Nach dem deutschen Befehl für einen Luftangriff in Afghanistan 2009 mit zivilen Opfern hat die deutsche Justiz ausreichende Ermittlungen angestellt, so der EGMR. Drei Richter vertraten zur Reichweite der EMRK eine abweichende Meinung.
Dass es sich beim deutschen Bundeswehreinsatz in Afghanistan um einen Kriegseinsatz handelt, dürfte vielen spätestens nach der Nacht des 4. Septembers 2009 bewusst geworden sein. Auf Befehl eines deutschen Kommandanten warfen Kampflugzeuge Bomben auf einen Tanklastwagen in der Region Kundus ab. Wie viele Menschen genau bei dem Angriff ums Leben kamen, konnte nicht aufgeklärt werden. Berichte schätzen zwischen 14 und 142 Tote.
Deutschland hat im Nachgang genug dafür getan, den Vorfall aufzuklären und nicht gegen Menschenrechte verstoßen, wie die Große Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag entschied (Urt. v. 16.02.2021, Beschwerde 4871/16). Die Richterinnen und Richter stellten keinen Verstoß gegen Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest, der das Leben schützt. In dem Fall vor dem EGMR ging es um das prozessuale Element des Art. 2 EMRK, das heißt, im Kern um die Frage, ob die deutsche Justiz genug dafür getan hat, die Umstände und die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beteiligten ausreichend aufzuklären.
Die Ermittlungen in Deutschland
Geklagt hatte der afghanische Staatsbürger Abdul Hanan, er verlor zwei Söhne bei dem Luftangriff. Zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs waren sie acht und zwölf Jahre alt. Er kritisierte, dass es keine ausreichende juristische Aufarbeitung des Angriffs in Deutschland gegeben habe.
Nach dem Angriff nahm der Generalbundesanwalt (GBA) 2010 seine Ermittlungen auf und stellte sie rund einen Monat später schon wieder gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Untersucht wurde die Rolle von Oberst Klein und einem Stabsfeldwebel, der ihn in der Nacht unterstützt hatte. Die Bundesanwaltschaft sah weder Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) noch nach dem Strafgesetzbuch (StGB) verwirklicht.
Ausschlaggebend für dieses Ergebnis war für die Ermittler die subjektive Einschätzung der damals Beschuldigten. "Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sind die Beschuldigten schon nicht davon ausgegangen, dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs Zivilisten auf der Sandbank des Kundus-Flusses aufhielten", teilte die Bundesanwaltschaft damals in einer Pressemitteilung mit. Damit sei der Angriff keine verbotene Methode der Kriegsführung nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB gewesen.
Die Tötung von Menschen ist auch nach dem parallel anwendbaren StGB gerechtfertigt, wenn der Angriff seinerseits völkerrechtlich zulässig war. Auch davon ging die Bundesanwaltschaft aus. Sie betont auch hier den umfassenden Einschätzungsspielraum, der den Soldaten zugestanden habe.
Um 1.49 Uhr in der Nacht des 4. September 2009 forderte der deutsche Kommandant Oberst Klein in Afghanistan zwei US-Militärflugzeuge auf, Bomben auf zwei Tanklastwagen in der Kundus-Region abzuwerfen. Bewaffnete hatten zuvor die beiden Tanklaster überfallen und entführt, doch sie blieben am Ufer des Kundus-Flusses stecken - rund sieben Kilometer vor einem Bundeswehrlager.
Klein soll davon ausgegangen sein, dass die Taliban die beiden Tanklaster als rollende Bomben gegen sein Lager einsetzen könnten. Inzwischen hatten sich zahlreiche Menschen versammelt, die von den Tanklastwagen Benzin abzapften. Ob es sich dabei tatsächlich um Aufständische handelte oder um Zivilisten, ließ sich nicht endgültig aufklären. Unter den Toten waren jedenfalls auch Kinder und Jugendliche.
Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung soll dabei ein afghanischer Informant am Boden gespielt haben. Er meldete dem deutschen Lager offenbar, dass es sich bei den Personen an den Tanklastern um eine größere Zahl von Aufständischen handelte, bewaffnet mit Handfeuer- und Panzerabwehrwaffen. Nach Ermittlungen des GBA soll Klein mindestens sieben Anrufe an den Informanten getätigt haben, um sich über die Lage vor Ort zu vergewissern.
EGMR billigt die deutschen Ermittlungen
Selbst wenn man mit zivilen Opfern einer Militäraktion rechnen müsse, sei ein Bombenabwurf nur völkerrechtlich unzulässig, wenn der zu erwartende zivile Schaden in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg stehe, so der GBA damals.
Auch mit dieser Bewertung setzte sich der EGMR in seinem Urteil auseinander. Die Richterinnen und Richter beanstandeten die Ermittlungen des GBA nicht. Auch der Umstand, dass die präzise Opferzahl des Angriffs nicht ermittelt werden konnte, hält der EGMR für hinnehmbar, da es für die strafrechtliche Bewertung ohnehin vor allem auf die subjektive Beurteilung der Beteiligten angekommen sei.
