Die Bundesländer werden ab 2025 ermächtigt, spezialisierte Spruchkörper für Handelssachen einzurichten, vor denen in englischer Sprache verhandelt werden kann. Ein Gewinn für den Justizstandort Deutschland? Julia Flockermann analysiert.
Am 4. Juli 2024 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Justizstandort-Stärkungsgesetz, um die staatlichen Gerichte für Unternehmen attraktiver zu machen. Damit ist die erste Etappe einer vor mehr als zehn Jahren gestarteten Bundesratsinitiative erreicht. Die Länder stehen in den Startlöchern, um voraussichtlich ab dem 1. Januar 2025 auf der Grundlage von Verordnungen Commercial Courts an einzelnen Oberlandesgerichten (OLG) und Commercial Chambers an bestimmten Landgerichten einzuführen. Was wird sich für den Wirtschaftsstandort Deutschland ändern?
Einzelne Länder werden Commercial Courts und Commercial Chambers einrichten, mit denen sie auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnittene Gerichtsverfahren für große Wirtschaftsstreitigkeiten anbieten. Diese neuen Spruchkörper können aufgrund von Gerichtstandvereinbarungen oder im Einzelfall im Einvernehmen der Parteien wahlweise in deutscher oder englischer Sprache angerufen werden.
Bedingt durch die föderale Struktur werden in Deutschland voraussichtlich sechs Commercial Courts entstehen, nämlich bei den Oberlandesgerichten Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt, München, Stuttgart sowie dem Kammergericht Berlin. Die Standorte planen eine starke Spezialisierung. Hier wird es u.a. auf stimmige Instanzenzüge ausgehend von der jeweiligen Eingangsinstanz Commercial Court oder Commercial Chamber ankommen.
Justiz schließt auf zu ausländischen Handelsgerichten
Die Justiz wird sich mit diesen neuen Spruchkörpern dem Wettbewerb mit anerkannten und jetzt neu entstehenden ausländischen Handelsgerichten und Schiedsgerichten stellen. Staatliche Gerichte sollen damit weiterhin die Aufgabe der Rechtsfortbildung in allen Bereichen des Wirtschaftsrechts wahrnehmen können.
Die Anwaltschaft wird in Zukunft bei der Abfassung von Gerichtsstand- und Schiedsvereinbarungen in Handelsverträgen und auch im Einzelfall dieses zusätzliche Angebot in die Beratung einbeziehen können. Dabei werden die Streitwertschwelle bei den Commercial Courts ab 500.000 Euro – die bei den Commercial Chambers nicht besteht – sowie die in der bundesweiten Landschaft der Commercial Courts und Commercial Chambers jeweils angebotenen Sachgebiete eine Rolle spielen. Hier könnte ein anwenderfreundlicher und übersichtlicher Internetauftritt z.B. nach dem Muster des Einheitlichen Patentgerichts – entstehen, dem sich klar entnehmen lässt, welches dieser Handelsgerichte welche Zuständigkeiten bedient.
Gerichtsverfahren für die Wirtschaft jetzt attraktiver?
Der Gesetzgeber greift Modernisierungsforderungen der Unternehmen auf und stellt den Commercial Courts und den Commercial Chambers durch die Änderungen von Gerichtsverfassungsgesetz und Zivilprozessordnung (ZPO) bewährte Instrumente der Schiedsgerichtsbarkeit zur Verfügung. Es werden insbesondere ein verkürzter Instanzenzug mit Eingangsinstanz bei dem Commercial Court am OLG, Englisch als Verfahrenssprache bis hin zu einem englischsprachigen Urteil, ein obligatorischer früher Organisationstermin, Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen und ein Wortprotokoll eingeführt.
Angesichts des von der Präsidentin des BGH gesehenen Markts für "Commercial Courts" und grundsätzlich positiver Stimmen aus der Richterschaft dürfte damit zu rechnen sein, dass dessen Richterinnen und Richter sich einer Verfahrensführung in englischer Sprache nicht verschließen werden. Die Sachgebiete der neuen Spruchkörper umfassen bürgerliche Streitigkeiten zwischen Unternehmen (außer gewerblichem Rechtsschutz, Urheberrecht und Ansprüchen nach UWG), im Zusammenhang mit Unternehmenskäufen sowie Organhaftungsklagen.
Die Länder streben eine starke Spezialisierung auf der Richterbank an und wollen daher – so jedenfalls bisherige Pläne – jeweils nur einzelne Zuständigkeiten aus dem vorgenannten Katalog bedienen. Diskutiert werden einerseits Spezialisierungen auf international geprägte Sachgebiete, in denen die Eingangszahlen gering sind, nämlich das Gesellschaftsrecht, einschließlich "Merger & Acquisition“ teils mit Branchenfokus, Transportrecht oder „erneuerbare Energien“. Andererseits werden bewährte, durch das GVG bereits geregelte Sondergebiete, wie das Bau-, Bank- oder Versicherungsrecht genannt, in denen die Gerichte gute Eingangszahlen haben.
