Dass die aktuellen Regelungen zur Impfpriorisierung verfassungswidrig sind, liegt auf der Hand. Anna Leisner-Egensperger und Jascha Arif hoffen, dass nun weitere Gerichte dem VG Potsdam folgen und sich über die Impfverordnung hinwegsetzen.
Von weiten Teilen der Öffentlichkeit unbemerkt, wird schwerkranken und behinderten Menschen durch die seit dem 8. Februar dieses Jahres geltenden Änderungen der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV) die Möglichkeit verwehrt, mit höchster Priorität gemäß § 2 CoronaImpfV eine Schutzimpfung zu erhalten. Während der alte Verordnungstext in § 1 Abs. 2 S. 1 CoronaImpfV noch eine Ermessensentscheidung ermöglichte, sodass Verwaltungsgerichte in Dresden oder Frankfurt bei medizinischen Notfällen eine Höchstpriorisierung bejaht hatten, ist dieser Weg durch die aktuelle Fassung der CoronaImpfV versperrt. Eine Härtefallregelung gibt es jetzt ausdrücklich für die zweite und dritte Prioritätengruppe, nicht jedoch für die erste Gruppe der Höchstpriorisierten.
Seit dieser Änderung sehen Verwaltungsgerichte quer durch die Republik keinen Raum mehr für vorgezogene Impfungen. Entsprechende Eilanträge lehnen sie ab. Mit dieser Praxis hat das VG Potsdam nun gebrochen (noch nicht veröffentlichter Beschl. v. 17.02.2021, Az.: L 103/21). Es ging um den Fall einer unter achtzigjährigen Tumorpatientin, der ärztlich ein exorbitantes Todesfallrisiko im Fall einer COVID-19 Ansteckung attestiert wurde. Erstmals setzt sich damit ein Gericht über den Wortlaut der CoronaImpfV hinweg.
Eine solche Entscheidung ist überfällig. Die Verfassungswidrigkeit der CoronaImpfV liegt auf der Hand, das wissenschaftliche Meinungsbild dazu ist einhellig. Zahlreiche Autorinnen und Autoren, Sachverständige in parlamentarischen Anhörungen und auch Stimmen aus der Justiz haben erklärt, dass der CoronaImpfV eine hinreichende parlamentarische Legitimation fehlt. Eine so einhellige Meinung ist schon bemerkenswert, zumal sich im Übrigen nur schwer verfassungsrechtliche Fragen finden lassen, zu denen es kein vielfältiges Meinungsspektrum gäbe.
Zumindest die Problematik der hinreichenden parlamentarischen Rechtsgrundlage sollte durch das aktuelle Gesetz zur Fortgeltung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite künftig eine Lösung erfahren. Neben dem Legitimationsdefizit ist es vor allem die fehlende Härtefallregelung in der Gruppe der Höchstpriorisierten, welche die CoronaImpfV als verfassungswidrig erscheinen lässt.
Dass es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bislang versäumt hat, sich zu diesen Fragen zu positionieren, obgleich es dazu Gelegenheit gegeben hätte, ist bedauerlich.
VG Potsdam: Es geht nicht ohne Härtefallregelung
Das VG Potsdam setzt indes an der fehlenden Härtefallregelung an, indem es moniert, dass ausgerechnet eine Person aus der denkbar vulnerabelsten Gruppe ("sehr hohes Todesfallrisiko nach einer Infektion mit dem Coronavirus") nach dem Wortlaut der Verordnung nicht die bestmögliche Priorisierung soll erhalten können. Die staatliche Fürsorgepflicht nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schließe es aus, Personen, die "aufgrund individueller Umstände ganz konkret am wahrscheinlichsten mit dem Tod bedroht" seien, hinter solchen einzuordnen, für die das nur aufgrund abstrakter Annahmen gelte, wie etwa eines hohen Alters.
Auch verstoße die aktuelle Fassung der CoronaImpfV gegen die Wertung ihrer Ermächtigungsgrundlage, in § 20 i Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 lit. a) SGB V. Dieser Vorschrift sei zu entnehmen, welche Kriterien der Gesetzgeber als maßgeblich für die Bildung einer Impfreihenfolge angesehen habe. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf meine nicht nur ältere Menschen, sondern auf gleicher Stufe auch solche, für die ein solches Risiko aufgrund ihres individuellen Gesundheitszustandes bestehe.
Dadurch verbiete die gesetzliche Wertung eine Ungleichbehandlung beider Personengruppen. Im Ergebnis leitet das Verwaltungsgericht einen Anspruch auf höchstpriorisierte Impfung direkt aus § 20 i Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 lit. a) SGB V i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ab.
Grenzen der Typisierung nach der Rechtsprechung des BVerfG
Die Entscheidung des VG Potsdam überzeugt. Insbesondere lässt sich einer Höchstpriorisierung Schwerstkranker in atypischen Einzelfällen nicht entgegenhalten, dass der Verordnungsgeber deren Berücksichtigung durch eine Gruppenbildung gerade verhindert hätte. Denn eine derartige Typisierung, wie sie der CoronaImpfV und damit der tatsächlichen Priorisierungspraxis zugrunde liegt, ist zwar bei Massenentscheidungen prinzipiell möglich.
Nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gleichheitssatzes kommt sie jedoch laut ständiger Rechtsprechung des BVerfG nur dann in Betracht, wenn die damit verbundenen "Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären, lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betroffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist."
Im Übrigen gilt für die Grenzen der Typisierung auf der Grundlage der gleichheitsrechtlichen Dogmatik des BVerfG ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter, verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab. Bei der Zuteilung von Lebenschancen durch den Impfstoff muss verfassungsrechtlich zwingend ein verwaltungsrechtlicher Spielraum zur Berücksichtigung der Verteilungsziele in atypischen Einzelfällen vorgesehen werden. Daher ist eine Fallgruppenbildung als solche bei einem derart grundrechtswesentlichen Sachbereich überhaupt nur dadurch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, dass sie Raum für die Berücksichtigung atypischer Härtefälle belässt.
Folgerichtigkeit der Norm
Unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel verstößt die fehlende Härtefallklausel in der Gruppe der Höchstpriorisierten überdies gegen den Grundsatz der Folgerichtigkeit der Normgebung. Denn der Verordnungsgeber mag im Rahmen der gesetzlichen Wertungen zwar einen gewissen Spielraum dazu haben, ob und in welchem Umfang er Härtefälle berücksichtigt.
Hat er sich aber dazu entschieden, atypische Fälle zu berücksichtigen, so muss er den dabei eingeschlagenen Weg folgerichtig zu Ende beschreiten. Es ist aber nicht einsichtig, dass es nur für Schutzimpfungen mit hoher und erhöhter Priorität Härtefallklauseln geben soll, nicht aber für Schutzimpfungen mit höchster Priorität.
Sinn und Zweck einer Härtefallklausel ist es, atypische Härtefälle zu erfassen, die der Normgeber bei der Typisierung des Massenfallrechts nicht sämtlich aufnehmen konnte. Dieser Gedanke begegnet auch in anderen Rechtsgebieten und wird im Zusammenhang der Typisierung gerade dafür benötigt, unbillige Härten aufzufangen, die sich dadurch ergeben, dass viele Fälle "über einen Kamm geschoren werden".
"Alter" und "Gesundheit" – beides muss berücksichtig werden
Vor allem aber steht nur eine Auslegung der CoronaImpfV, die auch in der Gruppe der Höchstpriorisierten atypische Härtefälle berücksichtigt, im Einklang mit den gesetzlichen Wertungen ihrer Ermächtigungsgrundlage. Mag § 20i Abs. 3 SGB V auch nicht den Vorgaben der bundesverfassungsgerichtlichen Wesentlichkeitsrechtsprechung entsprechen, so bringt die Vorschrift doch immerhin deutlich zum Ausdruck, dass ein Gleichlauf der Parameter "Alter“ und "Krankheit“ gewollt ist. Versicherten soll ein Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus insbesondere dann zustehen, "wenn sie aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben".
Alter und Gesundheitszustand werden als Indikatoren für ein erhöhtes Risiko abstufungsfrei genannt. Damit sollen beide Faktoren in der Impfpriorisierung auch gleichermaßen Berücksichtigung finden. Entscheidend ist nicht, ob eine Person ein bestimmtes Alter oder einen bestimmten Gesundheitszustand aufweist, sondern ob sie gerade deshalb ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf aufweist.
Nur dieses Verständnis entspricht den Maßgaben der Ständigen Impfkommission (STIKO), auf die § 20i Abs. 3 SGB V explizit verweist und nach derer Empfehlungen die Verordnung nach ihrem § 13 fortlaufend evaluiert werden soll. Auch in der aktuellen STIKO-Empfehlung wird gefordert, Härtefälle, deren Situation in der Verordnung nicht akzeptabel berücksichtigt ist, ebenfalls mit höchster Priorität impfen zu lassen. Menschen mit einer kurz bevorstehenden Chemotherapie werden dabei besonders hervorgehoben.
Es ist das Verdienst des VG Potsdam, dass es nicht am Buchstaben eines verfassungswidrigen Verordnungstextes kleben blieb, sondern einer Schwerstkranken in einem atypischen Härtefall eine lebensrettende Impfung ermöglichte. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Gerichte und Behörden diesem Beispiel folgen werden.
Prof. Dr. Anna Leisner-Egensperger ist Professorin für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie hat u.a. eine Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der CoronaImpfV für den Gesundheitsausschuss des Bundestags verfasst.
Rechtsanwalt Jascha Arif aus Hamburg hat einige der ersten eilgerichtlichen Verfahren zu vorgezogenen Schutzimpfungen geführt. Mittlerweile sind seine Mandate zu dieser Thematik jedoch allesamt abgeschlossen und er vertritt derartige Fälle nicht mehr selbst.
Anspruch für Schwerstkranke nach Beschluss des VG Potsdam: . In: Legal Tribune Online, 11.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44478 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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