Das heimlich von einer Mitarbeiterin gedrehte Video aus der Kantine des Schlachtbetriebs Tönnies hat für Aufruhr gesorgt. Durfte der Frau deswegen gekündigt werden? Alexander Willemsen über eine arbeitsrechtliche Gratwanderung.
Zu den Bildern, die vom massiven COVID19-Ausbruch im Hauptbetrieb der Firma Tönnies in Rheda-Wiedenbrück im Gedächtnis bleiben werden, zählt fraglos ein im Internet veröffentlichtes Video, welches die Kantine des Betriebes zeigt. Dicht an dicht gedrängt sitzen dort Mitarbeiter beim Mittagessen. Aus dem Off sind Kommentare wie "Tausende Menschen an einem Tisch", "Wie sollen wir uns hier schützen?" und "Das ist Tönnies" zu hören.
Derartige anonyme Veröffentlichungen werden als "Leaks", also die zielgerichtete Enthüllung von vertraulichen Informationen durch einen Insider, bezeichnet. Betrifft solch ein Hinweis den eigenen Arbeitgeber, wandelt der Informant auf einem schmalen Grat zwischen Zivilcourage und Rufmord. Welche arbeitsrechtlichen Risiken mit derartigen Anzeigen verbunden sind, wird derzeit vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Bielefeld verhandelt.
Es ist unklar, ob das Video vor oder nach Inkrafttreten der umfassenden Corona-Schutzmaßnahmen entstanden ist, die unter anderem die Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 Metern zwischen den Mitarbeiter vorsehen. Trotzdem schlug es hohe Wellen in den Medien und rückte das Unternehmen in ein schlechtes Licht, weil es scheinbar unverantwortlich mit seinen Mitarbeitern umging und den Ausbruch des Virus im Betrieb möglicherweise mitverschuldet hatte.
Nach internen Ermittlungen wurde festgestellt, dass der Clip offenbar von einer Mitarbeiterin des Catering-Unternehmens, das die Kantine bei Tönnies betreibt, stammte. In der Folge hatte die Frau bestätigt, das Video ins Internet gestellt zu haben. Sie bestritt aber, dass die negative Kommentierung in dem Video von ihr sei. Der Mitarbeiterin wurde noch im April fristlos gekündigt. Die Firma Tönnies erteilte ihr zudem Hausverbot.
Whistleblowing vs. Loyalitätspflicht
Die Klage der Mitarbeiterin gegen ihre Kündigung wird derzeit vor dem ArbG verhandelt. In einem gerichtlichen Vergleich einigten sich die Parteien zunächst auf eine fristgerechte Kündigung unter Zahlung einer Abfindung. Nachdem sie den Anwalt gewechselt hatte, entschied sich die Mitarbeiterin jedoch dazu, den Vergleich zu widerrufen und weiter gegen die Kündigung vorzugehen.
Der Fall zeigt anschaulich, wie schwer die Grenze zwischen Whistleblowing, also das Geben von Hinweisen auf ansonsten unerkannte Missstände, und geschäftsschädigenden Indiskretionen gezogen werden kann.
Der Schutz von Whistleblowern und seine Grenzen beschäftigt die Arbeitsrechtswelt bereits länger. Will ein Mitarbeiter Missstände bei seinem Arbeitgeber anprangern, gerät er in ein Spannungsfeld: Einerseits ist es gesellschaftlich erwünscht, auf Missstände hinzuweisen. Für solch eine Zivilcourage soll der Mitarbeiter vor Sanktionen wie der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses geschützt werden. Andererseits ist ein Arbeitnehmer aber auch zur Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber verpflichtet. Dem stünde es entgegen, wenn der Arbeitnehmer jeden angeblichen Missstand in die Öffentlichkeit trägt und der Ruf des Unternehmens auf diese Weise Schaden nimmt. Die wirtschaftlichen Folgen derartiger Indiskretionen können nämlich immens sein.
Zunächst interne Meldung erforderlich?
Die Arbeitsgerichte lösen diesen Konflikt mit einer Abstufung: Grundsätzlich gilt, dass der Mitarbeiter aufgrund arbeitsvertraglicher Nebenpflichten im Sinne des § 241 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch zwar stets auf Missstände hinweisen darf und soll, jedoch darauf zu achten hat, dass der Ruf des Arbeitgebers nicht unnötig Schaden nimmt. Daraus folgt, dass der Mitarbeiter immer zuerst innerbetriebliche Abhilfe suchen muss.
Erster Anlaufpunkt sollte im Regelfall der Vorgesetzte oder dessen Vorgesetzter sein. Viele Unternehmen setzen aber auch auf innerbetriebliche Hinweissysteme, die die anonyme Meldung von Missständen an eine spezielle Stelle ermöglichen. Reagiert der Arbeitgeber auf eine entsprechende Mitteilung nicht oder ist ein solcher Hinweis offensichtlich undienlich, sollte sich der Arbeitnehmer genau überlegen, an welche externe Stelle er sich wendet.
