richterbund.
Hier solle der Gesetzgeber prüfen, ob die bisherigen Möglichkeiten, Bußgelder zu verhängen ausreichten oder ob sich die Bußgeldhöhe – wie im Kartell-, Bank- oder Versicherungsrecht – am Gesamtumsatz der betroffenen Luftfahrtunternehmen orientieren müsste, um effektiv zu wirken.
Erledigt sich das Problem von selbst?
Eine andere Möglichkeit wären Vorschriften, mit denen die Fluggesellschaften verpflichtet werden, ihre Kunden bei Ausfällen und Verspätungen von sich aus auf Ansprüche hinzuweisen und Formulare zur Verfügung zu stellen, mit denen die Entschädigung unkompliziert direkt bei der Airline eingefordert werden kann. Eine solche Regelung hatten die Grünen kürzlich gefordert.
Möglich ist aber auch, dass sich das Problem von selbst erledigt – weil es sich für die Fluggesellschaften nicht mehr rechnet, die gerichtliche Durchsetzung der Ansprüche abzuwarten. Lenken sie erst im Verfahren ein, kommen Gerichts- und Rechtsanwaltskosten hinzu, die sie sich bei einer außergerichtlichen Einigung sparen könnten.
Weishaupt hat jedenfalls auch schon beobachtet, dass manche Fluggesellschaft umdenkt: "Es gibt auch viele Airlines, mit denen wir mittlerweile eine professionelle Zusammenarbeit haben. Dort landen meist lediglich die Fälle vor Gericht, in denen beide Seiten unterschiedliche juristische Ansichten haben. So soll es ja eigentlich auch sein." Bleibt Flightright mit seinem Geschäftsmodell erfolgreich, könnte das die Justiz also schlussendlich sogar entlasten – bis dahin müssen die Zivilrichter in Frankfurt, Düsseldorf oder Königs-Wusterhausen allerdings noch einige Aktenstapel abarbeiten.
Amtsgerichte überlastet: . In: Legal Tribune Online, 14.08.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37043 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag