Ismet H. wurde 1983 von dem Vorwurf rechtskräftig freigesprochen, die 17-jährige Frederike von Möhlmann ermordet zu haben. Nach umstrittener Wiederaufnahme des Verfahrens kam er erneut in U-Haft. Das BVerfG ordnete jetzt die Freilassung an.
Unter Auflagen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einem Antrag auf einstweilige Anordnung des Mannes teilweise stattgegeben, der trotz Freispruchs erneut des Mordes an der 17-Jährigen Frederike von Möhlmann im Jahr 1981 verdächtigt wird. Die Entscheidung erging mit 5:3 Stimmen.
Ein gegen ihn vom Landgericht (LG) Verden erlassener Haftbefehl wurde am Donnerstag außer Vollzug gesetzt, H. kommt nun unter bestimmten Bedingungen frei. Unter anderem muss er seine Ausweispapiere beim LG abgegeben, sich zweimal wöchentlich bei der zuständigen Staatsanwaltschaft melden und darf zudem seinen Wohnort nicht verlassen (Beschl. v. 14.07.2022 Az. 2 BvR 900/22).
Obwohl 1983 vom Bundesgerichtshof rechtskräftig vom Mordverdacht freigesprochen, war gegen H., der seit Ende Februar in U-Haft saß, auf Grundlage der verfassungsrechtlich äußerst umstrittenen, von der damaligen GroKo beschlossenen Wiederaufnahme-Vorschrift nach § 362 Ziff. 5 Strafprozessordnung (StPO) erneut ein Strafverfahren aufgenommen worden.
Bei schwersten Straftaten: Wiederaufnahme trotz rechtskräfigem Freispruch
Die Regelung sieht vor, dass u.a. in Fällen von Mord oder Völkermord eine spätere Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei rechtskräftigem Freispruch des Angeklagten möglich ist – wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt. Davor konnte ein Strafverfahren zum Nachteil des Verurteilten nach § 362 StPO nur in besonderen Härtefällen wieder aufgenommen werden. Nämlich dann, wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt.
Nach dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft soll H. 1981 Frederike von Möhlmann aus Hambühren (Landkreis Celle) vergewaltigt und getötet haben. Im Jahre 2012 gefundene Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip der Getöteten sollen ihn belasten. Neues Beweismittel ist also eine molekulargenetische Untersuchung (DNA-Probe), die viele Jahre nach Abschluss des Strafverfahrens durchgeführt wurde.
Ausgang des Hauptsacheverfahrens völlig offen
Gegen den OLG-Beschluss hatten daraufhin der bekannte Hamburger Strafverteidiger Johann Schwenn und seine Kollegen Dr. Yves Georg und Leon Kruse Verfassungsbeschwerde, verbunden einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, eingereicht. Letzterem wurde nun teilweise, da unter Auflagen, stattgegeben.
Mit dem Beschluss über die einstweilige Anordnung ist noch keinerlei Entscheidung darüber getroffen, ob die umstrittene Vorschrift verfassungskonform ist und H. auch in der Hauptsache obsiegt. Das BVerfG sagte im Beschluss, dass die eingelegte Verfassungsbeschwerde weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet sei.
Folgenabwägung zugunsten des Mordverdächtigen
In einer Folgenabwägung im Rahmen des Eilverfahrens kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass Ismet H. freizulassen ist. Denn die Nachteile, die einträten, wenn Ismet H. in Untersuchungshaft bliebe, obwohl später seine Verfassungsbeschwerde gegen die Wiederaufnahmevorschrift Erfolg hätte, würden gegenüber den Nachteilen überwiegen, die bei Freilassung von Ismet H. aber späterer Erfolglosigkeit der Verfassungsbeschwerde entstünden. Dies, so das BVerfG, gelte allerdings nur unter der Voraussetzung, dass geeignete, im Vergleich zur Untersuchungshaft weniger eingreifende Maßnahmen zur Minimierung der Fluchtgefahr getroffen würden.
