Ursula von der Leyen stellt sich als Kommissionspräsidentin zur Wahl, obwohl sie keine Spitzenkandidatin war. Ist das undemokratisch, gar ein Verrat am Wähler? Heiko Sauer hat eine klare Meinung dazu.
LTO: Die bei der Parlamentswahl angetretenen "Spitzenkandidaten" für den Kommissionspräsidenten spielen bei der Wahl heute keine Rolle mehr. Das sorgt für viel Kritik, von "Hinterzimmerpolitik" und gar "Verrat am Wähler" ist die Rede. Dabei kennen die Europäischen Verträge, genauer Art. 17 Abs. 7 EUV, gar kein Spitzenkandidatenprinzip, sondern verlangen vom Rat, der den Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft vorschlägt, nur, das Ergebnis der Parlamentswahl zu berücksichtigen.
Prof. Sauer: Man muss zwei Dinge berücksichtigen: Zunächst einmal werden auch die Spitzenkandidaten den Wählern präsentiert, ohne dass diese Einfluss auf deren Ernennung nehmen könnten. Sie sind also nicht weniger Produkt eines „Hinterzimmers“ als diejenigen, die vom Europäischen Rat aus dem Hut gezaubert werden.
Zweitens: So wie die Vertragslage ist, war klar, dass die Wähler nicht gleichsam über den Kommissionpräsidenten entscheiden würden. Die bewusst unklare Formulierung des Art. 17 Abs. 7 EUV lässt keinen anderen Schluss zu. Man muss sich auch bewusst machen, dass es um zwei verschiedene Organe der EU geht: Wir haben als Wähler an der Kreation des Parlaments mitgewirkt, das jetzt wiederum an der Kreation der Kommission beteiligt ist, aber eben zusammen mit dem Europäischen Rat.
"Das Parlament hätte es in der Hand gehabt"
Natürlich sind es zwei verschiedene Organe, doch das sind Bundestag und Bundesregierung auch. Dennoch wäre es in Deutschland wohl schwer vermittelbar, eine Kanzlerkandidatin Merkel aufzustellen und nach der Wahl, welche die CDU gewinnt, eine Kanzlerin Kramp-Karrenbauer vorzuschlagen.
Das liegt daran, dass man die Situationen, wenngleich sie sich ähneln, doch verfassungsrechtlich nicht miteinander vergleichen kann. In Deutschland liegt das Vorschlagsrecht für den Kanzler beim Bundespräsidenten. Aus seiner Stellung als neutrales Staatsoberhaupt heraus muss man folgern, dass es sich für ihn normalerweise gehört, den Spitzenkandidaten der stärksten Fraktion vorzuschlagen.
Im Gegensatz dazu sind auf europäischer Ebene mit Parlament und Europäischem Rat zwei Organe beteiligt, die im Benehmen die Kommission bilden müssen. Dort haben wir ein Tauziehen zwischen Europäischem Rat und Parlament, denn Art. 17 Abs. 7 EUV macht den Europäischen Rat gerade nicht zu einem neutralen Organ. Er soll vielmehr die Interessen der Mitgliedstaaten vertreten, während das Parlament Unionsinteressen wahrnimmt.
Zudem muss man sagen, dass es das Parlament politisch sicherlich in der Hand gehabt hätte, das Spitzenkandidatenprinzip zu retten, indem man sich auf den Kandidaten der stärksten Fraktion, nämlich Manfred Weber, verständigt hätte. Dann wäre es politisch wohl undenkbar gewesen, dass der Europäische Rat jemand anderen vorschlägt.
"Den Kompromiss nicht kleinreden"
Sie haben die "bewusst unklare" Formulierung des Art. 17 Abs. 7 EUV angesprochen. Welcher Gedanke liegt der Regelung zugrunde, dass die Parlamentswahl vom Rat nur "berücksichtigt" werden soll, aber nicht bindend ist? War das eine Art semi-demokratischer Kompromiss?
Es war ein Kompromiss, den ich aber nicht als "semi-demokratisch" kleinreden würde. Man muss in diesem supranationalen Setting sehen, dass wir immer einen Ausgleich zwischen Unions- und Mitgliedstaatsinteressen brauchen. Dieser Ausgleich ist in einem nationalstaatlichen Demokratiesystem nicht nötig. Deswegen ist aber nicht alles, was in Europa geschieht und anders ist, als wir es aus einem Verfassungsstaat kennen, gleich undemokratisch.