Auch hätten ausreichende gerichtliche Instanzen im deutschen Recht zur Verfügung gestanden, um die Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, gerichtlich überprüfen zu lassen. 2011 wies das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf einen Antrag von Hanan als unzulässig ab. Auch das Bundesverfassungsgericht billigte 2015 letztlich die Einstellung des Ermittlungsverfahrens.
Schließlich würdigten die EGMR-Richterinnen und -Richter auch die Arbeit eines 2009 vom Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschuss zu dem Fall.
Alles in allem hätten die Bemühungen Deutschlands deshalb den Anforderungen durch die EMRK genügt. Wegen der besonderen Bedeutung des Falls hatte die zuständige Kammer des EGMR den Fall an die Große Kammer verwiesen. Nun entschieden 17 Richter über den Fall.
Abweichende Richtermeinungen zur EMRK-Reichweite
Von ihnen gaben drei eine gemeinsame abweichende Meinung zu dem Urteil ab. Die Richter aus Großbritannien, Liechtenstein und Bulgarien stellten allerdings nicht die Entscheidung der Mehrheit der Richterinnen und Richter zu den Aufklärungsbemühungen des deutschen Staates in Frage, sondern hätten den Fall schon als unzulässig zurückgewiesen. Ihnen geht es um die Reichweite der EMRK. Für Vorfälle, die territorial außerhalb der EMRK-Staaten liegen, gilt nach der Rechtsprechung des EGMR der Grundsatz der "effektiven Kontrolle". Hat ein EMRK-Staat effektive Kontrolle über ein ausländisches Gebiet, so findet die EMRK auch dort Anwendung.
Bei dem Luftangriff in Afghanistan handelte es sich zweifelsohne um einen Vorfall, außerhalb der territorialen Geltung der EMRK. Allerdings hatte Deutschland keine "effektive Kontrolle" über das afghanische Kundus-Gebiet. Die Mehrheit der Richterinnen und Richter gingen aber in dem konkreten Fall von "special features", also besonderen Umständen aus, die einen ausreichenden Zusammenhang zur EMRK-Jurisdiktion herstellen sollten. Erstens sei Deutschland durch internationales Recht zur Untersuchung des Luftangriffs verpflichtet gewesen, zweitens seien die afghanischen Behörden juristisch von einer Ermittlung ausgeschlossen gewesen (wegen einer Vereinbarung mit den internationalen Truppen in ihrem Land) und drittens seien die deutschen Strafverfolgungsbehörden auch unter nationalem Recht zu Ermittlungen berufen gewesen.
Die drei abweichenden Richter weisen diese Annahme von besonderen Umständen zurück. Sie argumentieren, die Ausnahmen hebelten die Beschränkung der Anwendungsreichweite der Konvention im gleichen Zug wieder aus.
Die Reaktionen: Erleichterung und Enttäuschung
Die Affäre um das Bombardement und die anschließende Informationspolitik im Verteidigungsministerium kosteten drei Männer ihren Job: Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), Staatssekretär Peter Wichert und Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan. Jung begrüßte nun das Straßburger Urteil. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er am Dienstag: "Es bestätigt unsere Haltung." Er sei dankbar für die Entscheidung.
Anders fällt die Reaktion der Klägerseite aus. "Es ist klar, dass es für die Dorfbewohner enttäuschend ist", sagte Wolfgang Kaleck, Anwalt des Beschwerdeführers Abdul Hanan und Generalsekretär der Nichtregierungsorganisation ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights). Hanan habe in dem Fall sein Dorf vertreten, in dem der Angriff stattgefunden hatte. Für die Dorfbewohner bleibe der Eindruck, dass der große Fehler des Luftangriffs nicht ausreichend aufgeklärt und sanktioniert wurde, so Kaleck. Immerhin: Das Straßburger Gericht habe auch Fehler festgestellt, etwa dass Oberst Klein in die Untersuchungen unmittelbar nach dem Angriff in Afghanistan involviert war.
BVerfG sieht offenbar grundsätzlich Weg für Staatshaftung
Das BVerfG hatte im Dezember 2020 eine Verfassungsbeschwerde zu Amtshaftungsansprüchen von Hinterbliebenen von Opfern des Luftangriffs nicht zur Entscheidung angenommen. Es ließ dabei aber durchblicken, dass Schadensersatzansprüche nach einer Entscheidung des BGH grundsätzlich bestehen könnten: "Dass die vom Bundesgerichtshof zugrunde gelegte Auffassung, Amtshaftungsansprüche gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG seien auf Einsätze der Bundeswehr im Ausland nicht anwendbar, auf einer grundsätzlichen unzutreffenden Vorstellung von der Bedeutung und Tragweite der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG beruht (3.), begegnet zwar Zweifeln, kann jedoch offen bleiben." Denn auch das BVerfG davon aus, dass der Oberst nicht rechtswidrig gehandelt habe.
EGMR urteilt zu Kundus-Luftangriff: . In: Legal Tribune Online, 16.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44281 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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