Diese Maßnahmen sieht das BVerfG als erforderlich an, da die Grundrechte von Ismet H. im konkreten Fall nicht grundsätzlich gegenüber dem öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung von schwersten Straftaten überwiegen. "Sowohl die Folgen einer einstweiligen Anordnung als auch die Folgen ihres Unterlassens sind insgesamt von solchem Gewicht, dass sie jeweils nicht vollständig zurücktreten dürfen."
So hat die Schwere des Tatvorwurfs laut BVerfG "ein solches Gewicht, dass auch dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung getragen werden muss". Die verhängten Auflagen – Abgabe der Ausweispapiere, Meldepflichten und eine Aufenthaltsbeschränkung – seien daher geboten, um den staatlichen Strafverfolgungsanspruch ausreichend zu sichern. Ein verbleibendes Risiko, dass sich der Mann der Strafverfolgung entziehe, müsse, so das BVerfG, "angesichts der besonderen Grundrechtsbelastung, die mit der – erneuten – Untersuchungshaft im Zuge der Zulassung des Wiederaufnahmeantrags verbunden ist, hingenommen werden".
Strafrechtler: Entscheidung kein Votum gegen die Verfassungskonformität der Neuregelung
In einer ersten Reaktion gegenüber LTO beurteilte der Augsburger Strafrechtsexperte Prof. Dr. Michael Kubiciel die Entscheidung angesichts der Eingriffsintensität des Haftbefehls als "nachvollziehbar". Die Entscheidung sei, wie das BVerfG betone, keine Entscheidung in der Hauptsache und vor allem kein Votum gegen die Verfssungskonformität der Neuregelung. "Wie hätte es gewirkt, wenn BVerfG angesichts der Debatte in der Wissenschaft und der Bedenken des Bundespräsidenten den Antrag zurückgewiesen hätte mit dem Argument, die Kritik an der Vorschrift sei offensichtlich unbegründet?", so Kubiciel.
Das Mitglied im DAV-Strafrechtsausschuss, Rechtsanwalt Stefan Conen, äußerte sich zumindest im Ansatz erfreut über den Karlsruherr Beschluss: Er sei "der zu erwartende Dämpfer für die Unbekümmertheit, mit der die Große Koalition und ihr folgend das OLG Celle meinten, die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die neue Regelung beiseite wischen zu dürfen", so der Verteidiger. "Auch wenn damit die endgültige Bewertung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht präjudiziert ist, wäre die Strafverfolgung rechtsstaatlich gesehen sicher gut beraten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten und keine Wiederaufnahmeverfahren zuungungsten Freigesprochener voranzutreiben, deren Zulässigkeit nach dieser Entscheidung nicht mehr nur in der Fachwelt, sondern auch vom Verfassungsgericht bezweifelt wird."
BVerfG-Empfehlung: Entscheidung über Verfassungsbeschwerde abwarten
In der Tat stellt sich nun die Frage, wann das LG Verden die erneute Hauptverhandlung gegen H. terminieren wird. Das LG dürfte in diesem Kontext auch die Meinung des BVerfG mit Interesse gelesen haben.
Denn Karlsruhe empfhielt dem LG ein Zuwarten: "Die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung bezweckte Befriedungswirkung kann besser erreicht werden, wenn über die Verfassungsbeschwerde bereits vor der Weiterführung des Wiederaufnahmeverfahrens abschließend entschieden ist. Es wäre nicht mit der Unsicherheit belastet, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben und ihm damit die Rechtsgrundlage entziehen könnte", heißt es in dem am Samstag veröffentlichten Beschluss.
Die Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers wollten gegenüber LTO die Karlsruher Entscheidung inhaltlich nicht weiter kommentieren. Eine gewisse Freude über das Ergebnis war ihnen dennoch anzumerken. Aus der Hamburger Kanzlei Schwenn & Kruse hieß es: "Der Beschluss spricht für sich."
Wiederaufnahme im Mordfall Frederike: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49069 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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