Massenstrafverfahren gegen Anwälte, Massenentlassungen in der Richterschaft. Während Kanzlerin Merkel am Freitag Erdogan in Istanbul besuchte, diskutierten Experten die Situation der Anwaltschaft in der Türkei und auch in Iran.
"So ein Treffen wie dieses hier", sagt Dr. Leila Alikarami und ließ den Blick durch den Raum wandern, "wäre in Iran illegal, eine Gefahr für die Sicherheit des Landes, wir würden alle verhaftet werden", so Alikarami am Freitag in Berlin. Die Menschenrechtsanwältin von der SOAS University in London hat über Jahre auch als Anwältin in Iran gearbeitet. Auch mit der iranischen Anwältin Nasrin Sotoudeh, die 2012 den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments für geistige Freiheit erhielt, 2019 aber in Iran 2019 zu 33 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt wurde. Als Anwältin setzte sie sich für Frauen ein, die gegen das im Iran per Gesetz vorgeschriebene Verschleierungsgebot verstoßen haben. Alikarami lebt in London, sie kann reisen und ist damit eine der wenigen Stimmen der iranischen Anwaltschaft in der Welt.
Auch dieses Jahr war der Tag des bedrohten Anwalts wieder alles andere als ein Tag mit guten Nachrichten für zahlreiche Anwälte in der Türkei und in Iran. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) und die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatten deshalb Experten eingeladen, um vor allem über die Lage von Anwälten in den beiden Staaten zu sprechen.
Anwaltschaft in Iran isoliert
Die Anwälte in Iran sind, so berichtet Alikarami, international besonders isoliert. In dem Land gebe es keine unabhängigen Stellen, die sich für die ihre Belange einsetzen könnten. Die iranische Rechtsanwaltskammer sei schwach, eingeschüchtert und vor allem nicht unabhängig. "Anwälte nehmen eine ganz wichtige Rolle ein, um Menschenrechte zu bewahren", sagt Alikarami, "aber wie gut sie diese Aufgabe erfüllen können, hängt auch davon ab wie es um die Demokratie in dem Land bestellt ist." Nicht selten würden Anwälte in Iran wegen der gleichen Vorwürfe verfolgt, die zunächst ihren Mandanten vorgeworfen wurden.
Diese Gefahr sieht auch Emma Sinclair-Webb, Türkeiexpertin für die NGO Human Rights Watch. "Wenn Anwälte zum Schweigen gebracht werden, verliert eine ganze Gesellschaft ihre Stimme", sagte sie. Auch sie berichtet von Menschenrechtsanwälten, die in der Türkei sich zweimal überlegen, ob sie noch Verfahren zum Terrorismusstrafrecht übernehmen. Unter Terrorismusverdacht stellt die türkische Regierung nicht nur die Anhänger linker Gruppen, kurdischer Bewegungen, und Gülen-Anhänger – sondern auch deren Anwälte.
Der islamische Prediger Fetullah Gülen führt eine religiöse Gemeinschaft, die Kritiker als Sekte sehen. Nach dem Bruch mit seinem ehemaligen Verbündeten, dem heutigen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, lebt Gülen in den USA im Exil. Die türkische Regierung vermutet Gülen und seine Anhänger hinter dem blutigen Putschversuch vom Sommer 2016, der Prediger streitet das ab. Nach dem Putschversuch sollen auch rund 3.000 Richter und Staatsanwälte ihre Posten verloren haben – manche quasi über Nacht.
"Massenstrafverfahren gegen Anwälte in der Türkei"
Yavuz Aydin holt einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und streicht auf seiner Visitenkarte zwei Zeilen sorgfältig durch. "Ständige Delegation der Türkei bei der EU" und "Richter/Berater". Aydin war 14 Jahre lang Strafrichter in der Türkei, dann EU-Spitzenbeamter der Türkei in Brüssel. "Jetzt bin ich ein unabhängiger Flüchtling", sagt Aydin am Freitag. Er lebt in Brüssel im Exil und arbeitet nun an seiner Doktorarbeit. Aydin wurde wie tausende andere Richter unmittelbar nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei aus seinem Amt entfernt, er entschloss sich zu fliehen, über Rumänien bis nach Belgien. Er sagt über sich selbst, er gehöre nicht zur Gülen-Bewegung. Der Putschversuch sei aber eine Gelegenheit für die türkische Regierung gewesen, unter dem Vorwurf der Gülen-Mitgliedschaft generell Regierungskritiker aus dem Verkehr zu ziehen. Aydin erinnerte auch daran, dass die Justiz in der Türkei nie völlig unabhängig gewesen sei. Aber das Ausmaß der politischen Willkür unter der Erdogan-Regierung und vor allem nach dem Putschversuch sei beispiellos.
Sinclair-Webb hat für Human Rights Watch 2019 einen knapp 60 Seiten langen Bericht über Rechtsanwälte vor Gericht in der Türkei verfasst. NGOs schätzen, dass rund 1.500 Anwälte in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden, rund 270 davon bereits verurteilt wurden. Besonders beunruhigt sie, dass es mittlerweile auch "Massenstrafverfahren gegen Anwälte" gebe. Ein solches Verfahren werde in der Hauptstadt Ankara gegen 50 Rechtsanwälte geführt. Ihnen wird vorgeworfen, Teil einer organisierten Gülen-Struktur von Anwälten zu sein.
Hoffnungsgericht EGMR?
Während die Anwaltschaft in Iran ziemlich isoliert ist, können verfolgte Anwälte in der Türkei auf europäische Verbindungen setzen. Vor allem auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Aber auch hier ist mittlerweile eine gewisse Ernüchterung eingetreten, wie türkische Juristen am Freitag berichteten.
Der EGMR sieht zehntausende Fälle aus der Türkei auf sich zukommen und hat bisher regelmäßig Beschwerden abgelehnt und stattdessen die Beschwerdeführer auf die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs verwiesen. Das mag für die Betroffenen zynisch klingen, stellen sie ja gerade in Zweifel, dass es in der Türkei noch einen effektiven Rechtsweg gibt.
Und wenn der EGMR bisher in einigen Haftfällen die Türkei verurteilt hatte, hat die türkische Regierung bislang stets Wege gefunden, die Haft aufrecht zu erhalten oder das Urteil schlicht ignoriert wie zuletzt im Fall des inhaftierten Intellektuellen Osman Kavala.
Merkel auf Besuch bei Erdogan
Am Freitag besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel den türkischen Staatspräsidenten. Dabei ging es ganz zentral auch um den sogenannten Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei, der Erdogan eine wirkmächtige Verhandlungsposition verschafft. Noch am Freitag sollte Merkel nach Informationen der ARD auch den Rechtsanwalt Veysel Ok treffen, der, nachdem er den Journalisten Deniz Yücel verteidigt hatte, nun auch sich selbst verteidigen muss. Er wird aus erster Hand berichten können, wie es für den Rechtsstaat und die Situation der Juristen in der Türkei derzeit aussieht.
Menschenrechtler zur Lage in Türkei und Iran: . In: Legal Tribune Online, 25.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39891 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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