Der Grundgedanke war: Das Wahlergebnis soll sich auf die Kommissionspräsidentschaft auswirken, aber die Staats- und Regierungschefs sollen die Möglichkeit haben, Kandidaten aus nachvollziehbaren Gründen nicht zu akzeptieren. Das ist hier m. E. geschehen.
Sollte man aus Ihrer Sicht künftig ein echtes, also verbindliches Spitzenkandidatensystem etablieren?
Ich würde das keineswegs so bereitwillig bejahen, wie es im Moment gern getan wird. Es kann gute Gründe haben, dass der Europäische Rat bestimmte Kandidaten nicht akzeptieren möchte. Was jetzt geschieht, ist Ausweis eines Interessenausgleichs sowohl zwischen politischen Kräften im Parlament als auch zwischen Organen, die unterschiedliche Interessen repräsentieren.
Wenn man denn ein Spitzenkandidatenprinzip verankern würde, sollte man zumindest stärker darauf schauen, wie die sog. "Parteifamilien" im Parlament zu ihren Kandidaten kommen. Sie müssten dann stärker Gewähr dafür bieten, dass die Kandidaten auch die nötige Eignung für den Posten mitbringen.
Sie spielen auf Manfred Weber an, den Spitzenkandidaten der Konservativen, dessen Fraktion die stärkste Kraft bildet?
Ich meine, dass man Herrn Weber seine mangelnde Regierungs- und Verwaltungserfahrung mit guten Gründen vorhalten konnte. Und bei der Kandidatenkür hätte man das auch wissen müssen.
"Dann steht möglicherweise das nächste Ungemach ins Haus"
Frau von der Leyen selbst hat angekündigt, das aktuelle, informelle Spitzenkandidatensystem "verbessern" zu wollen. Halten Sie ein verbindliches Spitzenkandidatensystem mittelfristig für realistisch?
Ich habe da meine Zweifel. Ich glaube, dass wir eine formelle Vertragsänderung in absehbarer Zeit nicht bekommen werden. Natürlich wäre auch auf informellem Wege manches möglich. Ich bin mir aber unsicher, ob das Thema in einem halben Jahr noch das gleiche politische Gewicht haben wird.
Was passiert, wenn Frau von der Leyen heute Abend doch nicht gewählt wird? Stürzt die EU dann in eine Krise? Wären auch Neuwahlen denkbar?
Der Vertrag ist da sehr klar. Er spricht nicht von Wahlwiederholungen oder mehreren Wahlgängen. Wenn Frau von der Leyen nicht die absolute Mehrheit bekommen sollte, muss binnen eines Monats ein neuer Kandidat vorgeschlagen werden. Wenn man so will, geht dann das "Hinterzimmer" wieder von vorne los. Der Ball läge dann wieder beim Europäischen Rat.
Frau von der Leyen hat in ihrer heutigen Rede einige vollmundige Ankündigungen gemacht, u. a., in den ersten 100 Tagen ein Klimagesetz vorzulegen. Welche politische Gestaltungskraft hat ein Kommissionspräsident überhaupt, um so etwas durchzusetzen?
In Anbetracht dessen, was in den vergangenen Tagen passiert ist, ist das eine sehr berechtigte Frage. Der Kommissionspräsident hat kein politisches Gestaltungsmandat am Europäischen Rat vorbei. Er sitzt mit im Europäischen Rat und ist bei allen Gipfeln dabei, kann also an der Entscheidungsfindung teilnehmen. Der Europäische Rat ist aber das Leitgremium der Union. Die Kommission ist politisch zwar auch mächtig, doch den äußeren Rahmen der Politik setzt immer der Europäische Rat. Wenn jetzt also Versprechungen gemacht werden, die nicht hinreichend rückversichert sind, steht möglicherweise das nächste Ungemach ins Haus.
Professor Dr. Heiko Sauer lehrt deutsches und europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Bonn.
Die Fragen stellte Maximilian Amos.
Interview zur Kommissionspräsidentschaftswahl: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36529 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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