Im Fall Kachelmann steht Aussage gegen Aussage – keine Ausnahme, wenn es um Vergewaltigung geht. Wessen Version die Justiz folgt, ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Welche Konsequenzen sie daraus zieht, auch eine Frage des Geschlechts. Gisela Friedrichsen über das Messen mit zweierlei Maß.
Version eins, seine Version:
Eine junge Frau fährt nach einem fröhlichen Abend im Bekanntenkreis mit einem Mann in dessen Wohnung. Ihr angeblicher Ex- oder Immer-noch-Freund verfolgt sie. Es gelingt den beiden, diesen Freund abzuschütteln. Die beiden gehen in des Mannes Wohnung, um irgendetwas zu "besprechen". Sie setzt sich auf sein Bett. Er geht ins Bad um zu duschen und kommt wieder, bekleidet nur mit Boxershorts. Jetzt liegen beide auf dem Bett. Es kommt einvernehmlich zu Geschlechtsverkehr. Beide schlafen ein. Als er morgens aufwacht, ist sie schon gegangen.
Version zwei, ihre Version:
Wie oben. Der Geschlechtsverkehr allerdings ist nicht einvernehmlich. Eine Stunde später fährt der Mann die Frau nach Hause.
Wie ging es tatsächlich weiter? In den folgenden Wochen tauschen die junge Frau und ihr Neuer insgesamt 28 liebevolle Kurzmitteilungen aus. Dem ehemaligen Freund gegenüber bestreitet sie das intime Zusammensein. Als der den Nebenbuhler zur Rede stellt, gibt dieser den Kontakt zu und spielt ihn als rein sexuelle Angelegenheit herunter. Vier Wochen nach der angeblichen Tat, nachdem nun auch der Arbeitgeber Wind von der Sache bekommen hat, erstattet die Frau Strafanzeige wegen Vergewaltigung.
Bei der Polizei gibt sie an, sie würde sich niemals vor jemandem nackt ausziehen. "Ich mag meinen Körper, vor allem meine Brüste, nicht", sagt sie. Sie sei da verklemmt. "Ich würde mich bei einem Fremden nie ausziehen. Wenn Sex, dann nur im Dunkeln."
Auf die Frage, warum sie denn noch so liebevolle, nette Kurzmitteilungen an ihren angeblichen Vergewaltiger versandt habe, sagt sie: "Ich wusste nicht, was ich schreiben soll. Ich wollte nicht, dass das rauskommt." Man hält ihr vor, dass die Art und Weise der Anzeigenerstattung dafür spreche, dass sie nicht mehr anders gekonnt habe, weil sie konkret auf den Sexualkontakt angesprochen worden sei. Sie antwortet wieder: "Ich wusste nicht, was ich machen sollte." Sie verwickelt sich in Widersprüche, ihre Angaben zum eigentlichen Geschehen sind dürftig, detailarm, statisch und inkonstant.
Die Staatsanwaltschaft stellt darauf das Verfahren ein, "da die durchgeführten Ermittlungen nicht zur Begründung eines für die Anklageerhebung notwendigen hinreichenden Tatverdachts geführt haben". Es stehe Aussage gegen Aussage.
Der Verteidiger des Beschuldigten erstattet daraufhin Strafanzeige wegen des Verdachts einer falschen Verdächtigung und beantragt vorsorglich die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens, da es sich seiner Auffassung nach bei der Anzeige um eine intentionale Falschaussage handle.
Die Staatsanwaltschaft teilt nun dem Verteidiger mit, sie habe auch das Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigte eingestellt, weil ein Tatnachweis nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu führen sei. "Da zum eigentlichen Tatgeschehen nur die Einlassung Ihres Mandanten und die Angaben der Beschuldigten zur Verfügung stehen, sind letzte Zweifel daran, dass die Beschuldigte Ihren Mandanten zu Unrecht einer Vergewaltigung bezichtigt hat, nicht auszuräumen", heißt es in einem Schreiben der Staatsanwaltschaft an den Verteidiger.
Übersetzt man diesen Sachverhalt, ergibt sich folgendes: Zeigt eine Frau einen Mann wegen Vergewaltigung an und gibt es sonst keinerlei Beweismittel, so kommt es auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin und die Glaubhaftigkeit der von ihr gemachten Angaben an. Reicht dies zur Überzeugung der Staatsanwaltschaft und des Gerichts, wird angeklagt und gegebenenfalls auch verurteilt. In der Konstellation "Aussage gegen Aussage" passiert das regelmäßig. Hätte der Angeklagte im vorliegenden Fall nicht selbst Beweismittel beigebracht - was er nicht muss! - , wie etwa die 28 Kurzmitteilungen, er wäre höchstwahrscheinlich angeklagt worden. Man hätte gefragt: Warum sollte sie ihn zu Unrecht beschuldigen?
Ist hingegen mehr als naheliegend, dass die Frau eine falsche Beschuldigung erhoben hat, verzichtet man kurzerhand auf den ursprünglich Verdächtigen als Zeugen und damit als Beweismittel. Man erklärt, es stehe ja Aussage gegen Aussage, und daher sei wohl mit einer Verurteilung nicht zu rechnen. Mit anderen Worten: Einmal reicht die Aussage für eine Anklage, das ist der Normalfall. Das andere Mal reicht sie nicht. Und was dies für einen Beschuldigten bedeutet, bekommen wir gegenwärtig täglich aufs neue vorgeführt.
Zwischenruf von Gisela Friedrichsen: . In: Legal Tribune Online, 05.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1367 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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