Mehr Flexibilität bei Fortgeltung diverser Vorteile der ZPO
Zugleich bestehen die bisherigen Vorteile staatlicher Verfahren nach der ZPO fort. So bleibt die Einbeziehung Dritter durch Streitverkündung auch dann möglich, wenn die Parteien sich auf die Anrufung des Commercial Courts oder einer Commercial Chamber und die Verfahrensführung in englischer Sprache geeinigt haben. Dritte können eine deutsche Übersetzung einer englischen Streitverkündungsschrift und einen Dolmetscher beantragen. Auch die weiteren Vorteile staatlicher Verfahren bleiben erhalten, wie die Besetzung der Gerichte mit neutralen Berufsrichtern und teilweise am LG ergänzend Handelsrichtern, und zwar hier regelmäßig mit einer Dreierbesetzung in der Eingangsinstanz und die Möglichkeit hoheitlicher Zwangsmaßnahmen etwa gegenüber Zeugen. Zudem ist das Kostenrecht nach Gerichtskosten- und Rechtsanwaltsvergütungsgesetz anwendbar.
Von den Fortschritten in der Digitalisierung der Justiz, beispielsweise durch die Möglichkeit von Videoverhandlungen und deren zukünftige Erstreckung auf Parteien sowie deren Rechtsanwälte im europäischen Ausland profitieren auch diese neuen Verfahren.
Flankierung durch weitere Maßnahmen in Bewegung
Der Gesetzgeber hat im Rahmen der Beratungen zu den Commercial Courts Impulse zu weiteren Projekten erhalten. Einerseits ist der Kritik zu begegnen, dass die deutsche Rechtsprechung zu Allgemeinen Vertragsbedingungen (AGB) in Handelsverträgen nicht kalkulierbar sei, und daher zur "Flucht" in andere Rechtsordnungen motiviere. In Teilbereichen sind gewisse Veränderungen erfolgt, wie z.B. durch die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr und das Zukunftsfinanzierungsgesetz, das zu einer Ergänzung des § 310 BGB geführt hat. Ein Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion u.a. gerichtet auf eine Schärfung des Verständnisses vom "Aushandeln" von AGB unter Berücksichtigung des berechtigten Schutzbedürfnisses kleinerer und mittlerer Unternehmen wurde im Gesetzgebungsverfahren allerdings abgelehnt.
Deutschland wird sich weiter um eine Fortentwicklung der multi- und bilateralen Rechtshilfevereinbarungen für Vollstreckungen seiner Urteile im Ausland bemühen. Der Druck ist dadurch erhöht, dass Schiedssprüche nach dem nahezu weltweit ratifizierten "New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen" in zahlreichen Staaten vollstreckbar sind, mit denen Deutschland keine Rechtshilfevereinbarungen zur Vollstreckung von Urteilen hat. Über weitere Vereinfachungen von Beweisaufnahmen per Videoverhandlung im inner- und außereuropäischen Ausland, wird auf EU-Ebene und in der Haager Konferenz für internationales Privatrecht bereits verhandelt.
Damit die Tätigkeit der neuen Spruchkörper international wahrgenommen werden kann, sollten über die zu veröffentlichenden englischsprachigen Entscheidungen hinaus auch die Übersetzungen der deutschen Rechtstexte in die englische Sprache auf einem aktuellen Stand sein.
Dynamik für die Zukunft des Zivilprozesses
Die Einrichtung der Commercial Courts und Chambers eilt der soeben mit einer Auftaktveranstaltung im BMJ begonnenen Arbeit der Bund-Länder-Reformkommission "Zivilprozess der Zukunft" voraus. Die mit den neuen Wirtschaftsverfahren gesammelten Erfahrungen, insbesondere diejenigen für eine "Bessere Strukturierung des Prozessstoffs und des Verfahrens" werden in die Diskussion einfließen können. Der Beitrag des nunmehr – über die bisher mögliche Verfahrensstrukturierung gem. § 139 Abs. 1 S. 3 ZPO hinaus – vorgeschriebenen frühen Organisationstermins zu einem straffen Verfahrensablauf und einer frühen Klärung von Einigungsmöglichkeiten und auch die weiteren prozessrechtlichen Neuerungen können evaluiert werden.
Es erscheint zudem denkbar, dass bestimmte digitale Programme für eine Strukturierung des Verfahrens sowie digitale Kommunikationsplattformen, wie sie im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit aus dem BMJ für kleine Verfahren vorgesehen sind, anhand dieser großen Handelsstreitigkeiten erprobt werden.
Reaktion auf Kritik von Unternehmen und Anwaltschaft
Fazit: Der Gesetzgeber modernisiert mit dem Justizstandort-Stärkungsgesetz Wirtschaftsverfahren vor staatlichen Gerichten und reagiert damit auf Kritik der Unternehmen und Anwaltschaft sowie rückläufige Eingangszahlen. Zur Beschleunigung der Verfahren wird ein verkürzter Instanzenzug mit Eingangsinstanz am OLG angeboten. Bewährte Elemente aus der Schiedsgerichtsbarkeit sollen im Zusammenspiel mit erprobten Regelungen der ZPO flexiblere Prozesse ermöglichen. Bedürfnissen der Unternehmen u.a. nach einem frühen Verfahrensplan und Geheimhaltung wird Rechnung getragen.
Auf dieser Grundlage können die Länder zeigen, dass sie personell und organisatorisch in der Lage sind, zeitgemäße Wirtschaftsverfahren anzubieten. So können sie für den zunehmend international ausgebildeten Juristennachwuchs attraktiv bleiben. Damit die Stärkung des Justizstandorts Deutschland und des deutschen Rechts gelingt, wird es auch darauf ankommen, dass Anwaltschaft und Unternehmen diese neuen Wirtschaftsverfahren vor den Commercial Courts und Chambers nutzen.
Julia Flockermann, LL.M. ist Vorsitzende Richterin einer internationalen Kammer und einer Baukammer am Landgericht Berlin II, vormals Attorney at Law (New York).
Gesetz für Commercial Courts: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55057 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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