Bei Verstößen gegen Hygiene- und Sicherheitsvorschriften wie hier kommen insbesondere öffentliche Behörden wie Gesundheitsämter in Betracht. Dies gewährleistet, dass gegen bestehende Missstände ohne unnötige öffentliche Wahrnehmung eingeschritten werden kann. Erst wenn auch derartige Schritte erfolglos bleiben oder nicht möglich sind, darf sich der Arbeitnehmer mitunter auch an die breitere Öffentlichkeit wenden.
EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern
Demnächst sind neue Impulse in der Diskussion um den Schutz von Whistleblowern zu erwarten: Am 23.10.2019 ist eine europäische Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern verabschiedet worden. Danach soll diejenige Person, welche auf Verstöße gegen spezielles Unionsrecht hinweist, besonderen Schutz erlangen. Die Richtlinie erfasst neben Arbeitnehmern im Sinne des Art. 45 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV) alle Personengruppen, die "aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit, unabhängig von der Art dieser Tätigkeit sowie davon, ob diese vergütet wird oder nicht, privilegierten Zugang zu Informationen über Verstöße, deren Meldung im öffentlichen Interessen liegt, haben und die im Falle einer solchen Meldung Repressalien erleiden könnten" sowie dritte Personen, welche den Hinweisgeber bei der Meldung im beruflichen Kontext unterstützt haben.
Anspruch auf Schutz soll gemäß Art. 6 der Richtlinie derjenige haben, der mit hinreichendem Grund davon ausgehen durfte, dass die gemeldete Information zutrifft und einen Verstoß darstellt, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt. Er soll nach Art. 6 Abs. 1 lit. b) i.V.m. Art. 7 und 10 der Richtlinie selbst die Wahl haben, die Information zunächst intern, also an eine geeignete Stelle innerhalb des Unternehmens, zu melden oder sich an externe Stellen, also an die zuständige Behörde, zu wenden. Die Mitgliedsstaaten sollen sich gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie allerdings für eine erstmalige interne Meldung einsetzen.
Die Richtlinie regelt überdies in Art. 5 Nr. 5 den speziellen Fall, dass sich der Whistleblower mit seiner Information an die Öffentlichkeit wendet. Ihm soll bei einer derartigen Vorgehensweise nur dann Schutz zukommen, wenn er die Missstände zuvor bereits intern im Unternehmen oder extern einer Behörde gemeldet hat, jedoch innerhalb der in der Richtlinie genannten Höchstfristen von drei beziehungsweise sechs Monaten keine geeigneten Maßnahmen ergriffen worden sind. Durfte der Whistleblower davon ausgehen, dass der Verstoß eine unmittelbare Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellt oder darstellen kann, greift der Schutz ebenfalls ein, auch wenn Arbeitgeber oder Behörde zuvor nicht informiert wurden. Gleiches gilt, wenn im Falle einer Meldung an eine Behörde Bestrafungen zu erwarten sind oder aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls lediglich geringe Aussichten bestehen, dass wirksam gegen den Verstoß vorgegangen wird.
Eine Umsetzung der Richtlinie in das deutsche Recht muss bis zum 17.12.2021 erfolgen. Auch wenn viele Regelungen der derzeitigen Rechtslage in Deutschland entsprechen, dürfte künftig klar normiert sein, wie ein Whistleblower vorzugehen hat und unter welchen Voraussetzungen er einen besonderen Schutz genießt.
Kündigungsschutzprozess mit ungewissem Ausgang
Das ArbG Bielefeld wird auf die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie nicht warten können: Nachdem der Versuch, den Konflikt durch einen schnellen Vergleich beizulegen, gescheitert ist und das Verfahren im öffentlichen Fokus steht, wird das Gericht eingehend prüfen, ob die Grenzen eines zulässigen Whistleblowings hier eingehalten wurden oder die fristlose Kündigung wegen der gezielten Indiskretionen gerechtfertigt war.
Hierbei dürfte es eine Rolle spielen, dass das Infektionsgeschehen seit März dieses Jahres eine Ausnahmesituation darstellt. Von der Kantine bei Tönnies ging – dies hat sich inzwischen leider bestätigt – eine erhebliche Infektionsgefahr für die Mitarbeiter und die Allgemeinheit aus. Angesichts dessen war wohl kaum Zeit, ein bürokratisches Hinweisverfahren einzuhalten. Umgekehrt dürften die missbilligenden Kommentare aus dem Off (sofern sie von der Mitarbeiterin stammten), die unkontrollierte Verbreitung des Videos über das Internet und die Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte derjenigen Arbeitnehmer, die in dem Video ohne ihr Wissen zu sehen sind, zu Lasten der Klägerin zu berücksichtigen sein.
Der Ausgang des Verfahrens darf mit Spannung erwartet werden. Eines ist bereits jetzt klar: Die große öffentliche Aufmerksamkeit, die die Mitarbeiterin mit ihrem Video erregen wollte, wird nun auch ihren Kündigungsschutzprozess begleiten.
Der Autor Dr. Alexander Willemsen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
Fristlose Kündigung wegen Tönnies-Video: . In: Legal Tribune Online, 06.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42110 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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